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ÜberbelegtWie der Maßregelvollzug Bernburg mit zu vielen Patienten umgeht

15. Oktober 2022, 17:50 Uhr

Wer eine Straftat unter Alkohol- oder Drogeneinfluss begangen hat, landet mit hoher Wahrscheinlichkeit im Maßregelvollzug Bernburg. Doch der platzt aus allen Nähten. Woran das liegt – und welche Lösungen es gibt.

Über Kopfsteinpflaster geht es auf das Gelände des Fachklinikums in Bernburg im Salzlandkreis. Soweit sieht alles aus, wie man sich ein solches Gelände vorstellt: ein Wald aus Schildern und allerhand kastige Gebäude, die einem in weißen Farben "Gesundheit" entgegenstrahlen sollen.

Doch am Ende der Straße türmt sich plötzlich ein fast sechs Meter hoher Zaun aus Plexiglas, Stahl und Maschendraht auf. Wer dahinter landet, hat eine Straftat unter Alkohol- oder Drogeneinfluss begangen und soll therapiert werden.

An einem Schild neben der mit Kameras überwachten Pforte stehen groß die Worte "Maßregelvollzug Bernburg". Normalerweise möchte man hier möglichst schnell heraus – MDR SACHSEN-ANHALT will stattdessen aber hinein.

Maßregelvollzug Bernburg erklärt

Der Maßregelvollzug Bernburg ist eine Einrichtung des Landes Sachsen-Anhalt zur Besserung und Sicherung von suchtkranken Straftätern nach § 64 StGB. Hier werden Menschen untergebracht und therapiert, die von Alkohol oder anderen berauschenden Mitteln abhängig sind und deshalb straffällig wurden. Zwischen Sucht und Tat muss ein ursächlicher Zusammenhang festgestellt worden sein. Eine gerichtliche Einweisung in den Maßregelvollzug ergeht aber nur, wenn auch eine hinreichend konkrete Aussicht auf Therapieerfolg besteht und davon auszugehen ist, dass die Behandlung zur Vermeidung erneuter Straftaten beiträgt. (Quelle: Salus gGmbH)

Maßregelvollzug Sachsen-Anhalt überbelegt

Der Maßregelvollzug in Sachsen-Anhalt ist überbelegt. So hatte es das Sozialministerium Ende des Jahres 2021 mitgeteilt. Damals waren 494 Patienten in Maßregelvollzugseinrichtungen Sachsen-Anhalts untergebracht, heißt es. Allerdings sind diese nur für 443 Patienten ausgelegt. Sachsen-Anhalts Sozialministerin Petra Grimm-Benne (SPD) hatte deshalb bereits vergangenes Jahr von einer "erheblichen Gefahr für die allgemeine Sicherheit" in Sachsen-Anhalt gesprochen.

Dieses Bild hat sich gut ein Jahr später nicht geändert. Laut Sozialministerium waren in den Standorten Bernburg und Uchtspringe im Landkreis Stendal – dort ist Sachsen-Anhalts zweiter Maßregelvollzug untergebracht – Ende August sogar 518 Patienten untergebracht. Das sind 24 Patienten mehr als im Vorjahr. Wie also gehen die Standorte mit dem Trend steigender Zahlen um?

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Personal ist aus- und übergelastet

Durch eine Schleuse geht es ins Innere des Maßregelvollzugs. Erst wenn die Tür zur Freiheit geschlossen ist, öffnet sich eine Stahltür und zeigt, was hinter dem Zaun ist. Das Geschehen wird vom Personal über mehrere Kameras aufmerksam beobachtet.

In einem Besucherraum, in dem sich das Fenster nicht öffnen lässt, wartet Björn Bühler. Er ist der stellvertretende ärztliche Direktor im Maßregelvollzug und arbeitet dort seit 2015. Er erklärt MDR SACHSEN-ANHALT, dass die Aufnahmekapazität in Bernburg längst an ihren Grenzen sei. "Es gibt 179 Behandlungsplätze. Aktuell werden bei uns aber 195 untergebrachte Personen behandelt. Mit 17 weiteren, die sich nicht am Standort, sondern im Probewohnen befinden, aber betreut werden, sind es 212 Patienten", so Bühler.

Es gibt in Bernburg zwar keinen Personalmangel, dennoch sind die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit ihrer Arbeit ausgelastet, so der ärztliche Direktor: "Es kommt dadurch auch zu Kündigungen und zu Überlastungsanträgen, weil von uns wirklich versucht wird, dem irgendwie gerecht zu werden."

Mehr Platz durch Doppelbelegung

Der 44-Jährige schließt eine vergitterte Glastür auf, die zu einem Flur führt. Auf der Hälfte der Strecke steht eine Lichtschranke, die metallische Gegenstände erkennt. Am Ende rechts gelangt man dann in einen Teil der Wohnbereiche.

Björn Bühler erzählt, dass sie die vielen Patienten hier nur unterbringen konnten, weil sie Einzelzimmer doppelt belegt haben. Uchtspringe habe es da schlimmer getroffen. Dort mussten Besucherräume umgebaut werden, um der Lage Herr zu werden, sagt er. "Das sind natürlich schon Maßnahmen, die einschränkend sind. Denn diese Räume stehen für die Freizeitgestaltung und Kontakte mit Besuchern dann nicht zur Verfügung."

Mehr Straftaten unter Drogeneinfluss

Dass so viele Patienten überhaupt bei ihm im Maßregelvollzug sind, liegt laut Bühler daran, dass zum einen mehr Straftaten in Sachsen-Anhalt unter Drogeneinfluss begangen werden.

Es liege aber auch daran, dass Täter wüssten, wie sie dies oft zu ihrem Vorteil nutzen könnten. Denn die Aussagen dieser würden berücksichtigt: "Ich kann sagen: 'An meinem Kilo Kokain habe ich gut verdient.' Dann komme ich ins Gefängnis. Ich kann auch sagen, ich habe aber auch jeden Tag drei Gramm für mich gebraucht. Dann landet man mit großer Wahrscheinlichkeit im Maßregelvollzug", so der ärztliche Direktor.

Laut Bühler sind die Bedingungen im Maßregelvollzug nicht so streng wie in der Justizvollzugsanstalt. "Insofern gibt es durchaus eine Menge Untergebrachte, die ihr Aussageverhalten bei Gericht entsprechend ausrichten", sagt er.

Patienten sollen therapiert und gesichert werden

Vorbei am Sportplatz geht es zum nächsten Gebäude. Eine Gruppe von zwanzig Mann trainiert hier Fußball. Bühler ist auf den Weg zu den Therapieräumen. Wieder muss er mehrere vergittere Türen auf- und zuschließen.

Patienten sind aktuell wenige auf den Gängen zu sehen – und falls doch, wird von beiden Seiten freundlich gegrüßt. Bernburg hat zwei Aufgaben, wie Bühler es erklärt – zum einen das sichere Verwahren und zum anderen eine Besserung in Bezug auf den Alkohol- und Drogenkonsum zu erreichen.

Die Therapieräume liegen nebeneinander und sehen aus wie ganz normale Werkräume oder Musikzimmer in der Schule. "Wer will, kann hier auch seinen Hauptschulabschluss nachholen", sagt Bühler mit einem leichten Lächeln. Und tatsächlich – in einem der Räume wird gerade eine Prüfung geschrieben. Man vergisst kurz, dass das hier eigentlich ein Gefängnis ist.

Neue Wohnbereiche sollen temporär entlasten

Doch sobald bei Tageslicht die sechs Meter hohen Zäune vor einem stehen, weiß man wieder, wo man ist. Der ärztliche Direktor zeigt, wie gerade versucht wird, mit dem großen Andrang umzugehen. Eine Wiese wird von mehreren Baggern abgetragen. Ein zusätzlicher Zaun wird errichtet, damit Bauarbeiter und Patienten nicht in Kontakt kommen. Hier sollen neue Wohnbereiche mit 30 Betten entstehen.

Doch für Bühler ist das nur eine kurzzeitige Entlastung. Und die Baumaßnahmen werden erst 2024 abgeschlossen sein, berichtet er. "Der Anbau an sich kann schon deshalb nicht ausreichend sein, weil er nur mittelfristig zur Verfügung steht. Wir können jetzt nicht die die nächsten zwei oder drei Jahre die Warteliste beliebig erweitern."

Durch neue Wohnbereiche sollen 30 neue Plätze entstehen. Diese sind erst ab 2024 verfügbar. Bildrechte: MDR/Maximilian Fürstenberg

Wer aktuell gerichtlich in den Maßregelvollzug kommt, wird auf eine Warteliste gesetzt. Das Sozialministerium rechnet damit, dass bis 2026 zirka 670 Plätze im Maßregelvollzug in Sachsen-Anhalt gebraucht werden. Aus diesem Grund wird nicht nur in Bernburg angebaut, sondern auch im Maßregelvollzug in Uchtspringe.

Andere Bundesländer auch überbelegt

Alternativ Patienten in andere Bundesländer abzugeben, ist nicht möglich. Bühler erklärt, dass aktuell alle Bundesländer das gleiche Problem hätten. Ein Antrag laufe daher oft ins Leere.

Darum wird die Warteliste in Sachsen-Anhalt länger. Der 44-Jährige wünscht sich, dass dieser steigende Trend schon früher erkannt worden wäre. Doch er weiß auch, dass sein Arbeitsumfeld in der Öffentlichkeit nicht so präsent sei wie etwa Kinderbetreuung, wie er scherzhaft sagt.

Bühler blickt dennoch positiv in die Zukunft. Man habe den Trend jetzt erkannt und werde ihn mit entsprechenden Maßnahmen lösen. "Am Ende wird man der Sache irgendwie Herr werden", sagt er.

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MDR (Maximilian Fürstenberg)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 10. Oktober 2022 | 11:00 Uhr

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