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Über die Mauer ihrer Grundstücke hinweg begegnen sich die Zugezogene und der "Dorf-Nazi" in dem Stück "Über Menschen" von Juli Zeh, das jetzt am Theater Eisleben Premiere feierte. Bildrechte: Jens Schlüter

Rezension"Über Menschen" am Theater Eisleben: Wenn der Nachbar ein Nazi ist

31. August 2023, 15:23 Uhr

Juli Zehs Bestseller "Über Menschen" erzählt von einer Frau, die vor dem Corona-Lockdown aufs Land flieht und sich allmählich mit ihrem neuen Nachbarn, dem Dorf-Nazi, anfreundet. Das Theater Eisleben bringt diese Geschichte nun auf die Bühne – mit humorvollen Dialogen, nachdenklichem Ernst, (fast) ohne Belehrungen. Und genau am richtigen Ort, wie unser Kritiker findet.

von Matthias Schmidt, MDR KULTUR

Es ist dem Theater Eisleben zu wünschen, dass der Bestseller-Status hilft, die Inszenierung zu einem Renner zu machen, denn dieser Stoff gehört an Orte wie Eisleben. Es geht in "Über Menschen" um Dora, eine Werbetexterin, die während der Corona-Zeit aus Berlin aufs Land flieht, sich ein altes, leerstehendes Haus kauft. Als sich ihr neuer Nachbar vorstellt, wird ihr und uns klar, worum es geht. Gote stellt sich selbst so vor: "Ich bin hier der Dorfnazi".

Premiere in Eisleben: Unterhaltsam und relevant

Für Dora erfüllt sich damit ein Klischee – auf dem Lande (im Osten) leben die Nazis. Was dann in rund drei Stunden auf der Bühne verhandelt wird, ist einerseits sehr unterhaltsam, es ist aber vor allem auch relevant. Wie soll Dora mit Gote umgehen, wie sollen wir alle miteinander umgehen? Das ist gerade in der Kleinstadt eine wichtige Frage, auch in Eisleben, wo bei der letzten Bundestagswahl auch ein AfD-Kandidat den Wahlkreis Mansfeld gewonnen hat.

Theater Eisleben hinterfragt Feindbilder: Muss man mit Rechten reden?

Die Inszenierung von Michael Moritz findet wie der Roman ein überzeugendes Bild für die Lage: Die Grundstücke von Dora und Gote sind durch eine hohe Mauer getrennt – die Brandmauer nach rechts, könnte man sagen. Aber immer öfter steigen die beiden auf einen Stuhl und schauen darüber. Sie treffen sich, sie rauchen und reden miteinander, sie beginnen sogar, sich umeinander zu kümmern. Dora widerstrebt das, sie möchte keine roten Linien überschreiten, aber sie stellt eben auch fest, dass hinter der Fassade des Klischee-Nazis ein Mensch steckt. Der eine Tochter hat, Franzi, der eigentlich Tischler ist und ihr sogar ein Bett zimmert.

Philip Dobraß als "Dorf-Nazi" Gote und Ronja Jenko als Dora in der Inszenierung von "Über Menschen" am Theater Eisleben Bildrechte: Jens Schlüter

Dora lehnt seine Einstellungen ab, andererseits will sie ihre Angst überwinden, mit Gote eine normale Nachbarschaft zu leben. Damit, wie sie es sagt, die Demokratie nicht "am Kampf der Ängste zerbricht". Es sind ja offenbar lauter Ängste, die das Land spalten, die polarisieren. Stadt und Land, Jung und Alt, links und rechts, ach ja, Corona gab es ja auch noch. Und sie glaubt eben, dass man miteinander reden muss. So weit es eben möglich ist.

Lachen und Stoßseufzen im Publikum

Die "heißen" Themen sorgen für Aufmerksamkeit im Publikum. Es wird von verschiedenen Menschen an verschiedenen Stellen gelacht, ab und zu hört man jemanden demonstrativ ein- und wieder ausatmen. Stoßseufzen? Hier ist es erwünscht, denn hier ist das alles nicht weit so weg wie für ein Münchner Uraufführungspublikum. Die Gespräche auf der Bühne werden vielen bekannt vorkommen. "Über Menschen" ist hier genau richtig aufgehoben. Ganz ähnlich wie jüngst Lukas Rietzschels Stück "Widerstand" in Bautzen. Auch darin geht es letztlich um dieselbe Problemlage.

Das Stück in Eisleben blickt mit Seitenhieben auf die Pandemie-Zeit zurück. Bildrechte: Jens Schlüter

Inszenierung setzt voll auf den Text

Regisseur Michael Moritz setzt auf puren Realismus. Nichts soll vom Text ablenken, keine zusätzliche Ebene, weder textlich noch bildlich. Keine Toncollagen, keine Videos mit Corona-Protesten, AfD-Fahnen oder Archivschnipseln aus Rostock-Lichtenhagen. Keine Musik, abgesehen von Gotes Absingen des Horst-Wessel-Liedes. Kein Nebel, abgesehen vom Qualm der Zigaretten an der Mauer.

Eine inhaltlich gute Entscheidung – jeder kennt die Bilder, die gezeigt worden wären, und jeder hier im Publikum weiß um die Analogien des Stückes zum wirklichen Leben draußen vor dem Theater.

Reines Spiel ohne Video-Schnipsel, nichts soll vom Text ablenken, in Michael Moritz Inszenierung von "Über Menschen". Bildrechte: Jens Schlüter

Formal hat sie zur Folge, dass der Abend ziemlich eindimensional wirkt. Links das Haus von Dora, rechts das von Gote, und dazwischen die Mauer. Das wirkt geradezu kindertheatermäßig simpel. So simpel, dass man in Berlin, München oder Düsseldorf vielleicht die Nase darüber rümpfen würde. In Eisleben geht es auf.

Überzeugend: Ronja Jenko als Dora

Man lernt im Laufe des Abends sogar zu übersehen, dass Philip Dobraß den Gote sehr klischeehaft kraftmeiernd spielt, dass Esther Bechtold als Gotes Tochter Franzi etwas zu sehr eine Zehnjährige sein will und Almut Liedke als alleinerziehende Mutter Sadie kostümmäßig nur knapp am RTL2-Dokusoap-Personal vorbeischrammt. Das gelingt, weil keiner von ihnen als Karikatur gespielt wird. Man lernt die Charaktere hinter den Überzeichnungen kennen und nimmt sie ernst. Richtig gut und schlagfertig und präsent in ihrer Suche nach dem richtigen Umgang miteinander ist Ronja Jenko als Dora.

Die Inszenierung von Juli Zehs Bestseller setzt auf den Text, überzeichnet die Charaktere, aber nimmt sie trotzdem ernst. Bildrechte: Jens Schlüter

Konventionelles Theater: Humorvoll und nachdenklich

Sieht man mal von den zwei oder drei eigenwilligen Tanzeinlagen zu den Themen Corona und zu Doras "Gutmensch"-Werbekampagne ab, die man – salopp gesagt – vergessen kann, geht das Konzept auf. Die Inszenierung dosiert elegant zwischen humorvollen Dialogen und nachdenklichem Ernst, und sie kommt (fast) ohne Belehrungen aus. Sie führt (fast) niemanden vor. Sie erlaubt sich klamaukige Momente. Sie blickt mit Seitenhieben (in alle Richtungen!) auf die Pandemie-Zeit zurück. Drei Stunden konventionelles Theater, unterhaltsam und klug zugleich und schneller vorbei als manches Fußballspiel.

Angaben zum Stück

"Über Menschen"
von Juli Zeh in einer Bühnenfassung von Ann-Kathrin Hanss

Theater Eisleben
Landwehr 5
06295 Lutherstadt-Eisleben

Regie: Michael Moritz
Ausstattung: Jens Büttner
Dramaturgie: Ann-Kathrin Hanss

Mit Ronja Jenko, Philip Dobraß, Esther Bechtold, Tom Bayer, Christopher Wartig, Julius Christodulow, Almut Liedke und Oliver Beck.

Termine:
27. Oktober 2023, 19.30 Uhr
14. Dezember 2023, 19.30 Uhr
26. Januar 2024, 19.30 Uhr
21. Februar 2024, 09.30 Uhr

Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | 12. Juni 2023 | 08:40 Uhr