Uniklinik JenaWach im OP: Wie Wachoperationen die Behandlung von Hirntumoren verändern
Vanessa Sonntag ist 16 Jahre alt, als Ärzte bei ihr einen Gehirntumor in der Größe einer Streichholzschachtel diagnostizieren. Ein Schock für sie und ihre Familie. Die größten Heilungschancen bietet ein neurochirurgischer Eingriff am Uniklinikum Jena. Die Operation ist gefährlich und weil der Tumor im Sprachzentrum des Gehirns sitzt, wollen die Chirurgen ihn entfernen, während Vanessa wach ist.
Vor dem Aufwachen hat Vanessa große Angst gehabt. Wie würde das sein, die Augen zu öffnen und sich selbst in einem OP-Saal wiederzufinden? Festgekettet zu sein und sich nicht bewegen zu können, während so viele fast völlig fremde Menschen damit beschäftigt sind, ihr den Kopf aufzuschneiden? Denn das machen die ja: Die schneiden ihr den Kopf auf! Wer würde da keine Angst bekommen?
Die Welt aus grünen Tüchern
Als erstes blickt Vanessa in das vertraute Gesicht von Dr. Irina Mäurer. Die Neurologin sitzt ihr in einer kleinen Welt aus grünen Tüchern gegenüber. Die OP-Laken spannen einen Raum ab - fast so wie eine Bude aus Kissen und Decken, die in einem Kinderzimmer stehen könnte. Jenseits der Welt aus grünen Tüchern hört sie die freundliche Stimme von Prof. Dr. Christian Senft.
"Vanessa, hörst du mich?", fragt er sanft. "Du bist im Operationssaal. Du bist gerade wach geworden. Es ist alles in Ordnung." Senft spricht ganz ruhig und erklärt: "Wir sind alle hier. Ich bin hier und Doktor Baumgarten ist hier, Doktor Mäurer natürlich auch." Die Neurologin streichelt Vanessa die Hand und flüstert "Hallo." Dann spricht Senft langsam weiter: "Die Operation läuft genau nach Plan. Wir sind bereit mit den Tests anzufangen. Doktor Winkens ist auch da, er wird jetzt den Schlauch aus deinem Mund entfernen, damit du mit uns sprechen kannst."
In die kleine Welt aus grünen Tüchern tritt Dr. Michael Winkens. "Hab' keine Angst, das wird nicht weh tun. Versuch bitte nicht zu husten." Vanessa spürt gar nicht, wie der Anästhesist den Schlauch aus ihrem Rachen zieht. Sie merkt nur, wie trocken ihr Mund ist - und als ob er Gedanken lesen könnte, sagt Winkens: "Ich lege dir jetzt einen feuchten Watteball in den Mund, dann wird es gleich besser."
Die Diagnose, die niemand für möglich hielt
"Der 1. April 2021 ist mein zweiter Geburtstag", sagt Vanessa Sonntag zwei Jahre später. Das Datum - an dem die Ärzte der Uniklinik Jena der damals 16-Jährigen bei vollem Bewusstsein einen Tumor in der Größe einer Streichholzschachtel aus dem Gehirn operiert haben - trägt Vanessa immer bei sich. Ein Tattoo auf ihrem Schlüsselbein erinnert sie daran, dass sie Glück gehabt hat.
Familie Sonntag lebt in Mülsen, einer Landgemeinde im Landkreis Zwickau. Papa Sascha hat seine Tischlerei direkt auf dem Hof, Mutter Kerstin ist Verkäuferin und Vanessa geht hier zur Schule. Mülsen ist das längste Dorf Sachsens, was keine besondere Auszeichnung ist, wenn die kilometerlange Hauptstraße in desolatem Zustand ist. Aber die Schlaglöcher kennt Vanessa wie ihre Westentasche, schließlich braust sie oft auf ihrem Moped durch den Ort. In Mülsen leben Vanessas Freunde und um ihre Großeltern zu besuchen, muss sie nur die Straßenseite wechseln.
Es ist kurz vor Weihnachten 2020, als diese kleine heile Welt buchstäblich über Nacht aus den Fugen gerät. "Ich bin früh aufgestanden und habe gemerkt, alles fühlt sich grundlegend anders an - wie in einer Blase", erzählt Vanessa. "Wenn ich mit Menschen geredet habe, waren ihre Stimmen ganz leise."
Auch ihr Gedächtnis verschlechtert sich rapide. Teilweise erinnert sie sich nicht mal, was am Vortag gewesen ist. Hinzu kommt ein brennender Kopfschmerz, immer an der gleichen Stelle. Die Hausärztin aber winkt ab und meint, das sei psychosomatisch. Es ist mitten in der Corona-Krise, viele Heranwachsende haben zu dieser Zeit psychische Probleme.
Auch ihre Eltern denken zunächst, dass sich Vanessa etwas einbildet. "Wir haben das damals abgetan", sagt Papa Sascha zerknirscht. Seine Frau nickt. "Man glaubt einfach nicht, dass es etwas so Schlimmes ist", sagt sie. Doch mit der Zeit verschlechtert sich Vanessas Zustand. Immer öfter ist sie wie in einer eigenen Welt, kann Gesprächen manchmal gar nicht mehr folgen, immer öfter ist sie traurig. Als die Familie im Februar einen Geburtstag feiert, steht sie einfach auf und verlässt den Raum. Es wird ihr alles zu viel. "Man konnte durch sie durchschauen, sie war gar nicht richtig da", erinnert sich ihr Vater.
Ich bin früh aufgestanden und habe gemerkt, alles fühlt sich grundlegend anders an - wie in einer Blase.
Vanessa Sonntag
Im März 2021 geht Vanessa zum dritten Mal zur Hausärztin. Die erklärt nochmal, dass da bei so jungen Menschen nichts sein kann. Doch am Ende lenkt sie ein und schickt Vanessa ins MRT nach Zwickau. Die Radiologen schieben sie zwei Mal in die Röhre, um sicher zu gehen. Dann nimmt eine Ärztin Vanessa und ihre Mutter zur Seite. Da sei etwas im Kopf, etwa fünf Zentimeter groß - "etwas zwischen Gut und Böse."
Die Farbe und Konsistenz des Gehirns
Am Morgen des 1. April 2021 verabschieden sich Vanessa und ihre Mutter in der Schleuse zum Operationssaal voneinander. Nachdem das Team um Dr. Winkens bei Vanessa die Narkose eingeleitet hat und sie langsam wegdämmert, bringt der Anästhesist sie in den OP. Sie bekommt nicht mit, wie sie rücklings auf dem OP-Tisch fixiert und ihr Kopf in der Mayfield-Klemme eingespannt wird. Nicht mal den Pikser der Spritze spürt sie, mit der ihr ein hochwirksames Lokalanästhetikum in die Kopfhaut injiziert wird, damit sie die Dornen der Klemme später nicht spürt. Vanessa schläft seelenruhig.
Wenig später öffnet Dr. Baumgarten Vanessas linke Schädeldecke mit einer oszillierenden chirurgischen Säge. Behutsam nimmt er das Stück Schädelknochen heraus. Dann eröffnet er die ledrige Hirnhaut, Hirnwasser tritt aus. Kurz darauf liegt Vanessas Hirn offen. Mit einem Zeiger-Instrument tastet Prof. Dr. Senft das Hirn mit dem darin befindlichen Tumor ab, den Blick immer auf einen Bildschirm geheftet, der die Livebilder seines Instruments auf die MRT-Screens projiziert.
"Am Hirn arbeiten wir im Millimeterbereich. Fünf Millimeter sind für uns zum Beispiel weit, weit weg", erklärt Christian Senft, der 2020 an das Universitätsklinikum Jena wechselte, um die Leitung der Klinik für Neurochirurgie zu übernehmen. Er etablierte am Standort Jena die Wachoperationstechnik für Hirntumore, die wie bei Vanessa im Sprachzentrum sitzen. Ermöglicht wird dies unter anderem durch die intraoperative Bildgebung und Navigation, für die Senft deutschlandweit als Experte gilt.
Bildgebung und Navigation sind ein technisches Verfahren, das dem Operateur hilft, innerhalb des Gehirns millimetergenau zu orientieren. Eine Software verarbeitet dabei die Daten, die das Zeigerinstrument des Chirurgen mittels Kamera- und Infrarottechnik sammelt, um auf einem Bildschirm die exakte Position im Raum anzuzeigen. Bei der Resektion eines Hirntumors ist diese Präzision lebensnotwendig, denn oft sind Tumor und Hirn nur schwer voneinander zu unterscheiden.
"In der Tiefe des Hirns hat das Gewebe eine weiße Farbe, etwa creme- oder elfenbeinweiß. Es ist auf jeden Fall eine sehr schöne Farbe", sagt Senft und es klingt fast wie eine Liebeserklärung an dieses faszinierende Organ. Tumore hingegen könnten farblich variieren. Häufig wären sie etwas glasiger oder leicht gräulich, mache hätten eine rötliche Verfärbung und wieder andere würden sich überhaupt nicht vom Gehirn unterscheiden. Dann würde allein die Konsistenz einen Unterschied machen. "Bei Hirngewebe liegt sie irgendwo zwischen Wackelpeter, steifgeschlagener Sahne und weicher Butter. Der Tumor ist oft etwas derber", erklärt Senft.
Hardcore
"Das ist im ersten Moment gar nicht angekommen", erinnert sich Sascha Sonntag. Zusammen mit dem Großvater spielt er an diesem Tag im März 2021 im Keller Dart, als seine Tochter mit verweinten Augen ins Zimmer tritt. "Ich habe den beiden vom Tumor erzählt und da kam gar nichts. Die haben mich einfach nur angestarrt", erinnert sich Vanessa, wie sie vom MRT nach Hause kam. Weinen oder Schock - es sind diese beiden Reaktionen, die die Diagnose Hirntumor hervorruft.
Schockiert ist auch die Hausärztin, als sie am nächsten Tag davon erfährt. "Die war sehr mitgenommen, aber hat sich dann auch gleich gekümmert", erzählt Mutter Kerstin. Über einen Kontakt am Zwickauer Krankenhaus wird die Familie ans Uniklinikum in Jena vermittelt. Kurz darauf wird Vanessa hier in der Kinder-Onkologie vorstellig. Schon aus den ersten Untersuchungen schöpft die Familie neue Kraft und Hoffnung. "In Jena hatten wir von Anfang an das Gefühl gut aufgehoben zu sein", erinnert sich Vater Sascha.
"Wir waren eine Woche nur zu Voruntersuchungen in der Kinder-Onkologie und irgendwann bei einem weiteren MRT kamen dann Professor Senft und Doktor Baumgarten auf uns zu", erzählt Kerstin Sonntag. Die beiden Doktoren eröffnen der Familie die Möglichkeit einer Wachoperation. Vanessa ist neugierig und lauscht den Ausführungen der Neurochirurgen, doch ihre Mutter bekommt es mit der Angst zu tun: "Schlimm! Also ich habe es mir nicht anmerken lassen, aber ich dachte… das ist schon…" – "Hardcore", vervollständigt ihr Mann Sascha.
Kopfeis
Vanessas Eltern durchleiden den 1. April 2021 getrennt voneinander. Kerstin Sonntag läuft Trampelpfade ins Linoleum des Patientenzimmers und blättert gedankenverloren durch Zeitschriften. Sascha Sonntag ist aufgrund der Corona-Auflagen in Mülsen geblieben. In seiner Tischlerei versucht er sich abzulenken. Doch an Arbeit ist nicht zu denken. Immer wieder wandert sein Blick zur Uhr und tasten seine Hände nach dem Handy - noch immer kein Anruf.
Im OP-Saal hat Prof. Dr. Senft fast alle Vortests an Vanessas Gehirn abgeschlossen. Feine Sensoren hat er dafür auf die tumornahen Hirnareale appliziert, um mit winzigen elektrischen Impulsen die Hirntätigkeit zu testen. Er gibt Dr. Winkens ein Zeichen. Der Anästhesist schaltet die Zufuhr der Medikamente ab.
Noch während Vanessas Körper damit beschäftigt ist, die kurzwirksamen Anästhetika abzubauen, um allmählich aus der Narkose wach zu werden, kommt es zu einem Zwischenfall. Vanessa beginnt unkontrolliert zu zucken, ihre Muskeln kontrahieren und ihre fixierten Glieder versuchen wild auszuschlagen. Ein elektrischer Impuls am Gehirn hat einen epileptischen Anfall ausgelöst.
"Ein Worst Case? Nein, das würde ich nicht sagen", erklärt Christian Senft rückblickend mit neurochirurgischer Gelassenheit. "Durch die Manipulation am Gehirn und das Stimulieren im Bereich der motorischen Hirnrinde kann das vorkommen. Das ist etwas, worauf wir immer vorbereitet sind." Es mag verrückt klingen, aber in so einem Fall starten die Chirurgen das Hirn des Patienten einfach neu. Dafür steht im OP immer eine Flasche Elektrolytlösung auf Eis. Die vier Grad Celsius kalte Flüssigkeit wird direkt auf das offene Gehirn gegossen und unterbricht auf diese Weise jede Hirntätigkeit. Der Anfall erlischt und keine zwanzig Sekunden später hat das Hirn wieder Normaltemperatur. "Vanessa hat das gar nicht mitbekommen", sagt Senft rückblickend.
Wenig später schlägt Vanessa im OP die Augen auf.
Teamarbeit
Das interdisziplinäre Team rund um Prof. Dr. Senft absolviert an der Uniklinik Jena etwa 250 Hirntumoroperationen pro Jahr - darunter rund ein Dutzend Wach-Operationen. Beteiligt sind eine ganze Reihe von Fachgebieten: Neurochirurgie, Neurologie, Psychologie, Onkologie, Radiologie, Anästhesie - und im Fall von Vanessa erstmals auch die Pädiatrie.
Sie arbeiten sowohl in der Vorbereitung als auch während der Operation Hand in Hand. Allein im OP-Saal ist am 1. April 2021 ein fünfzehnköpfiges Team nötig. "Selbst für uns erfahrene Kollegen ist das immer ein außergewöhnlicher Eingriff", sagt die Neurologin Dr. Irina Mäurer.
Mitte März treffen sich die Fachabteilungen im sogenannten Tumorboard und beraten die Therapiemöglichkeiten von Vanessa. Eine Wach-OP gilt als vielversprechend, doch der Eingriff geht mit einer hohen psychischen Belastung einher, die auch Erwachsene nicht immer vertragen. "Manche Personen scheinen stark zu sein, aber hinter der Fassade bröckelt es und die Menschen dekompensieren", erklärt Professor Senft. Kann eine 16-Jährige dem standhalten?
Um das herauszufinden, wird die neuropsychologische Voruntersuchung bei Vanessa ausgeweitet. Die Neurochirurgen ziehen nicht nur Neurologen hinzu, sondern auch eine Kinder- und Jugend-Psychologin. Sie alle kommen darin überein, dass Vanessa psychisch sehr stabil ist. "Bei Kindern ist dann auch immer die Frage, verstehen die die Tragweite dessen, was da passiert? Auch den Eindruck hatten wir bei Vanessa", sagt Senft.
Als die Entscheidung schließlich gefallen ist, bereitet Dr. Mäurer die neurologische Testbatterie mit Vanessa vor. "Das heißt wir überlegen uns, was würde sich für diesen Patienten am besten eignen, um seine Sprache und kognitiven Fähigkeiten gut zu testen", erklärt Mäurer. Mehrmals führt sie mit Vanessa lange Gespräche, steckt Themenkomplexe ab, über die Vanessa gut reden kann und lässt sie Testbilder beschreiben. Dabei achtet Mäurer auf Feinheiten: Wie schnell spricht Vanessa? Wie sind ihr Sprachduktus und ihre Aussprache? Welche Worte benutzt sie bei der Beschreibung der Szenen?
Um sie auch psychologisch vorzubereiten, stellt Irina Mäurer mit Vanessa das Aufwachen im OP nach. Vanessa muss dabei auf dem OP-Stuhl Platz nehmen und die Augen schließen, während der Raum mit grünen Tüchern abgehangen wird.
Die menschliche Sprache ist komplex
"Ich möchte, dass du jetzt bis 20 zählst", sagt Prof. Senft während der OP am 1. April 2021 - und Vanessa beginnt zu zählen: "Eins, zwei, drei." Die Operation ist in vollem Gange. Die Neurochirurgen testen sich durch Vanessas Gehirn. Immer wieder stellen sie Aufgaben. "Acht, neun, …", plötzlich stockt sie. "Kein Sorge Vanessa, das waren wir. Du machst das prima", sagt Senft, der seinen Blick fortwährend auf einen Bildschirm richtet. "Jetzt nochmal von vorn und wieder bis 20 zählen!"
"Bis vor zehn Jahren war es üblich, so einen Tumor zu operieren und hinterher hat man sich überraschen lassen, ob der Patient ein Defizit hat oder nicht", sagt Christian Senft. In einer Wach-OP können die Neurochirurgen aber die Sprache des Patienten live testen. Während der Patient spricht, senden sie kleine elektrische Impulse aus.
Führt ein Signal zu Sprachstörungen, wissen sie, dass das Tumorgewebe endet und die wichtigen Hirnzellen anfangen. Auf diese Weise kartografieren sie das Gehirn und stecken den Tumor ab. Senft ist überzeugt: "Sprache ist eine so komplexe Fähigkeit, dass wir sie nicht sicherer testen können als mit einem wachen und kooperativen Patienten."
Immer wieder übernimmt auch Dr. Mäurer während der OP die Gesprächsführung. Die Neurologin, die bei Vanessa in der Welt der grünen Tücher sitzt, hat einen Computer herangezogen, auf dem sie ihr Bilder zeigt: "Sag mir, was du hier siehst!" Die Bilder kennt Vanessa bereits. "Ein Junge spielt Fußball, eine Frau sitzt an der Haltestelle", beschreibt Vanessa und Mäurer nickt zufrieden.
Wenn ein Mensch spricht, arbeiten in seinem Kopf mehrere Hirnregionen zusammen, um beispielsweise Inhalt, Wortfindung, Grammatik und die motorische Leistung des Aussprechens miteinander zu vereinen. Während der Operation achten deshalb Neurologen auf die kleinsten Veränderungen in der Sprache des Patienten. "Wenn der Patient zum Beispiel langsamer spricht, Worte verwechselt oder Worte benutzt, die falsch sind, ohne es zu merken – das ist der Moment, wo wir dem Neurochirurgen per Blickkontakt signalisieren würden, dass etwas nicht stimmt", so Mäurer.
Sprache ist eine so komplexe Fähigkeit, dass wir sie nicht sicherer testen können als mit einem wachen und kooperativen Patienten.
Christian Senft
Fast wie in einem Interview
"Erzähl' mal von Mülsen, wer wohnt denn da alles?", fragt Dr. Mäurer und Vanessa erzählt von ihren Freunden, den Nachbarn und von ihren Großeltern, die sie oft besucht. "Oma hat auch eine süße kleine Schildkröte", plaudert Vanessa und Mäurer lacht. "Eine Schildkröte? Wie heißt die denn?", hakt Mäurer interessiert nach. Es ist fast wie in einem Interview. Immer wieder fragt Mäurer weiter und verwickelt Vanessa in persönliche Gespräche. Sie vergisst beinahe, dass es auch die Welt jenseits der grünen Tücher gibt.
Doch je länger die OP dauert, desto anstrengender wird es für Vanessa, sich aufs Sprechen zu konzentrieren. Denn immer wieder ist da dieses störende Geräusch. Eine Art Rauschen, dass irgendwo außerhalb der Welt aus grünen Tüchern immer wieder anschwillt und doch ganz nah zu sein scheint. Es erinnert sie an Zahnarztbesuche. Tatsächlich ist es ein Ultraschallaspirator, ein chirurgisches Instrument, das mittels Ultraschallwellen das Tumorgewebe zertrümmert. Dann endlich verstummt das Rauschen und Dr. Baumgarten tritt in die Welt der grünen Tücher: "Vanessa, wir sind fast fertig, willst du den Tumor einmal sehen?"
Heilungschance und langanhaltende Schäden
Etwa eine Stunde später klingelt in Mülsen das Handy von Sascha Sonntag. "Sie redet, sie bewegt sich", ruft Kerstin Sonntag ihrem Mann glücklich zu. Es ist die pure Erlösung. Tränen kullern vor Erleichterung. Vanessa liegt in einem bequemen Krankenbett auf der Intensivstation. Sie döst vor sich hin, ihr Kopf hämmert. Aber sie weiß, dass ihre Mutter da ist und ihre Hand hält. Jetzt wird alles gut.
Trotz aller wissenschaftlichen Fortschritte ist die Behandlung von Hirntumoren bis heute mit großen Unwägbarkeiten verbunden. Prof. Dr. Senft schätzt, dass die Heilungschance bei Kindern bei etwa 50 Prozent liegt. Ähnliche Erfolgschance bestehen nach Angaben des Klinikums Dortmund für Erwachsene – wie belastbar diese Zahlen sind, ist fraglich. Fest steht: Die meisten Berichte zum Thema Hirntumor vermeiden es, die Überlebenschancen zu beziffern (auch die Deutsche Hirntumorhilfe macht hierzu keine Angaben). Vielmehr müssen Art und Wachstumsfortschritt jedes Hirntumors individuell betrachtet werden.
Bei Vanessa ergab der histologische Befund nach der OP, dass der Tumor gutartig war. Sämtliche Nachkontrollen verliefen gut und bis heute ist kein erneutes Tumorwachstum zu beobachten. "Noch können wir nicht sagen, dass sie geheilt ist, dafür brauchen wir noch ein paar Jahre Nachkontrolle", sagt Prof. Senft, "aber wir sind sehr optimistisch."
Unabhängig davon geht mit der operativen Entfernung eines Hirntumors auch das Risiko einher, dass der Eingriff bleibende Schäden hinterlassen kann. Das menschliche Gehirn ist für die Wissenschaft eben oft noch ein Rätsel: "Manchmal ist es möglich große Teile, also wirklich große Teile des Gehirns zu entfernen, ohne dass es augenscheinlich einen Effekt auf diesen Menschen hat. Und an anderer Stelle geht es um Millimeter und Menschen sind schwer geschädigt", sagt Senft und mahnt deshalb zu Demut.
Auch an Vanessa ist der Eingriff nicht völlig spurlos vorübergegangen: "In der Schule merke ich, dass ich oft nicht so konzentriert bleiben kann. Dafür habe ich auch einen Nachteilsausgleich." Darüber hinaus haben ihre Eltern eine Wesensänderung bemerkt: "Ich will nicht sagen, dass sie gefühlskalt geworden ist, aber sie steigert sich weniger in Dinge rein als vor der OP", sagt Papa Sascha. "Das kann aber auch daran liegen, dass sie erwachsen wird", meint Mama Kerstin.
Ein weiteres Überbleibsel der Tumorentfernung ist ein Stück künstliche Schädeldecke. Der wieder eingesetzte Schädelknochen hatte sich nach der Operation entzündet und musste schließlich ersetzt werden. "Das fühlt sich durch das Material anders an und auf der Narbe wachsen auch keine Haare mehr, aber davon abgesehen, ist alles gut", sagt Vanessa und ihre Mutter scherzt: "Das Gute ist, Vanessa piepst deshalb nicht am Flughafen."
MDR (ask)
Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 07. April 2023 | 19:00 Uhr
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