Onlinezugangsgesetz"Der Tod der digitalen Verwaltung": Sachsen-Anhalt kommt bei Digitalisierung kaum voranvon Lucas Riemer, MDR SACHSEN-ANHALT
Elterngeld, Führerschein oder Gewerbesteuer: Seit Ende 2022 müssten in Sachsen-Anhalt knapp 600 Verwaltungsdienstleistungen digital beantragbar sein. So ist es gesetzlich vorgeschrieben. Tatsächlich sind es aber nur 153, so wenige wie nirgendwo sonst in Deutschland. Dabei zeigt die Stadt Tangerhütte, wie es gehen könnte.
- In Sachsen-Anhalt müssten laut Gesetz 575 Verwaltungsservices online verfügbar sein. In der Realität sind nur rund ein Viertel davon bereits digitalisiert.
- Das Beispiel Tangerhütte zeigt, wie die Digitalisierung von Verwaltung funktionieren könnte.
- Ein Hindernis bei der Digitalisierung von Behördendienstleistungen ist die kommunale Selbstverwaltung.
Johann Schmidt und seine Lebensgefährtin waren sehr glücklich, als sie im April zum ersten Mal Eltern wurden. "Man freut sich darauf, so viel Zeit wie möglich mit dem Baby zu verbringen" sagt der 28-Jährige. Womit der junge Vater nicht gerechnet hatte: Statt jede freie Minute mit der Familie genießen zu können, musste er plötzlich Anträge über Anträge ausfüllen.
"Mit der Geburt kommt eine Welle an Papierkram auf einen zu, Eltern werden regelrecht überfordert", erinnert sich Schmidt, der in Wörlitz lebt und als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Otto-von-Guericke Universität in Magdeburg arbeitet. Am schlimmsten sei der daumendicke Elterngeldantrag gewesen. "Es war so viel und so kompliziert, dass wir uns beim Ausfüllen Hilfe von einer Beratungsstelle holen mussten." Was Schmidt besonders ärgert: Vieles in den Anträgen sei redundant. "Man gibt zum Beispiel wieder und wieder seinen Namen und seine Adresse ein", sagt er.
Ein Gesetz, das offenbar niemanden interessiert
Eigentlich sollte es längst ganz anders laufen. Schon 2017 beschloss der Bundestag das Onlinezugangsgesetz (OZG), das Bund, Länder und Gemeinden verpflichtet, ihre Verwaltungsdienstleistungen online anzubieten und diese miteinander zu verknüpfen. Bis Ende 2022 sollten die Vorgaben des Gesetzes umgesetzt sein.
Doch passiert ist seitdem bundesweit wenig – und in Sachsen-Anhalt offenbar noch etwas weniger. Eine Übersicht des Bundesinnenministeriums zeigt, dass von den insgesamt 575 OZG-Leistungen in Sachsen-Anhalt derzeit nur 153 flächendeckend online verfügbar sind. Im deutschlandweiten Vergleich der Bundesländer liegt Sachsen-Anhalt damit auf dem letzten Platz. Spitzenreiter ist Bayern mit derzeit 245 überall verfügbaren OZG-Leistungen.
Beispiel Elterngeld: Während es in immerhin zwölf Bundesländern schon flächendeckend möglich ist, Elterngeld digital zu beantragen, funktioniert das in Sachsen-Anhalt noch nirgendwo. Eltern können den entsprechenden Antrag zwar online ausfüllen, müssen ihn dann allerdings ausdrucken, unterschreiben und per Post an die zuständige Elterngeldstelle schicken. Dass die Übersicht des Bundesinnenministeriums angibt, in einem Landkreis in Sachsen-Anhalt sei eine digitaler Elterngeldantrag bereits verfügbar, ist nach Angaben des Magdeburger Digitalministeriums ein Fehler.
Mehr über digitale Verwaltungen in Sachsen-Anhalt hören Sie im MDR-Podcast "Digital leben".
Weiter teilt das Digitalministerium auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT mit, dass eine "derzeit noch fehlende gemeinsame Struktur zwischen Land und Kommunen" die Umsetzung von Online-Diensten in den Kommunen verzögert habe. Zudem mangele es den Kommunen häufig an Personal, um mehrere Online-Dienste parallel anzubinden, weswegen die Anbindung oft zeitversetzt erfolgen müsse.
Vorbild Tangerhütte?
Dabei zeigt ein Blick in den Norden Sachsen-Anhalts, wie es klappen könnte mit der Digitalisierung der Verwaltung. Tangerhütte im Landkreis Stendal hat rund 10.000 Einwohner und schon seit 2020 ein "digitales Rathaus". Einst während der Corona-Pandemie mit einem digitalen Antrag auf Erstattung von Kita-Beiträgen gestartet, können Bürgerinnen und Bürger der Kleinstadt inzwischen 116 Dienste und Leistungen komplett online abwickeln, von der Hundesteuer bis zur Anmeldung des Osterfeuers.
Die Nachfrage nach den digitalen Dienstleistungen sei da, sagt Tangerhüttes parteiloser Bürgermeister Andreas Brohm. Mehr als 2.000 Menschen hätten sich bereits im digitalen Rathaus angemeldet, das die Stadt in Zusammenarbeit mit einem IT-Unternehmen entwickelt hat.
Brohm wollte das digitale Rathaus nicht nur, um den Bürgerinnen und Bürgern einfacheren und unkomplizierteren Zugang zu Behördendienstleistungen zu ermöglichen. Ihm ging es auch darum, seine Verwaltung zukunftsfähig aufzustellen. "Wir haben das aus Notwehr gemacht, weil wir Lösungen finden müssen, um mit immer weniger Ressourcen einem immer größer werdenden Arbeitsanfall Herr zu werden", sagt der Bürgermeister.
Auch die Verwaltung profitiert von Digitalisierung
Dem OZG gehe es nur darum, dass die Bürger auf Verwaltungsdienstleistungen digital zugreifen könnten. Ob der Antrag in der Behörde dann hinterher ausgedruckt und analog weiterbearbeitet werde, sei dem Gesetz egal. In Tangerhütte wollten sie die Prozesse allerdings von Anfang an so aufstellen, dass die Verwaltung sie digital und schneller als bisher bearbeiten kann.
"Technik und Software machen nur 30 Prozent der digitalen Verwaltung aus, 70 Prozent sind die Strukturen dahinter", sagt Brohm. Diese zu ändern, sei ein mühsamer Prozess: "Bevor Sie an den Kunden denken, müssen Sie zuerst an die Mitarbeiter denken. Das ist keine Party, das kann sich jeder vorstellen", so der Bürgermeister. Er hat extra einen Projektkoordinator für das Digitale Rathaus angestellt – und dafür eine Stelle in der Wirtschaftsförderung gestrichen.
Das ist keine Party, das kann sich jeder vorstellen.
Bürgermeister Andreas Brohm | über die Digitalisierung einer Verwaltung
Inzwischen hätten aber auch zunächst skeptische Mitarbeitende in der Verwaltung die Vorteile erkannt, wenn sie einen Antrag mit wenigen Klicks am Computer bearbeiten können und diesen nicht mehr ausdrucken, unterschreiben, per Post verschicken und zusätzlich abheften müssten.
Hemmnis Selbstverwaltung
Fragt man Brohm, warum nicht alle Kommunen im Land die Digitalisierung so ernst nehmen wie Tangerhütte, kommt der Bürgermeister auf die kommunale Selbstverwaltung zu sprechen: "Jeder macht seins. Das ist organisatorisch und mit Blick aufs Geld völlig weltfremd." Hinzu komme der Föderalismus mit seinen wechselnden Zuständigkeiten, der "der Tod der digitalen Verwaltung" sei.
Auch das Land habe Fehler gemacht, so Brohm: "Man hat die Botschaft an die Kommunen gesendet 'Macht euch keinen Stress, wir machen da was für euch.'" Viele Städte und Gemeinden hätten sich darauf verlassen.
Tatsächlich verweist etwa die Stadt Halle, die im Smart-City-Index des Branchenverbandes Bitkom kürzlich in der Kategorie Verwaltung Platz 76 unter 81 deutschen Großstädten belegte, auf die Verantwortung von Bund und Land. Auf Anfrage von MDR SACHSEN-ANHALT schreibt ein Sprecher der Stadt, man mache "aus wirtschaftlichen, organisatorischen und fachlichen Aspekten von der Nachnutzung fertiger Onlinedienste Gebrauch".
Der Bund habe eingeräumt, dass es 2022 und 2023 zur Verzögerung bei vielen Projekte zur Digitalisierung von Dienstleistungen gekommen sei. Somit könnten die Kommunen keine Dienste vollumfänglich nachnutzen. Auch fehle es in Sachsen-Anhalt an der rechtlichen Grundlage, um bereits bestehende und vom Bund bereitgestellte Online-Dienste nachzunutzen.
Wer bezahlt die Rechnung?
Außerdem bemängelt die Stadt Halle die unklare Perspektive, wie die digitalen Verwaltungsdienstleistungen langfristig finanziert werden sollen. Bislang sagt das Land zu, bis einschließlich 2026 insgesamt 16 sogenannter "Fokusleistungen" entgeltfrei für die Kommunen zur Verfügung zu stellen.
Fragt man das Digitalministerium, wie es die Städte und Kommunen im Land bei der Digitalisierung von Verwaltungsdienstleistungen unterstützt, bleiben die Antworten kryptisch. Neben der Finanzierung der 16 Fokusleistungen bis 2026 gebe es Unterstützung des Landes beim "Anbindungsprozess der Onlinedienste an vorhandene kommunale Fachverfahren" sowie "umfangreiche Aktivitäten (…) zum Aufbau einer Zusammenarbeitsstruktur mit den Kommunen des Landes."
Tangerhüttes Bürgermeister Andreas Brohm fordert eine Vereinheitlichung von Strukturen, damit es mit der Digitalisierung schneller vorangeht. Es müsse Schluss damit sein, dass jede Verwaltung nach eigenen Prozessen arbeitet. "Wir brauchen einen Plan, ein 'Big Picture', und das ist schon eine Landesaufgabe, zu überlegen, ob es die Möglichkeit gibt, Dinge zu standardisieren", sagt Brohm.
Wunsch nach einheitlicher Plattform
Und der junge Vater Johann Schmidt aus Wörlitz? Er und seine Lebensgefährtin mussten, nachdem sie ihren Elterngeldantrag auf Papier eingereicht hatten, noch vier Monate warten, bis sie zum ersten Mal Elterngeld ausgezahlt bekamen. "Für uns war das zu verschmerzen, aber für Menschen mit wenig Geld kann so eine lange Bearbeitungszeit zum Problem werden", sagt Schmidt.
Für die Zukunft der digitalen Verwaltung hat er einen Wunsch: "Am besten wäre eine bundes- oder zumindest landesweite Plattform, bei der man sich einmal anmeldet und alles erledigen kann. Sobald dann zum Beispiel das Krankenhaus eine Geburt bestätigt hat, bräuchten Eltern nur noch einen Klick, um Elterngeld zu beantragen." Doch ob Schmidts Wunsch jemals in Erfüllung geht, ist fraglich.
Bislang weiß Sachsen-Anhalts Landesregierung noch nicht einmal, bis wann all die OZG-Leistungen, die eigentlich schon längst digitalisiert hätten sein sollen, tatsächlich online funktionieren werden. "Eine genaue Prognose der Verfügbarkeit des Leistungsportfolios lässt sich nicht abgeben", heißt es dazu aus dem Digitalministerium.
Immerhin der digitale Elterngeldantrag solle aber noch in diesem Jahr landesweit verfügbar sein. Offenbar glaubt man allerdings nicht einmal im Digitalministerium wirklich daran. Eine Einschränkung wird jedenfalls gleich hinterhergeschickt: "Vorausgesetzt der Termin kann gehalten werden".
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MDR (Lucas Riemer)
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 06. Dezember 2023 | 12:00 Uhr
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