Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
SachsenSachsen-AnhaltThüringenDeutschlandWeltLeben
Radwege, Straßenbau, Nahverkehr: Wer genau hinsieht, sieht überall Schilder, auf denen die EU Flagge zeigt, wofür sie Fördergelder in Sachsen ausgibt. Hier ein Werbeplakat am Bahnhof Dresden-Mitte. Bildrechte: Kathrin König

Zum EuropatagDie EU im Alltag der Sachsen? Stöhnen über das "Monster Bürokratie"

09. Mai 2024, 08:05 Uhr

Egal, ob man sich durch Social-Media-Feeds scrollt, einkaufen geht, sein Handy lädt, in einen E-Bus steigt oder über eine neue Straße in Sachsen rollt. Überall hat die EU eine Rolle gespielt. Denn sie regelt Neuerungen und Bauarbeiten, legt Grenzwerte fest oder vergibt Fördergelder, damit die Regionen in den Nationalstaaten nicht benachteiligt sind. Besonders viele Millarden hat Sachsen bekommen. Bemerken das die Menschen in ihrem Alltag?

20 Jahre EU-Osterweiterung, Europawahlkampf, Aufrufe wie: "Wir brauchen mehr Europa, statt weniger", wie von Norbert Lammert, dem Chef der Konrad-Adenauer-Stiftung, Anfang März in Dresden gesprochen, hallen in meinen Ohren. Europa? Was merken wir davon im Alltag?

Europa im Supermarkt? Tja.

Ich frage eine Bäckerfilialleiterin in meinem Viertel. Sie überlegt, während sie mir Schwarzbrot und Quarkkuchen in Papier einpackt. "Mit dem Euro haben wir ja Europa in den Händen. Irgendwie." Simmt. Vor 22 Jahren wurde die Währung offiziell umgestellt. Aber es gebe noch immer Kunden, die in D-Mark umrechneten. "Meistens dann, wenn ihnen die Preise zu hoch sind. Das kriegt man auch nicht mehr raus aus denen", erklärt sie. Ob die EU bei Backwaren eine Rolle spielt, wisse sie jetzt auch nicht.

So richtig viel kann ich zu dem Thema auch nicht erläutern.

Einzelhändler und Kaufmann im Kreis Meißen

Ich frage den Kaufmann des Vertrauens beim Wocheneinkauf im Supermarkt. Wie viel von Europa merkt er in seinen Markt-Filialen? Über krumme Gurken, Nährwert-Angaben auf Etiketten, Plastikverbote bei Trinkhalmen und Ohrstäbchen wurde sich monatelang öffentlich aufgeregt. "So richtig viel kann ich zu dem Thema auch nicht erläutern", sagt er und verweist auf seine Unternehmensgruppe, die sich kümmere, "damit wir wenig extra bürokratische Arbeit haben".

So beeinflussen EU-Vorgaben den Lebensmitteleinkauf

  • Für alle Phasen der Herstellungs- und Vertriebsabläufe gilt ein komplexes System von Vorschriften für die gesamte Lebensmittelkette: von Futtermitteln und Tiergesundheit über Pflanzenschutz und Lebensmittelerzeugung bis zu Verarbeitung, Lagerung, Transport, Ein- und Ausfuhr sowie Einzelhandel. Mehr dazu hier.
  • Es gelten Kennzeichnungspflichten und Labels für ökologisch erzeugte oder energiesparende Produkte, ohne Label kein Verkauf.
  • Die EU hat Verbraucherrechte gestärkt, wie Rückgaberechte und Rechte beim Online-Einkauf.

Kabelsalat soll weg

Im selben Einkaufscenter laufe ich in einen Elektronikfachmarkt, weil ich das Ladekabel fürs neue Handy verlegt habe. In der Anleitung stand, dass es ein USB-C-Anschluss sein müsse, irgendetwas mit Super Fast Charging. Pech für das Kabel-Knäuel und diverse Mini-Kabel, die schon unter meinem Schreibtisch liegen. Ich kaufe Nachschub. Sollten diese Kabel nicht EU-weit vereinheitlicht werden, frage ich die Kassiererin. Sie zuckt mit den Schultern: "Tja, weiß nicht, wie weit der Stand da ist."

Tatsächlich wollte die EU schon vor 15 Jahren eine Vereinheitlichung, der Apple-Konzern hatte sich dagegen gesperrt. Bis Ende 2024 soll USB-C zum neuen einheitlichen Standard-Kabel werden für alle Handys, Digitalkameras, Kopfhörer, Konsolen, E-Reader, Navis, Headsets, ab 2026 auch für Notebooks.

An die EU-Vorschriften zur Energieverbrauchskennzeichnung haben sich die meisten Verbraucher mittlerweile gewöhnt. Die Labels auf Lampen und Elektrogeräten sollen beim Energiesparen helfen. Bildrechte: picture alliance/dpa | Monika Skolimowska

15 Jahre vom Wunsch zur Wirklichkeit

"Bei der Stecker-Vereinheitlichung hatten wir zu viel Geduld mit den Herstellern", gibt der EU-Abgeordnete Peter Jahr aus Mittelsachsen zu. Er ist noch bis Anfang Juni für die CDU in Brüssel Europaabgeordneter. "Aber jetzt wird das Kabel-Durcheinander abgeschafft", sagt er und verweist auch auf die Roaminggebühren beim Telefonieren. Die wurden 2017 auch EU-weit gestrichen, was keiner mehr bedenke.

Dass ich im Gespräch immer noch die krummen Gurken anspreche, ärgert den Politiker. "Die Gurke darf aussehen, wie sie will. Sie muss nur noch schmecken."

Die Gurke darf aussehen, wie sie will. Sie muss nur noch schmecken.

Dr. Peter Jahr | Europa-Abgeordneter für die CDU

Vor 15 Jahren habe der Handel vereinheitlichte Formen gewollt und eine Anpassung der Marktordnung verlangt. Peter Jahr dazu: "Die großen Händler wollten Einheitsgurken in Einheitskisten und Einheitscontainern. Aber das wollte die EU gar nicht." Die krummen Gurken waren gerettet und dürfen weiterhin verkauft werden.

Ob krumm oder gerade: Gurken dürfen in Europa verkauft werden, egal, wie sie aussehen. Dennoch sind krumme Gurken und krumme Bananen seit mehr als 15 Jahren Symbole für Regulierungsdiskussionen auf EU-Ebene. Bildrechte: picture alliance / zb | Volkmar Heinz

Mehr als zwölf Milliarden Fördergelder für Sachsen

Wenn der CDU-Abgeordnete Jahr mit Menschen in seinem Wahlkreis spricht, bemerkt er immer wieder, wie wenig sie anerkennen würden, was alles mit EU-Fördergeldern in Dörfern und Städten geschehe. Zwar stünden überall Schilder mit EU-Flagge daneben, aber: "Da hilft nur, das immer wieder zu nennen und nicht nachzulassen, weil es die Dörfer und Kleinstädte wert sind."

Seit 1991 bekommt Sachsen Fördermittel aus den Strukturfonds der Europäischen Union. Insgesamt sind mehr als zwölf Milliarden Euro in sechs aufeinanderfolgenden Förderzeiträumen nach Sachsen geflossen, informiert mich das sächsische Wirtschaftsministerium. Es seien noch viele Milliarden Euro aus den Fonds zur Unterstützung der Landwirtschaft und weiteren EU-Programmen hinzugekommen. "Der Freistaat Sachsen gehört damit zu den größten Empfängern von EU-Förderungen in Deutschland", sagt Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD).

Von all den Milliarden hätten direkt Millionen Menschen in Sachsen profitiert, dazu Tausende Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Kommunen und Regionen. Sie haben davon 15.000 Projekte bezahlt, darunter Spielplätze, Straßen, Deiche, Schulen oder Kulturzentren.

Der Freistaat Sachsen gehört zu den größten Empfängern von EU-Förderungen in Deutschland.

Martin Dulig | sächsischer Wirtschaftsminister (SPD)

Statistisch gesehen sind mehr als 2.900 Euro pro Kopf für jeden einzelnen Bewohner Sachsens ausgegeben worden - vom Baby bis zum Greis. Auch in der nächsten Förderperiode liegen für Sachsen knapp vier Milliarden Euro in den europäischen Fördertöpfen bereit (gut 1.000 Euro pro Kopf):

Alles anzeigen

Stöhnen über Bürokratie: Europa muss besser werden

Bei Gesprächen in Sachsen hört Peter Jahr immer auch Stöhnen über "das Monster Bürokratie". "Das ist gegenwärtig. Die Menschen haben ja Recht. Wir haben zu viel Bürokratie. Doch Bürokratie und Gesetze bedingen einander. Wer Bürokratie abschaffen will, muss alte Gesetze einsammeln und sich fragen, ist wirklich alles notwendig?" Das sieht der Europaabgeordnete für die SPD, Matthias Ecke aus Dresden, ähnlich: "Klar, die EU muss besser werden," sagt er in einem Interview im März dieses Jahres.

Die Menschen haben ja Recht. Wir haben zu viel Bürokratie.

Peter Jahr | EU-Abgeordneter für die CDU aus Mittelsachsen

EU-Austritt diskutieren?

Aber einen Austritt Sachsens oder der Bundesrepublik aus der EU, wie von manchen gefordert, hält Ecke für eine "Schnapsidee", die in einer "Vollkatastrophe" münden würde.

"Wer Sachsen und Deutschland aus dem Herzen der EU reißen will, riskiert einen Rückfall in die Massenarbeitslosigkeit der 1990er Jahre. Steigende Zölle und Verbraucherpreise, Firmenschließungen und der Verlust von Arbeitsplätzen wären die Folge. Im Urlaub würden Grenzkontrollen, Autoschlangen und Geldwechseln sowie das teure Roaming wiederkommen. All das kann niemand wollen," meint der SPD-Politiker.

Mehr zum Thema