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InklusionGebärdensprache im Klassenzimmer: Bilingualer Unterricht in Erfurter Gemeinschaftsschule

09. Februar 2023, 15:44 Uhr

Seit 2017 können hörbehinderte Kinder in der Gemeinschaftsschule am Roten Berg in Erfurt am normalen Schulunterricht teilnehmen. Sie lernen dort in gemischten Klassen mit hörenden Kindern. Ein deutschlandweit einzigartiges Konzept.

von Anna Hönig, MDR THÜRINGEN

Auf den ersten Blick sieht das Klassenzimmer der Erst- und Zweitklässler ganz normal aus. Allerdings stehen sich die Tische gegenüber statt nebeneinander. Dass sich die Kinder anschauen können, ist für die Kommunikation sehr wichtig.

Rechts und links von der Tafel ist das Alphabet an einer langen Kette aufgereiht. Unter dem "L" ist das Bild von einem Löwen - klar. Aber darunter ist noch ein anderes Symbol. Eine geschlossene Hand, bei der sich Zeigefinger und Daumen abspreizen: Das ist der Buchstabe "L" in der Gebärdensprache. Die Schüler lernen hier nicht nur, wie der Buchstabe aussieht, klingt und geschrieben wird, sondern auch die entsprechende Gebärde dazu. Überall auf den Plakaten an den Klassenzimmerwänden finden sich auch kleine Bildchen mit der jeweiligen Gebärde aus der DGS - der Deutschen Gebärdensprache.

Einzelinklusion oder Förderzentrum

Bisher lernen hörbehinderte Kinder entweder in sogenannter "Einzelinklusion" oder an speziellen Förderzentren mit Schwerpunkt Hören. Bei der Einzelinklusion ist jeweils ein einzelnes Kind in eine Schulklasse inkludiert und lernt dort zusammen mit hörenden Kindern, unterstützt durch einen Gebärdensprachendolmetscher. Bei den Förderzentren liegt der Fokus weniger auf der Wissensvermittlung durch Gebärdensprache. Hier soll vor allem das Hören gefördert werden.

Christiane Witting vom Biling-Verein wollte ihrem Sohn ermöglichen, später mittels Gebärdensprache seinem eigenen Berufswunsch nachgehen zu können und eventuell eine Ausbildung zu machen oder zu studieren. Mit der Integration ihres Sohnes in eine bilinguale Schulklasse wie am Roten Berg stünden die Chancen für so einen Werdegang am besten, so Witting.

Dass das Schulamt Mittelthüringen dieses Konzept mit Personal wie Sonderpädagogen unterstützt, dafür ist Witting dankbar. Die Kinder in den "Biling-Klassen" nehmen für diesen "normalen" Unterricht teilweise einen langen Weg auf sich. In den bilingualen Klassen am Roten Berg lernen aktuell insgesamt 18 hörbehinderte Kinder. Sie kommen aus Erfurt, dem Ilm-Kreis, Weimar und dem Weimarer Land.

Dolmetscher nötig

Damit die Kommunikation zwischen Lehrern und Kindern gewährleistet ist, gibt es in jeder Stammgruppe zusätzlich zum Lehrer einen Sonderpädagogen oder einen Dolmetscher, der das Gesagte in Gebärdensprache übersetzt und andersrum. Einige Lehrer am Roten Berg beherrschen mittlerweile schon selbst die DGS oder sind dabei, sie zu lernen.

Und wie kommunzieren die Kinder untereinander? "Die finden immer einen Weg", sagt Schulleiterin Sabine Becher. Teilweise beherrschen die Mitschüler mittlerweile selbst die Gebärdensprache - dafür gibt es eine Unterrichtsstunde pro Woche DGS-Unterricht.

Kaum Lehrmaterial für Hörbehinderte

Die Integration klappt aber nicht immer, meint Klassenlehrerin Madeleine Marx. "Also die Jungs spielen schon alle miteinander, aber die hörbehinderten Mädchen in der Klasse bleiben im Moment nur unter sich. Das ist schade", sagt Marx. Dass die hörbehinderten Kinder beim Lernen Defizite haben, kann sie nicht bestätigen. "Manche Kinder sind eben besser in Mathe, andere besser in Deutsch - das hat aber nichts mit der Hörbehinderung zu tun, sondern einfach mit den persönlichen Fähigkeiten", erklärt Marx. Die Lehrerin bemängelt vor allem, dass es so wenig Lehrmaterial für Hörbehinderte gibt. "Wenn ich mal einen kleinen Film zeige, ist der oft ohne Gebärdensprache, da müssen dann die Sonderpädagogen übersetzen", sagt sie. Auch die Arbeitsblätter mit den DGS-Gesten erstellt sie im Moment noch eigenhändig.

Wie gefällt's den Schülern?

Und auch, dass sie selbst die DGS noch nicht beherrscht, erschwert der Lehrerin oft den Umgang mit ihren Schülern. "Ich würde die DGS gerne lernen, aber es gibt zu wenig Kursangebote". Immerhin kämen die hörbehinderten Kinder mittlerweile trotzdem zu ihr, wenn sie Probleme haben. Das sei am Anfang nicht so gewesen.

Integration ist ein langer Weg, die fünfjährige Erfahrung an der DGS zeigt aber: Sie kann funktionieren. Keanu ist elf Jahre alt, ebenfalls hörbehindert und besucht die Stammgruppe 3. Wie gefällt es ihm hier an der Schule? Christiane Witting übersetzt die Antwort von Keanu: "Ich mag es, mit hörenden Kindern zu lernen. Auch dass ich mit ihnen spielen kann und die Gehörlosen nicht nur unter sich sind. Auch mit den Lehrern kann man gut gebärden. Ich kann hier sehr viel lernen".

Und auch wenn noch nicht alles reibungslos läuft - die bilingualen Klassen am Roten Berg sind ein großer Schritt in Richtung Inklusion.

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MDR (dr)

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Selbstbestimmt - Das Magazin | 14. August 2022 | 08:00 Uhr

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