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Für Sandy Bieneck vom Frauenzentrum Bitterfeld-Wolfen war die ehemalige Disco "StaWo" in Wolfen-Nord ein zentraler Treffpunkt auch für junge Frauen, der heute fehlt. Bildrechte: MDR/Daniel Salpius

Gendergerechtes Wolfen-NordFeminismus und Stadtplanung: "Frauen werden zu wenig mitgedacht"Von Daniel Salpius, MDR SACHSEN-ANHALT

29. Juni 2023, 19:26 Uhr

Stadtplanung wurde und wird noch immer oft von Männern für Männer gemacht. Die Ansprüche von Frauen an den öffentlichen Raum sind daher zu wenig berücksichtigt. Mit einem Projekt im Rahmen des Festivals "Osten" in Bitterfeld-Wolfen soll der weibliche Blick auf die Stadt geschärft werden.

Das Gras wuchert rings um den eckigen DDR-Klotz in Wolfen-Nord. Die Fensterfront liegt hinter Wellblech. Wo mal eine Freitreppe direkt ins Nachtleben führte, klafft das Nichts. Die StaWo-Disco gelte vielen Wolfenern bis heute als Sehnsuchtsort, sagt Sandy Bieneck. Mitte der 1990er-Jahre seien die Leute aus der ganzen Region zum Feiern hierhergekommen, so die 43-Jährige, die damals Teenagerin war. Die randvoll zugeparkten Straßenränder hat sie noch immer lebhaft vor Augen. Sie selbst erreichte die Partys damals bequem zu Fuß. Doch die Beats sind verhallt.

Das StaWo ist einer der zentralen Orte auf Bienecks persönlicher Wolfen-Karte. Die Diplom-Soziologin kam nach ihrem Studium in Leipzig zurück nach Wolfen. Seit 2011 leitet sie hier das Frauenzentrum, das vom Verein "Frauen helfen Frauen" getragen wird, zu welchem auch das Frauenhaus Bitterfeld-Wolfen gehört.

Öffentlicher Raum nach Bedürfnissen von Männern gestaltet

Die Ziele des Vereins sind für die eher ländlich geprägte Region überraschend urban. Empowerment (dt. Ermächtigung) ist das Schlagwort dahinter. Die Einrichtung mit Sitz in Wolfen-Nord bietet also nicht nur Schutz und rechtliche Beratung für misshandelte Frauen, sondern setzt sich darüber hinaus noch aktiv für die Belange von Frauen und Mädchen ein, unabhängig von Alter, ethnischer Herkunft, Staatsangehörigkeit, sexueller Orientierung und Religion.

Stadtplanung ist ein Projekt von Männern für Männer.

Sandy Bieneck | Leiterin des Vereins "Frauen helfen Frauen"

"Wir wollen Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit der Frauen stärken", fasst Bieneck ihre Arbeit zusammen. Dazu könnte bei den unter 18-jährigen Mädchen auch ein naher Ort zum Feiern beitragen. Überhaupt sei der öffentliche Raum ein wichtiger Faktor für weibliche Selbstermächtigung. Ausgerechnet Wolfen-Nord, das durch die RTL-2-Sendung "Hartz und herzlich" höflich ausgedrückt vor allem den Stempel "sozialschwach" trägt, bietet hier trotz oder gerade wegen all der brachliegende Räume Chancen. Allerdings: "Stadtplanung war und ist noch immer oft ein Projekt von Männern für Männer", so Bieneck. Die Bedürfnisse von Frauen würden weiterhin zu wenig mitgedacht.

Künstlerin Lucila Guichon: "Geht darum, Stadt mit neuen Augen zu sehen"

Im Rahmen des Festivals "Osten" in Bitterfeld-Wolfen hat sich das Frauenzentrum die Berliner Künstlerin Lucila Guichon ins Haus geholt, um mit dem Projekt "Mapping Wolfen" sichtbar zu machen, ob und wie sich Frauen im öffentlichen Raum berücksichtigt fühlen. "Es geht darum, die Stadt mit neuen Augen zu sehen, die Perspektive der Frauen einzunehmen", so Guichon. "Mapping Wolfen" verknüpft die Biografien der Teilnehmerinnen mit Orten in der Stadt. Das können Orte der Angst sein, aber auch solche, mit denen die Frauen Chancen oder Wünsche verbinden. Am Ende entstehen individuelle Stadtkarten.

Christel Bär führt zu einem solchen Ort. Die 81-Jährige schiebt ihr Fahrrad über einen leeren Parkplatz. Aus den Ritzen zwischen den Pflastersteinen sprießt das Grün. Die Rentnerin lässt ein schäbiges Gebäude links liegen. "Das war mal der Konsum, der einzige in Wolfen-Nord", kommentiert sie lakonisch. Dann steuert sie auf eine dichte Wand aus Bäumen und Sträuchern zu, hinter der die Welt zu Ende zu sein scheint. Schließlich jedoch werden einige Stufen sichtbar. Ein überwucherter Weg führt durchs Dickicht, hinter dem ein Gebäude zum Vorschein kommt. Wellblech-verkleidete Fenster und verstreuter Unrat prägen das Bild.

Christel Bär zeigt den überwucherten Eingang zur ehemaligen Clubgaststätte in Wolfen-Nord. Bildrechte: MDR/Daniel Salpius

"Das war unsere Clubgaststätte", erzählt Bär. Hier war sie als junge Frau mit ihrem Mann tanzen und mit ihrem Sohn oft Mittag essen. "Die hatten hier eine gute Küche und abends gab es Veranstaltungen. Da gingen die Karten nur unter dem Ladentisch weg." Dass die Gaststätte heute eine Ruine ist, schmerzt die Rentnerin und bringt ihr zu Bewusstsein, dass es gerade an Kultur und ausreichend Gaststätten fehlt.

Wolfen-Nord: Blütezeit in der DDR

Die Rückkehr von Freizeitangeboten ist dabei sicherlich kein rein weibliches Bedürfnis und hängt nicht unbedingt nur mit Stadtplanung zusammen. Wolfen-Nord hatte seine Blütezeit zu DDR-Zeiten und beherbergte als eine der größten Plattenbausiedlungen des Landes die Beschäftigten der umliegenden Chemiefabriken. Auch Christel Bär gehörte als Forschungslaborantin in der Filmfabrik ORWO dazu. Sie lebt seit über 60 Jahren in Wolfen-Nord. Ende der 80er Jahre hatte der Stadtteil 35.000 Einwohner. Nach der Wende kam der Niedergang von Wirtschaft und Stadtteil. Heute leben weniger als 6.000 Menschen in Wolfen-Nord.

Gendergerechte Gestaltung? – Zwischen Rollen-Klischees und Empowerment

Die rein städtebaulichen Probleme speziell für Frauen sind laut Sandy Bieneck dagegen banaler und theoretisch leicht zu lösen. Sie spricht von "destruktiver Architektur". Gemeint sind etwa unbeleuchtete Bereiche, in denen sich Frauen und Mädchen unwohl fühlen und die sie daher meiden würden. Auch hohe, dichte Hecken sowie unübersichtliche Parks würden Ängste verursachen. Es gehe aber ebenfalls um zu enge Gehwege und fehlende abgesenkte Bordsteine, die Frauen mit Kinderwagen das Leben schwerer machen. Aber auch zu weite Wege zwischen Kita und nächster ÖPNV-Haltestelle gehörten dazu, genauso wie fehlende öffentliche Toiletten.

Positiv hebt Bieneck hervor, dass in Wolfen für den Alltag alles auf engstem Raum vorhanden sei. "Die Wege zwischen Einzelhandel, Kitas und sozialen Einrichtungen sind kurz."

Haushalt und Betreuung bleibt an Frauen hängen.

Sandy Bieneck

Wenn es um Erwartungen von Frauen an den öffentlichen Raum geht, liest man die genannten Punkte immer wieder. Zum Bild einer "feministischen Stadt" will das eigentlich nicht so recht passen, berücksichtigen die Forderungen doch Frauen vor allem in der traditionellen Rolle als Kinderbetreuerinnen und Haushälterinnen. Für Bieneck entspricht das jedoch schlicht der Realität: "Haushalt und Betreuung bleibt an Frauen hängen." Das belegen auch Zahlen der Bundesregierung. Laut Gleichstellungsbericht von 2019 verwenden Frauen täglich 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit als Männer.

Der Aspekt des Sicherheitsgefühls – mehr Beleuchtung, mehr Präsenz von Ordnungshütern an bestimmten Stellen – ist für Bieneck nicht weniger als eine Säule, um Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit von Frauen zu stärken. "Denn es kann nicht sein, dass Frauen und Mädchen bestimmte Orte vermeiden."

Wolfen-Nord im Wandel: Rückbau bringt neuen Schwung

Der Workshop "Mapping Wolfen" hat nach Aussage der Organisatoren aber noch etwas Anderes gezeigt. So gebe es unter den Frauen vor allem ein Bedürfnis nach Kunst und anspruchsvoller Kultur. Auch der Wunsch, dass auf den in den vergangenen Jahren entstandenen Freiflächen in Wolfen-Nord etwas in dieser Richtung oder überhaupt etwas Neues entsteht, sei zentral.

Sandy Bieneck ist da sehr optimistisch. "Viele Jahre waren leerstehende und teils entkernte Blöcke dominant im Stadtbild. Das macht etwas mit den Leuten, es deprimiert sie." Diese Zeiten seien nun endlich vorbei. Inzwischen sind viele Blöcke abgerissen, andere wurden geteilt, verkleinert und modern saniert. Wo Gebäude zurückgebaut wurden, erstrecken sich nun grüne Freiflächen. "Durch den Rückbau und die räumliche Neugestaltung dreht sich spürbar etwas ins Positive", so Bieneck. "Es ziehen wieder Leute her und es entsteht Neues."

Ob sich die entstandenen Freiräume auch im Sinne weiblicher Bedürfnisse gestalten lassen, bleibt abzuwarten. Das sei oft eine Frage der Finanzierung, erklärt Sandy Bieneck. "Aber wenn man mit guten Ideen kommt, ist die Stadt sehr offen dafür."

Die Ergebnisse des Workshops "Mapping Wolfen" werden vom 30. Juni bis 2. Juli im ehemaligen Filmtheater in der Freiherr-vom-Stein-Straße in Bitterfeld-Wolfen ausgestellt. Unter dem Titel "Wiedersehen in Wolfen" ist dort am Wochende ein breites Kultur-Programm geplant, das neue Perspektiven auf die Stadt eröffnen soll. Die Veranstaltung dient als Auftakt für das nächste Osten-Festival im Jahr 2024.

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MDR (Daniel Salpius)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 28. Juni 2023 | 08:10 Uhr

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