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Bildrechte: Collage: Uli Wittstock/Matthias Piekacz / dpa

KommentarDeutschland ist Weltmeister – im Nörgeln

04. September 2023, 15:53 Uhr

Deutschland stürzt ab – wer derzeit in einschlägigen Foren im Netz unterwegs ist, oder die Kommentare in den sozialen Medien verfolgt, der wird kaum die Masse solcher Einträge übersehen können. Auch nach der Leichtathletik-WM häuften sich negative Kommentare zum Abschneiden der Deutschen. MDR-SACHSEN-ANHALT-Reporter Uli Wittstock fragt sich jedoch: Warum wird die Verantwortung für Dinge eigentlich immer anderen in die Schuhe geschoben? Ein Kommentar.

Mein Arbeitsweg ins MDR-Landesfunkhaus Magdeburg führt täglich über die stillgelegte Hubbrücke auf die östliche Elbseite. Gelegentlich sieht man dort die Kanuten vom Sportclub Magdeburg, wenn sie sich flussaufwärts quälen. Dann frage ich mich schon, warum sich Menschen so etwas antun, ganzjährig, auch bei schlechtestem Wetter.

Als Mitbesitzer eines Poucher Faltbootes kann ich nachempfinden, was es heißt, auf der Elbe gegen den Strom zu paddeln. Ich habe also durchaus Hochachtung für diese Leistung, aber zugleich auch jegliches Verständnis dafür, wenn man irgendwann die Lust verliert, sich derart mühselig in die Weltspitze vorzukämpfen.

Häme nach Leichtathletik-WM

Als nun der deutsche Leichtathletikverband ohne eine einzige Medaille von den Weltmeisterschaften aus Budapest zurückkehrte, mangelte es nicht an hämischen Kommentaren, welche im sportlichen Misserfolg einen weiteren Beleg zu sehen glaubten für den Untergang des Abendlandes, zumindest für den deutschen Teil des Abendlandes. Als hätten die Politiker der Berliner Ampelkoalition höchstselbst den Staffelstab auf der Budapester Kampfbahn verloren.

Es fehlt an Wertschätzung

Es scheint von so manchem als Art nationale Kränkung wahrgenommen zu werden, wenn nach einem sportlichen Wettkampf die eigene Nationalhymne nicht mehr ertönt. Allerdings sollte man schon fragen, warum die einen sich täglich abschindern sollen, damit die anderen vom heimischen Sessel aus die Siege feiern können.

Die eigentliche Frage lautet aber: Lohnt es sich überhaupt, aller zwei oder vier Jahre für ein paar Minuten auf dem Treppchen zu stehen, um ansonsten in der Öffentlichkeit kaum beachtet zu werden, zumal Leistungssport für die meisten sowohl finanziell wie auch beruflich mit einigen Risiken verbunden ist. Mangelnde Wertschätzung ist nicht gerade leistungsfördernd. Da ich aber kein Sportreporter bin, überlasse ich die sportpolitische Debatte anderen.

Die Suche nach den Schuldigen

Doch eignet sich der Sport als sehr schönes Beispiel für eine merkwürdige Grundhaltung im Land: Nämlich immer irgendjemand anderen für Probleme verantwortlich zu machen. Wenn also in Sachsen-Anhalt nach einer aktuellen Studie der Barmer Krankenkasse immerhin rund 5.000 Kinder im schulfähigen Alter Probleme mit der Bewegung haben, dann ist das nicht die Schuld des Sozialministeriums oder der Kindergärten, denn Purzelbäume kann man auch zu Hause üben.

Noch dramatischer ist jedoch, dass mehr als 16.000 Kinder in Sachsen-Anhalt Schwierigkeiten haben, sich sprachlich auszudrücken. Mit der Zuwanderung, wie so mancher vermuten möchte, hat das aber eher weniger zu tun, sondern vielmehr mit den Eltern. Solange die nämlich lieber auf ihr Handy schauen, statt mit ihren Kindern zu reden, werde sich daran auch nichts ändern, erklärt der Landesgeschäftsführer der Barmer, Axel Wiedemann. Die Bildungskrise des Landes beginnt also in den Familien, was bei der Debatte um Schulpolitik und fehlende Lehrer gerne ausgeblendet wird. 

Demografischer Wandel ist größtes Risiko für die Wirtschaft

Weder die Inflation, noch die CO2-Steuer oder die Wirtschaftssanktionen sind das größte Risiko für Sachsen-Anhalts Wirtschaft, sondern es ist der demografische Wandel. Es fehlt nämlich nicht nur an Fachkräften, sondern auch an Konsumenten. Wer in den ländlichen Regionen zwischen Arendsee und Zeitz unterwegs ist, wird kaum das Internet allein für das Ladensterben verantwortlich machen können. Nicht nur Dorfkneipen schließen, wenn die Kundschaft ausstirbt.

Vor diesen Umständen werden hierzulande aber gerne und fest die Augen verschlossen, obwohl bei jeder Familienfeier die Situation jedem klar ersichtlich sein müsste. Im Zweifelsfall ist dann doch die Berliner Ampel schuld, oder ein irgendwie beschworener Klimafanatismus, wenn ein Geschäft schließt. Solange aber die Verantwortung woanders gesucht wird, erspare ich mir die Mühe, selber nachzudenken.

Dazu passt dann auch der Umstand, dass in Sachsen-Anhalt die Parteien arg unterbesetzt sind und ebenfalls unter einem Fachkräftemangel leiden, denn es fehlt an Mitgliedern. Für gewöhnlich wird das mit den schlechten Politikerfahrungen aus DDR-Zeiten begründet, die nunmehr jedoch mindestens 30 Jahre zurückliegen.

Auf die Politik schimpft es sich leicht

Im nächsten Jahr werden in Sachsen-Anhalt neue Kommunalparlamente gewählt. Nach allem was man hört, haben es die Parteien schwer, genügend Kandidaten zu finden. Man könne ja ohnehin nichts bewirken, heißt es dann oft. Solange es aber nicht versucht wurde, kann das als Schutzbehauptung gelten. Auch die Lohnlücke zwischen Ost und West, oft und zurecht beklagt, wird sich nicht schließen, wenn sich die Betroffenen nicht gewerkschaftlich engagieren. Bequemer ist es natürlich, auf die Politik zu schimpfen, die allerdings nicht für die Tarife in der Privatwirtschaft zuständig ist.     

Dass alles darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Bundesrepublik einen erheblichen Modernisierungsstau vor sich herschiebt. Dieser Umstand ist aber eben leider auch dem Beharrungsvermögen eines gewissen Teils des Wahlvolkes geschuldet, welches die Republik wohl für eine Art Kreuzfahrtschiff hält, mit einem lebenslangen All-inclusive-Ticket. Das ist übrigens keine besonders neue Kritik. Schon im Jahr 1997, also vor nunmehr 26 Jahren, hielt der damalige Bundespräsident Roman Herzog seine berühmte Ruckrede: "Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen."

Sport-Gutscheine sollen Bewegung fördern

In Bezug auf den Bewegungsmangel bei Kindern hat Sachsen-Anhalts Landesregierung übrigens einen gewissen Ruck gemacht. Zur Einschulung erhielt jeder Erstklässler einen Gutschein im Wert von 50 Euro zur Anmeldung in einem Sportverein. Insgesamt zahlt der Steuerzahler dafür eine Million Euro, vorausgesetzt alle Gutscheine werden eingelöst. Bis zum 31. Oktober ist dafür Zeit. Mal sehen, wie viele Familien sich von diesem Ruck bewegen lassen. Vielleicht klappt‘s ja dann irgendwann auch wieder mit einer Medaille für Sachsen-Anhalts Leichtathletik.

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MDR (Cornelia Winkler)

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