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NationalsozialismusNS-Zeitzeuge Gerhard Laue über seine Kindheit und Jugend unter Hitler

10. Juni 2022, 20:23 Uhr

Noch nicht einmal fünf Jahre alt war Gerhard Laue, als Adolf Hitler im Januar 1933 an die Macht kam. Seine Kindheit und Jugend verbrachte der heute fast 94-Jährige im Norden von Erfurt. Den Aufstieg der NSDAP, die Judenverfolgung und Bombenangriffe erlebte Laue hautnah. Bis heute ist er im ganzen Land unterwegs, um darüber zu berichten.

von Anna Hönig, MDR THÜRINGEN

Langsam setzt Gerhard Laue seine Brille auf die Nase. Sein Blick ist auf den Papierstapel auf dem Tisch vor ihm gerichtet. Auf den beschriebenen Blättern steht sie - seine Geschichte. Im Klassenraum der Evangelischen Gemeinschaftsschule ist es mucksmäuschenstill. Die Neunt- und Zehntklässler lauschen Laues Erzählungen gespannt. Erzählungen aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt.

Der erste Hitlergruß

Als kleiner Junge habe er die Geschehnisse noch nicht richtig einordnen können, erzählt Laue. "Ich erinnere mich, als ein Nachbar im Haus mich angesprochen hat", sagt er. Der Nachbar habe ihm gezeigt, wie man die Männer in Uniform künftig zu grüßen habe: Mit dem rechten ausgestreckten Arm. "Das habe ich bei der Patrouille in unserer Straße gleich ausprobiert", schildert Gerhard Laue. Am Tisch wurde bei der Familie nicht über Politik geredet. Erst später verstand er, dass seine Eltern dem System kritisch gegenüberstanden. 

Schuhe beim "Juden Meier"

Vor der Judenverfolgung hatte Gerhard Laue seine Turnschuhe immer beim "Juden Meier" in der Magdeburger Allee gekauft. Als bei diesem in der Nacht vom 9. November 1938 die Scheiben eingeschlagen wurden, kam er "ins Grübeln", wie er sagt. "Ich habe mit ihm gefühlt, ich habe gehofft, dass ihm nichts Schlimmes passiert ist", erzählt Laue von jenem Abend.

Nächtliches Radio hören und Widerstand

Als er in die Schule kam, sei ihm von seinen jungen Lehrern damals "das Denken abgenommen" worden. Sie trugen Hitlers Propaganda und Weltansicht an die Schüler weiter. Erst als Laue als Jugendlicher die Handelsschule besuchte, erfuhr er von der Welt außerhalb von Hitler-Deutschland. "Meine Lehrer dort haben erzählt von ihren Besuchen im Ausland in Paris, und wie anders das Leben dort ist", erzählt er. Das habe ihn zum Nachdenken angeregt.

Laues Freund und Sitznachbar Karl Metzner war Mitglied in einer kleinen Widerstandsgruppe mit anderen Schulkameraden. Diese hörten nachts regelmäßig ausländische Radiosender ab. Daraufhin begann auch Laue, nachts am Radioknopf zu drehen und hörte so englische Radioberichte darüber, wie der Krieg tatsächlich für Deutschland verlief.

In der Widerstandsgruppe, die kurze Zeit später aufflog, wirkte er nicht mit. "Ich mochte die anderen Mitglieder nicht so gerne", erklärt er mit einem Schmunzeln. Doch als Mitwisser der Gruppenaktivitäten musste er die Handelsschule schließlich verlassen.

Bombenangriffe auf die Barfüßerkirche und das Augustinerkloster

Auch an die Bombenangriffe auf Erfurt erinnert sich der fast 94-Jährige noch gut. Als die Barfüßerkirche getroffen wurde, war er gerade im Bismarck-Haus, wo er Nachtwache hielt. "Als die Geräusche der Flugzeugmotoren lauter wurden, sind wir in den Keller gerannt. Schneller als wir es denken konnten, waren wir die Treppe runtergerannt", erzählt er. "Durch die Erschütterung war alles voller Staub, man hat kaum Luft bekommen".

Bei einem weiteren Angriff wurde das Augustinerkloster getroffen. "Obwohl das Kellergewölbe standhielt, sind die Menschen dort erstickt, weil die Ausgänge verschüttet waren", sagt er. Seine Mutter habe an diesem Tag eine sehr gute Freundin verloren. Und er selbst habe zum ersten Mal "einen erwachsenen Mann wirklich weinen und schluchzen" gehört.

"Es hält mich jung"

Heute lebt Gerhard Laue in Wuppertal. Seine Erlebnisse hat er in drei Büchern niedergeschrieben. Seit der Wende ist er immer wieder im ganzen Land unterwegs, um von seiner Geschichte zu berichten. Besonders gerne komme er immer noch nach Erfurt, sagt er. "Diese Stadt hat etwas ganz Besonderes".

Wie er das in seinem Alter noch schafft? "Ich bin halt so. Ich kann nicht gegen meine Natur. Und es hält mich auch jung", sagt er und lacht. "Aber ich sage immer, wenn ich in Erfurt bin, - vielleicht bin ich zum letzten Mal hier. Und dann hoffe ich gleichzeitig, dass es nicht das letzte Mal ist".

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MDR (jn)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 10. Juni 2022 | 21:00 Uhr

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