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Peter Müller arbeitet als Lehrer für Gemeinschaftskunde am Lößnitzgymnasium Radebeul. Bildrechte: Peter Müller

Politische Bildung und GrundgesetzLehrer für politische Bildung: "Der Rechtsruck ist in den Schulen angekommen"

23. Mai 2024, 08:23 Uhr

Peter Müller versucht alles, was in seiner Macht steht. Er hat einen Account bei Youtube, Instagram und Tiktok und ist auch sonst ziemlich fit bei Social Media. Doch gegen die großen Influencer der Neuen Rechten fühlt er sich nur schwer gerüstet. Der Gemeinschaftskundelehrer am Lößnitzgymnasium in Radebeul weiß, dass politische Bildung zum Schutz der Verfassung kein Selbstläufer mehr ist. Längst müssten sich Lehrkräfte direkten Angriffen und der Einflussnahme der AfD erwehren.

Herr Müller, wir feiern 75 Jahre Grundgesetz, im Osten gilt die Verfassung seit 34 Jahren. Hat sich in der politischen Bildung etwas geändert?

Peter Müller: Definitiv, für uns hat sich in den vergangenen Jahren viel geändert. Mittlerweile müssen wir uns direkten Angriffen und Einflussnahme durch die AfD erwehren, die versucht, Lehrkräfte zu verängstigen und einzuschüchtern.

Info:Peter Müller ist in Sachsen auch Fachberater für Gemeinschaftskunde und Rechtserziehung und betreut somit die politische Bildung an 44 Gymnasien in Sachsen.

Das ist ein harter Vorwurf!

Man muss es so sagen. Die AfD hat schon 2018 eine Plattform online gestellt, auf der sie aufruft, Lehrerinnen und Lehrerinnen zu melden, die gegen das angebliche Neutralitätsgebot verstoßen. Abgesehen davon, dass es sich hier um einen Aufruf zur Denunziation handelt, wissen wir alle sehr gut, dass Denunziation Gift für die Gesellschaft sein und Vertrauen zerstören kann. Eigentlich kennen wir es im Osten durch die Stasi. Außerdem gibt es für die Schulen kein Neutralitätsgebot, sondern den Beutelsbacher Konsens.

Der Beutelsbacher Konsens, was verbirgt sich dahinter?

Der Beutelsbacher Konsens legt die Grundsätze für die politische Bildung fest. Dazu gehört, dass politische Bildung nicht indoktrinieren darf. Schülerinnen und Schüler dürfen nicht zu einer bestimmten Meinung agitiert, sondern sie sollen im Gegenteil befähigt werden, eine eigene politische Mündigkeit zu erlangen. Dazu müssen sie in die Lage versetzt werden, ihre eigene politische Situation und Interessenlage zu analysieren.

Die Schüler sollen also – um es altmodisch zu formulieren – Urteilskraft erlangen?

Genau. Gleichzeitig sagt der Beutelsbacher Konsens, dass die Debatten einer Gesellschaft abgebildet werden müssen. Also das, was außerhalb der Schule in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft kontrovers diskutiert wird, soll auch im Unterricht kontrovers dargestellt werden. Ich muss nicht neutral sein, im Gegenteil. Im Sinne der Verfassung muss ich ganz klar Position beziehen, gegen Extremismus und für die politische Willensbildung im Rahmen unseres Grundgesetzes.

Die politische Position ist also das Ja zu Verfassung?

In gewisser Weise schon, obwohl man natürlich immer sagen muss, dass die Verfassung das Gerüst, der Rahmen ist, innerhalb dessen politische Meinungen unbedingt kontrovers diskutiert werden müssen. Nehmen wir zum Beispiel die Losung "Abschieben schafft Wohnraum". Abgesehen davon, dass dieser Spruch an die 1940er-Jahre und die Diffamierung und Entrechtlichung von Juden erinnert. Es handelt sich hier um eine absolute Verallgemeinerung, die zur pauschalen Verurteilung einer gesamten Gruppe von Menschen führt. Dass der Staat nicht in der Lage ist, genügend Wohnraum zu schaffen, hat nichts damit zu tun, dass Menschen Schutz suchen.

Hier werden gleich mehrere Grundrechte berührt. Das Grundrecht auf Asyl (Artikel 5), das Gleichheitsprinzip in Artikel 3 - alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich und niemand darf wegen seiner Herkunft benachteiligt werden - sowie Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Eine Pauschalisierung in dieser Form ist eine Entmenschlichung. Natürlich müssen wir in der Schule für Menschenrechte einstehen. Unbedingt!

Spüren Sie die politische Stimmung in der Schule?

Radebeul ist sehr bürgerlich mit einem niedrigen Migrationsanteil. Falls Sie Migranten treffen, sind es vor allem Russlanddeutsche und Asiaten. Der Ort ist vielen als Stadt der Millionäre bekannt und wegen der hohen Mieten treffen Sie vor allem die höheren Milieus. An unserer Schule gab es bislang eher einen linksliberalen Schwerpunkt. Bei der letzten Wahl in meiner Klasse haben jedoch 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler AfD gewählt. Das ist neu. Haben viele die Anhänger der Partei eher im ländlichen Raum verortet, muss man jetzt sagen: Der Rechtsruck ist in den Schulen und im urbanen Raum angekommen.

Sie lassen in Ihrer Klasse wählen?

Ich betreue drei neunte Klassen, die in meinem Unterricht sozusagen symbolisch wählen gehen. Einmal wählen die Schülerinnen und Schüler vor der Unterrichtseinheit zur Verfassung und dem politischen System Deutschlands mit seinen Parteien und einmal danach. Damit lässt sich gut rekonstruieren, inwieweit sich das Wahlverhalten ändert. Das Interessante: Sowohl vor als auch nach der Unterrichtseinheit war das Ergebnis fast gleich. Es handelte sich also nicht nur um eine spontane Momentaufnahme. Wir haben es auch schon erlebt, dass Schüler sich offen zur AfD bekannt haben, das hat es früher nicht so gegeben.

Wie erklären Sie sich das?

Wir haben keine Erklärung. Vielleicht werden zu Hause eher rechte Positionen verhandelt, vielleicht färbt der Stadtrat mit seinen sehr konservativen Positionen ab. Vielleicht liegt es an den Influencern der Neuen Rechten im Netz und dem Social-Media-Konsum. Vielleicht liegt es auch an vielen Faktoren auf einmal. Klar ist, die Neue Rechte bedient sich einer anderen Sprache, die klar und kantig ist. Das erreicht die Schüler.

Bundeskanzler Olaf Scholz verstehe ich selbst manchmal nur mit Mühe, er formuliert politisch geschliffen und ist schwer greifbar. Viele Aussagen lassen sehr viel Spielraum, alles und nichts kann gemeint sein. Ich kann damit umgehen und ich versuche, dies auch den Schülerinnen und Schülern beizubringen. Doch die Versuchung der vermeintlichen Klarheit, die noch weiter bei Social Media zugespitzt wird, ist riesig.

Wie groß schätzen Sie die Gefährdung durch Social Media?

Das ist ein riesiger Faktor, schon allein weil sie ein Angriffsmedium sind. In Social Media werden permanent populistische Angriffe gefahren, die auf dem ersten Blick plausibel sind – aber es wird keine einzige Lösung präsentiert. Ich bin selbst mit einem Account auf vielen Kanälen von Youtube über Instagram bis Tiktok. Doch gegen Influencer der Neuen Rechten habe ich wenig Chancen.

Nehmen wir Tiktok, die AfD hat hier vier Mal so viele Follower und ist hier um Längen erfolgreicher als beispielsweise CDU und SPD. Was die machen, ist auch langweilig. Doch normale Politik ist langweilig. Sie ist nicht sexy, sie ist eine zerrende Verhandlung von Interessen. Dafür wird es dann aber auch gut. Langweilig kann auch unheimlich toll sein, der Puls muss ja nicht immer auf 180 sein, das hält ja niemand ewig aus.

Wie gehen Sie damit um?

Das kommt darauf an, wie viel Zeit ich habe, um den Schülern zu erklären, dass Politik nicht schwarz-weiß ist, sondern grau. Dass es auf komplexe Fragen nur komplexe Antworten gibt, wir aber durchaus imstande sind, Lösungen zu finden. Glücklicherweise gibt es jetzt die Regelung, dass Gemeinschaftskunde in der siebenten bis zur zehnten Klasse als Pflicht beginnt. Die Klassen elf bis zwölf sind Kür.

Wenn wir diese sechs Jahre haben, können wir sehr viel erreichen. Dann können wir zeigen, warum unsere Verfassung und der Diskurs darin so wertvoll sind – und, dass es durchaus Lösungen gibt, die menschlich sind und unsere Grundrechte wahren.

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Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Dienstags direkt | 21. Mai 2024 | 20:00 Uhr