JustizvollzugMit Kind im Gefängnis: Wie der Haft-Alltag für Mütter aussieht
Thüringen hat kein Frauengefängnis, weil es einfach zu wenig weibliche Gefangene gibt. Deshalb werden die weiblichen Straf- und Jugendstrafgefangenen, Sicherungsverwahrten und Untersuchungsgefangenen aus dem Freistaat in der Justizvollzugsanstalt Chemnitz untergebracht. Manche sogar gemeinsam mit ihren Kindern.
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Nina sitzt im Besucherraum mit ihrem Kind auf dem Schoß. Ein bisschen versteckt sie sich hinter ihrer Maske, aber dann beginnt sie doch zu erzählen. "Wenn du ins Gefängnis kommst, merkst du ganz schnell, wer deine echten Freunde sind. Ich bin ganz allein, alle haben sich abgewendet."
Die 33-Jährige kommt aus Erfurt und lebt seit Juni 2020 in der JVA in Chemnitz. Dass es hier eine Mutter-Kind-Wohngruppe gibt, hatte sie erst von Mitgefangenen erfahren. "Ich hatte so große Sehnsucht nach meinem Kind, das war ja damals gerade vier Monate alt. Zu Hause hatte ich sogar noch gestillt." Und obwohl das Ganze sonst anders läuft, konnte ihr Baby im August zu ihr kommen. Seitdem wohnen die beiden in der Mutter-Kind-Einrichtung der JVA.
Ich hatte so große Sehnsucht nach meinem Kind, das war ja damals gerade vier Monate alt. Zu Hause hatte ich sogar noch gestillt.
Nina S., Gefangene der JVA Chemnitz
Strenge Zugangsbedingungen
Üblicherweise wird bereits vor Haftantritt darüber entschieden, ob jemand in die Mutter-Kind-Wohngruppe einziehen darf. Und zwar gemeinsam mit dem Jugendamt und nach festgelegten Kriterien. Beispielsweise dürfen die Kinder nicht älter sein als drei Jahre, es darf keine Fluchtgefahr bestehen, denn die Gefangenen hier bringen ihre Kinder selbst zum Kindergarten, dürfen einkaufen gehen oder zum Kinderarzt. Die Zäune sind eher eine Abgrenzung zur Außenwelt statt eine Ausbruchssicherung. Überhaupt ist die Haft in der Mutter-Kind-Einrichtung deutlich anders als im geschlossenen Vollzug.
Freundliche Umgebung vor allem wegen der Kinder
Fünf Haftplätze gibt es hier in Chemnitz für Mütter mit Kindern. Vor allem geht es darum, in diesem frühen Stadium die Bindung zwischen ihnen nicht zu zerstören, erzählt Eike König-Bender, die Leiterin der JVA.
Der Mutter-Kind-Bereich wird von einer festen Gefängnis-Bediensteten betreut, ständige Wechsel wären hier schwierig. Ihren Namen veröffentlichen wir nicht. Sie trägt keine Uniform, ist Ansprechpartnerin beim Kochen, beim Spielen, bei ihr können Nina und ihre Mitgefangenen sich auch mal ausweinen. Die Frauen betreuen ihre Kinder hier komplett selbst. Entweder nach dem Kindergarten oder, wie Nina, den ganzen Tag. Sie kaufen für sie ein, kochen, waschen die Wäsche, spielen mit ihnen und bringen sie abends ins Bett.
Der Sozialpädagoge beobachtet, dass die Frauen hier durch diese hohe Eigenverantwortung viel größere Fortschritte machen. "Und wir sehen hier ja alles, sind immer da. Und wir beobachten vor allem den Umgang mit den Kindern. Nina beispielsweise hat wirklich große Probleme, aber eine liebevolle Mutter ist sie auf jeden Fall!"
Nina beispielsweise hat wirklich große Probleme, aber eine liebevolle Mutter ist sie auf jeden Fall!
Sozialpädagoge der JVA Chemnitz
Der Tagesablauf ist auch hier streng geregelt. Es herrschen die Gesetze des Gefängnisses. Jeder Schritt wird beobachtet und unterliegt Reglementierungen. Arbeitszeit, Kindergarten, Ausgang, Mahlzeiten und Ruhestunden, alles verläuft nach einem strengen Stundenplan.
Unterschiede zum Männervollzug
Eike König-Bender leitet die JVA seit fast zehn Jahren und ist damit für knapp 300 Inhaftierte verantwortlich. Etwa ein Drittel davon kommt aus Thüringen. "Die Frauen, die ihre Kinder zurücklassen müssen, leiden schon sehr. Das hat mitunter sogar gesundheitliche Auswirkungen."
Die Frauen, die ihre Kinder zurücklassen müssen, leiden schon sehr. Das hat mitunter sogar gesundheitliche Auswirkungen.
Eike König-Bender, Leiterin der JVA Chemnitz
Strafen summieren sich oft
König-Bender hat auch schon im Männervollzug gearbeitet. Auf die Frage nach den größten Unterschieden muss sie lange überlegen. "Das Gewaltpotenzial ist schon deutlich geringer. Und auch die Anforderungen an die Sicherheit. Unsere Mauern beispielsweise sind erheblich niedriger." Auch die Straftaten, die Frauen begehen, sind andere. Hauptsächlich Eigentumsdelikte oder Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz, weniger Gewaltdelikte. Und weil diese Frauen ihre Probleme oft ignorieren, summieren sich viele kleinere Strafen dann zu einer Haftstrafe.
So war es auch bei Nina. Angefangen hatte es mit Schwarzfahren. Dann kamen Verstöße gegen die Bewährungsauflagen dazu, sie wurde wieder ohne Fahrschein erwischt. Und am Ende wurde die junge Mutter dann zu zehn Monaten verurteilt. Eigentlich sollte sie sich zum Haftantritt hier in Chemnitz melden, aber auch das hat sie nicht getan, weil sie sich nicht von ihrem Baby trennen konnte. So wurde sie schließlich verhaftet und hergebracht. Kein guter Start in der JVA.
Streitereien im Alltag
Auch wenn die Räume hier im Mutter-Kind-Bereich bunt und fröhlich aussehen - er bleibt ein Teil des Strafvollzugs. Denn hier ist alles für die Gefangenen geregelt. Vom Tagesablauf über die Freizeitgestaltung bis hin zur Verpflegung. "Wir geben ja alles vor. Auch was im Haftraum zugelassen ist und was nicht", sagt die Leiterin der JVA. Und auch auf engstem Raum in einer Zwangsgemeinschaft zu leben, ist problematisch. Streit um Küche, Waschen und Saubermachen, Zwistigkeiten im zwischenmenschlichen Bereich kommen immer wieder vor. "Es herrscht schon ein recht rauher Umgangston unter den Inhaftierten", weiß auch Eike König-Bender.
Corona verschärft die Probleme
Und das gilt auch im geschlossenen Vollzug. Gerade in dieser Zeit liegen auch hier bei den meisten Frauen die Nerven blank. Denn ein Thema hat im Frauengefängnis große Bedeutung: Kinder. Einige der Frauen sind bereits Mutter, wenn sie in Haft kommen, und die große Frage ist, was mit den Kindern passiert. "Wenn ein Mann in Haft kommt, ist meist klar, dass sich die Frau um die Kinder kümmert. Wenn die Frau in Haft kommt, dann ist das ein Problem", erzählt der Sozialpädagoge der Anstalt. Auch er bleibt anonym.
Wenn ein Mann in Haft kommt, ist meist klar, dass sich die Frau um die Kinder kümmert. Wenn die Frau in Haft kommt, dann ist das ein Problem.
Sozialpädagoge der JVA
Keine Berührungen und Umarmungen erlaubt
Und gerade, weil sich die Frauen um die Beziehung zu ihren Kindern sorgen, sind Besuche so wichtig. Doch die Corona-Regeln schränken die jetzt extrem ein. Vor allem Berührungen sind verboten. Es gibt Frauen, weiß die Anstaltsleiterin, die dann lieber ganz auf Besuch verzichten, weil sie es nicht schaffen, ihre Kinder nicht zu umarmen. "Ich kann aber nachvollziehen, was es für ein Kind bedeutet, die Mutter nicht zu sehen, deshalb versuchen wir, unter diesen Bedingungen Lösungen zu finden."
Menschen brauchen mehr als Verwaltung
Natürlich darf sie trotzdem nicht gegen die Regeln verstoßen. Aber vielleicht kann ein Neugeborenes, das zum Besuch ins Gefängnis gebracht wird, doch kurz im Arm der Mutter liegen. Vielleicht bedeutet das auch, dass die Aufsicht nicht ganz so schnell eingreift, wenn ein kleiner Junge sich in die Arme einer Gefangenen wirft. Es wird viel darüber geredet derzeit mit den Besuchern und den Inhaftierten. Und in Ausnahmefällen, wenn die Sehnsucht ganz schlimm wird, fährt jemand aus der JVA mit einer der Mütter auch zu ihrer Familie. Natürlich muss sie danach in Quarantäne.
Neuanfang allein mit ihrem Kind
Nina hat nur noch wenige Tage Haft vor sich. Sie will danach aber nicht zurück nach Erfurt. Zu sehr ist sie enttäuscht von ihren Freunden, die sie bei Haftantritt fallen gelassen haben. Und sie fürchtet auch die alten Muster und Vorurteile. Sie will lieber woanders neu anfangen und dabei Vieles anders machen. Sie hat übrigens während unseres gesamten Gesprächs ihr Zimmer als "meinen Haftraum" bezeichnet. Am Ende vergisst sie eben auch in dieser modernen Mutter-Kind-Einrichtung nie, dass sie im Gefängnis ist.
Erste Mutter-Kind-Einrichtung schon 1947Die erste Mutter-Kind-Abteilung in einem deutschen Gefängnis entstand in der Frauenvollzugsanstalt Frankfurt-Preungesheim, die die Juristin Helga Einsele von 1947 an leitete. Sie kämpfte für eine Humanisierung des deutschen Strafrechts und vertrat die Ansicht, dass eine Unterbringung von Säuglingen im Strafvollzug nicht schädlicher sein könne als eine Trennung von der Mutter. Heute gibt es sieben Mutter-Kind-Einrichtungen im Gefängnis. Wie lange die Kinder bei den Müttern bleiben können, ist unterschiedlich geregelt. In manchen Gefängnissen müssen sie mit einem Jahr gehen, in anderen erst mit zwei oder drei Jahren.
Zahlen und Fakten zum Strafvollzug
Kriminalität und Strafvollzug sind vorrangig Männersache. Nur etwa fünf Prozent aller Inhaftierten sind Frauen. Laut Statistischem Bundesamt standen 2020 den etwa 43.000 männlichen nur etwa 2.600 weibliche Gefangene gegenüber.
Thüringen verfügte zum Stichtag 31. März 2019 über vier Justizvollzugsanstalten und eine Jugendstrafanstalt. Alle Anstalten hatten die Möglichkeit des offenen Vollzugs. Seit 1995 werden die weiblichen Gefangenen auf der Grundlage einer Vereinbarung zwischen den Freistaaten Sachsen und Thüringen zum Vollzug der Freiheitsstrafe in die JVA Chemnitz verlegt.
Wenn Eltern in Haft sind, werden ihre Kinder mit bestraft. Dagegen sollen Einrichtungen wie der Mutter-Kind-Vollzug angehen. Der moderne Strafvollzug soll Rechte und Bedürfnisse dieser Kinder stärker berücksichtigen. In Deutschland sind rund 100.000 Kinder von der Inhaftierung eines Elternteils betroffen.
Quelle: MDR/gh
Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Der Nachmittag | 11. April 2021 | 14:45 Uhr