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Melanie Schulzke (links) besucht die 95-jährige Johanna Ritter seit zwei Jahren regelmäßig. Bildrechte: MDR/Lucas Riemer

Ehrenamtliche besuchen SeniorenBesuch gegen die Einsamkeit: "Das ist für mich Wohlfühlzeit"

22. Juli 2023, 17:16 Uhr

Immer mehr vor allem ältere Menschen in Sachsen-Anhalt leiden unter Einsamkeit. Ein Hilfsprojekt in Magdeburg will Betroffenen helfen und schenkt ihnen Zeit zum Zuhören und Reden.

Wenn die blecherne Stimme ihrer sprechenden Armbanduhr am Montagnachmittag um 16:30 Uhr die Zeit vorliest, beginnt für Johanna Ritter ein Höhepunkt der Woche. Jeden Montag um halb fünf bekommt die 95-Jährige Besuch von Melanie Schulzke. Gestützt auf ihren Rollator, läuft die ältere Dame über den Gang des Seniorenheimes in Magdeburg-Sudenburg, in dem sie seit einem Jahr lebt, um ihre Besucherin zu empfangen.

Weil sie nur noch schlecht sieht, erkennt sie Melanie Schulzke vor allem an der Stimme. "Hallo, Frau Ritter!", sagt Schulzke, und über Johanna Ritters Gesicht huscht ein Lächeln. "Ich habe ein neues Zimmer bekommen", antwortet sie und dreht sich mit ihrem Rollator um, "kommen Sie mit."

Oft nur ein Besuch pro Woche

In Johanna Ritters neuem Zimmer stehen ein Bett, ein Tisch und zwei Stühle, an den Wänden hängen ein kleiner Fernseher und ein Bild. Die beiden Frauen nehmen am Tisch Platz, Melanie Schulzke setzt sich auf einen Stuhl, Johanna Ritter auf ihren Rollator. Melanie Schulzke erzählt von einem Ausflug an die Mecklenburger Seenplatte am vergangenen Wochenende und Johanna Ritter erinnert sich, dass sie dort früher oft mit ihrem Mann und der gemeinsamen Tochter zelten war.

Ihr Mann sei vor vielen Jahren gestorben, auch viele ihrer Freunde lebten nicht mehr, erzählt Johanna Ritter. Ihre Tochter lebt längst im Ausland. Jeden Tag telefoniere sie mit ihr, und mehrmals im Jahr komme ihre Tochter nach Magdeburg, um sie zu besuchen. Aber zu ihr zu ziehen, das sei für sie nie infrage gekommen. Oft sei Frau Schulzke der einzige Besuch, den sie in der Woche empfange, sagt sie noch.

Mehr als jeder fünfte Ältere ist einsam

Eine Forsa-Umfrage zeigte im Jahr 2021, dass sich 22 Prozent der Menschen ab 75 Jahre in Deutschland häufig oder hin und wieder einsam fühlen. Bei den Über-84-Jährigen waren es sogar 31 Prozent. "Insbesondere Menschen über 75 Jahre, Frauen, Personen mit niedrigem Einkommen und Menschen mit Migrationshintergrund sind von Einsamkeit betroffen", sagt der Soziologe Daniel Ewert von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.

Vor allem Menschen ab 75 leiden unter Einsamkeit. (Symbolbild) Bildrechte: picture alliance/dpa | Karl-Josef Hildenbrand

Allerdings: "Seit der Pandemie sind auch jüngere Menschen zwischen 17 und 29 in den Fokus gerückt und leiden verstärkt unter Einsamkeit", sagt Ewert. Hinzu komme, dass Menschen in Ostdeutschland tendenziell noch stärker unter Einsamkeit leiden. Über die Gründe dafür kann der Soziologe nur spekulieren. So seien Siedlungen in Ostdeutschland häufig besonders altershomogen, das heißt, vor allem von Menschen ähnlichen Alters bewohnt. Ältere Menschen würden dadurch oft den Kontakt zu jüngeren vermissen, so Ewert.

Mehr Nachfrage nach Hilfsangeboten

Dass Einsamkeit in Sachsen-Anhalt und speziell in Magdeburg zunehmend um sich greift, bemerkt auch Katrin Leuschner. Sie arbeitet als Referentin für Soziales Ehrenamt bei den Maltesern in Magdeburg und hat einst Johanna Ritter und Melanie Schulzke zusammengebracht.

Denn Katrin Leuschner betreut bei den Maltesern den sogenannten Besuchs- und Begleitungsdienst, bei dem Ehrenamtliche Zeit mit älteren Menschen verbringen, die nicht mehr viele soziale Kontakte haben. Seit rund zehn Jahren ist die Nachfrage deutlich größer geworden, berichtet sie. Aktuell gibt es in der Landeshauptstadt 51 Tandems wie das aus Johanna Ritter und Melanie Schulzke.

Hinter denen, die sich Hilfe suchen, liegt oft ein langer Weg. "Viele Menschen sagen, sie sind oft alleine, es geht ihnen nicht gut, sie sind oft traurig. Aber kaum einer würde sagen, ich bin einsam und wünsche mir Besuch", sagt Katrin Leuschner. "Einsamkeit ist das absoluteste, was einem Menschen im Alter passieren kann. Und sich das einzugestehen und Hilfe anzunehmen ist für viele eine Hürde."

Stigmatisiertes und schambehaftetes Thema

Für eine Enttabuisierung der Einsamkeit plädiert Soziologe Daniel Ewert von der Uni Magdeburg. "Wir brauchen Sensibilisierung und Aufklärungsarbeit. Einsamkeit ist spätestens seit der Pandemie im gesellschaftlichen Diskurs angekommen, aber es ist immer noch ein stigmatisiertes und schambehaftetes Thema. Wir müssen Wege finden, um darüber zu sprechen", sagt Ewert. Nur so könne klar werden, dass Einsamkeit keine individuelle Schuld ist, sondern ein gesellschaftliches Phänomen.

Seit einem Jahr lebt Johanna Ritter in einem Magdeburger Seniorenheim. Bildrechte: MDR/Lucas Riemer

Im Fall von Johanna Ritter war es deren Tochter, die sich an die Malteser wandte und nach dem Besuchsdienst für ihre Mutter fragte. Ein paar Wochen später kam es zum ersten Treffen zwischen Johanna Ritter, ihrer Tochter, Melanie Schulzke und Katrin Leuschner von den Maltesern, die beim Kennenlernen immer dabei ist. "Ich achte natürlich im Vorfeld darauf, dass die Menschen zusammenpassen, etwa vom Bildungsgrad oder den Interessen", sagt Katrin Leuschner.

Wir unterhalten uns über Zeitgeschehen, über unsere persönlichen Belange, über alles eigentlich. Das ist eine schöne Abwechslung für mich im Alltag.

Johanna Ritter (95)

Im Fall von Johanna Ritter und Melanie Schulzke lag sie richtig – die beiden treffen sich nun schon seit mehr als zwei Jahren einmal in der Woche, zum Zeitung vorlesen, spazieren oder einfach nur reden. "Wir unterhalten uns über Zeitgeschehen, über unsere persönlichen Belange, über alles eigentlich", sagt Johanna Ritter. "Das ist eine schöne Abwechslung für mich im Alltag."

An ein gemeinsames Erlebnis erinnert sich die 95-Jährige, die früher als Grundschullehrerin arbeitete, besonders gern: Einmal setzte Melanie Schulzke sie in der Vorweihnachtszeit ins Auto und fuhr mit ihr zu den Lichterwelten beim Magdeburger Dom. "Das war sehr schön und beeindruckend", sagt sie.

Ehrenamtliche gesucht

Doch für Katrin Leuschner von den Maltesern wird es immer schwieriger, genügend Ehrenamtliche zu finden. "Die Form des Engagements hat sich geändert", sagt sie. "Menschen wollen sich heutzutage eher spontan und kurzfristig engagieren, statt sich auf langfristige Verpflichtungen einzulassen."

Melanie Schulzke bereut es jedenfalls nicht, sich für den Besuchsdienst freiwillig gemeldet zu haben. "Ich habe das Glück, meine Zeit sinnstiftend verbringen zu können. Johanna Ritter ist warmherzig, wir können uns unwahrscheinlich gut unterhalten. Sie ist eine intelligente Frau und versprüht mit ihren 95 Jahren Lebensfreude", sagt die 43-Jährige aus Wolmirstedt, die hauptberuflich als Buchhalterin arbeitet.

Dass viele jüngere Menschen Berührungsängste mit Themen wie Einsamkeit und Alter haben, ist für sie unverständlich. Sie freue sich jede Woche auf die Treffen mit Johanna Ritter. "Auch für mich ist das eine Wohlfühlzeit."

Kontakt zum Besuchsdienst der Malteser

Den Besuchsdienst der Malteser gibt es in Sachsen-Anhalt derzeit nur in Magdeburg. Wer den Dienst für sich oder Angehörige in Anspruch nehmen oder sich ehrenamtlich als Besucher oder Besucherin engagieren möchte, findet Informationen und Kontaktmöglichkeiten auf der Website der Malteser. Interessierte, die nicht in Magdeburg leben, können zum Beispiel einen telefonischen Besuchsdienst in Anspruch nehmen.

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MDR (Lucas Riemer)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 22. Juli 2023 | 12:00 Uhr

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