Sowjetischer Ex-PräsidentMichail Gorbatschow: ein Jahrhundertpolitiker
Michail Gorbatschow wollte mit Glasnost und Perestroika ab Mitte der 1980er-Jahre die UdSSR reformieren. Tatsächlich ermöglichte er mit seiner Politik das Ende des Kalten Krieges und 1990 die deutsche Einheit. Im Westen wird Gorbatschow dafür verehrt, im eigenen Land hingegen gilt er als "Totengräber der UdSSR".
Der ehemalige sowjetische Staatschef und Wegbereiter der deutschen Einheit ist mit 91 Jahren in Moskau gestorben. Mit ihm verliert die Welt einen Politiker, der maßgeblich dazu beigetragen hat, dass der Kalte Krieg friedlich beendet wurde. Die Zeiten der Entspannungspolitik sind spätestens seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vorbei. Doch Michail Gorbatschow hat Weltgeschichte mit geschrieben, bevor er seine Macht verlor. Er galt als einer der Väter der deutschen Einheit und Wegbereiter für den Fall des Eisernen Vorhangs.
Vom Bauernsohn zum Weltpolitiker
Michail Gorbatschow wurde am 2. März 1931 als Sohn von Bauern in Stawropol geboren. Nach der Schule, die er mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, studierte Gorbatschow Jura an der Lomonossow-Universität Moskau. Er sei "geistig unabhängig und selbstbewusst bis zur Arroganz" gewesen, schreibt sein Biograf William Taubman. Gorbatschow war bettelarm, er lief ohne Socken herum und wochenlang in einem Anzug. "Aber ich fühlte mich großartig", notierte Gorbatschow später. Bei einer Tanzveranstaltung lernte er 1952 die Soziologie-Studentin Raissa Titarenko kennen. "Wir waren uns von Anfang an über unsere Gefühle im Klaren", beschrieb Raissa später ihre erste Begegnung. "Ein Leben ohne den anderen war fortan nicht mehr möglich." 1953 heirateten beide und zogen vier Jahre später in Gorbatschows Heimatstadt, wo seine atemberaubende politische Karriere begann.
Parteisekretär in der Provinz: nah an den Menschen
Gorbatschow hatte das Studium mit Auszeichnung abgeschlossen und wollte Staatsanwalt in Moskau werden. Doch er wurde abgelehnt. In Stawropol aber gab es eine Stelle für ihn. Er bemerkte jedoch schnell, dass die Arbeit bei der Staatsanwaltschaft nichts für ihn war. Er beschloss stattdessen, in die Politik zu wechseln. Zunächst arbeitete Gorbatschow, der bereits mit 18 Jahren in die KPdSU eingetreten war, als Abteilungsleiter des Gebietskomitees, ab 1968 dann als KP-Chef von Stawropol. Er war ein ganz und gar ungewöhnlicher Parteisekretär. Gorbatschow unternahm oft Reisen in seiner Region und sprach mit Arbeitern und Bauern über deren Sorgen und Nöte. Wenn gerade kein Dienstwagen zur Verfügung stand, reiste der Parteichef auch auf der Ladefläche von Lastwagen oder ging zu Fuß. So etwas hatte es noch nie gegeben. Und die Leute schätzten Gorbatschow dafür.
Gorbatschow wird nach Moskau geholt
Allmählich wurde die Parteispitze in Moskau auf den unkonventionellen Bezirksfürsten aufmerksam, der zwar "kein Meisterstratege, aber doch ein brillanter Taktiker" war (William Taubman). Gorbatschow wurde ins Zentralkomitee der KPdSU berufen, eines der obersten Gremien im Mahtgefüge der Sowjetunion. Der KGB-Chef und spätere Breschnew-Nachfolger Juri Andropow wurde zu seinem Mentor. Gorbatschow fügte sich zunächst in die Welt der greisen Funktionäre ein. Es war ihm aber bereits vollkommen klar, dass Veränderungen in Partei und Staat dringend nötig sind, denn der fortschreitende Niedergang der UdSSR war nicht zu übersehen.
Glasnost und Perestroika
Im März 1985 wurde Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU gewählt. "Perestroika" (Umgestaltung) nannte der neue Parteichef seinen politischen Kurs. Der Hauptgrund für die Neustrukturierung: die desaströse wirtschaftliche Lage in der Sowjetunion. Kaum noch etwas funktionierte in dem kommunistischen Riesenreich. Gorbatschow war freilich klar: Um die Bevölkerung für die Umgestaltung zu gewinnen und zu mehr Leistungsbereitschaft zu animieren, muss die allmächtige Partei den Menschen mehr Mitsprache und Freiheit geben:
Nur durch Demokratie und Dank der Demokratie ist die Umgestaltung selbst möglich.
Michail Gorbatschow | Perestroika-Rede vom 27. Januar 1987
Neben "Perestroika" wurde "Glasnost" (Offenheit) deshalb zu einem prägenden Begriff seiner politischen Visionen. Gorbatschow lockerte die Reisebestimmungen, ließ mehr Meinungs- und Pressefreiheit zu, schränkte den staatlichen Einfluss auf Unternehmen ein und erlaubte es ausländischen Investoren, sich an sowjetischen Firmen zu beteiligen.
Gorbatschow treibt Abrüstung voran
Kurz nach seiner Amtseinführung gab Michail Gorbatschow bekannt, dass die UdSSR das "Streben nach militärischer Überlegenheit" aufgegeben habe. Die Streitkräfte der UdSSR würden fortan ausschließlich der Landesverteidigung dienen. 1987 unterschrieben US-Präsident Ronald Reagan und Michael Gorbatschow in Washington den INF-Vertrag. Der Vertrag verbot alle landgestützten konventionellen und nuklearen Raketen mit einer Reichweite von zwischen 500 und 5.500 Kilometern. Es war ein bahnbrechendes Abkommen, in dessen Folge eine ganze Gattung von Atomwaffen vernichtet wurde. 1991 paraphierten US-Präsident George Bush und Michail Gorbatschow den START-1-Vertrag, der eine Reduktion von see- und landgestützten Langstreckenwaffen vorsah. 1988 bereits hatte Gorbatschow die sowjetischenen Truppen nach einem neunjährigen blutigen Krieg aus Afghanistan zurückbeordert.
Einer der Väter der deutschen Einheit
Im Oktober 1989 reiste Gorbatschow zum 40. Jahrestag der DDR nach Ost-Berlin. "Gorbi" wurde von den DDR-Bürgern bereits seit Jahren als Hoffnungsträger gefeiert. "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben", soll er so oder wenigstens so ähnlich bei der Festveranstaltung im Palast der Republik vor den Granden des SED-Politbüros gesagt haben. Gut einen Monat später fiel die Berliner Mauer. Im Februar 1990 stimmte Gorbatschow bei einem Treffen mit Bundeskanzler Helmut Kohl im Kaukasus der deutschen Einheit zu. Der Kalte Krieg war damit beendet.
Putsch gegen Gorbatschow
Im August 1991 unternahmen Hardliner der KPdSU einen Putschversuch, um die Macht der Partei zu sichern und einen Zerfall der UdSSR zu verhindern. Gorbatschow wurde in seinem Ferienhaus auf der Krim festgesetzt. In Moskau wurden Truppen zusammengezogen und der Ausnahmezustand verkündet. Doch der Putsch scheiterte. Massenhaft gingen in Moskau und Leningrad Menschen auf die Straßen. Sie stellten sich auf die Seite der demokratischen Reformen. Boris Jelzin, damals schon Präsident der Russischen Föderativen Teilrepublik, stellte sich an die Spitze der Demonstranten und avancierte zu ihrem Sprachrohr. Am 22. August 1991 traf Gorbatschow wieder in Moskau ein. "Ich kehre in ein anderes Land zurück", sagte er. Einen Tag später sprach er vor dem russischen Parlament. Boris Jelzin unterbrach ihn plötzlich vor laufenden Kameras und unterzeichnete ein Dekret, das die KP in Russland verbietet. Es war eine Demütigung. Tags darauf legte Gorbatschow sein Amt als Generalsekretär der KPdSU nieder.
Das Ende der UdSSR
Am 21. Dezember 1991 unterzeichneten in der kasachischen Hauptstadt Alma Ata Boris Jelzin, Leonid Krawtschuk, Stanislaw Schuschkewitsch sowie der kasachische Präsident Nursultan Nasarbajew die Gründungsakte der "Gemeinschaft unabhängiger Staaten" (GUS), der insgesamt elf ehemalige Sowjetrepubliken beitraten. Zum Jahresende sollte die UdSSR aufhören, zu existieren. Michail Gorbatschow, der die Gründung der GUS heftig kritisierte, war nun ein einsamer Mann. Er war Präsident eines Landes, dass es eigentlich schon nicht mehr gab.
"Ich beende meine Tätigkeit..."
Am 25. Dezember 1991 verlas Gorbatschow im Fernsehen seine Rücktrittserklärung. Anschließend übergab er dem russischen Präsidenten Boris Jelzin den "Atomkoffer".
Ich beende meine Tätigkeit als Präsident der UdSSR. Ich bin überzeugt, dass unsere gemeinsamen Anstrengungen früher oder später Früchte tragen werden. Unsere Völker werden in einer blühenden und demokratischen Gesellschaft leben.
Am 31. Dezember 1991, Punkt Mitternacht, hörte die Sowjetunion auf zu existieren. Die rote Fahne auf dem Kreml wurde eingeholt und durch die russische Trikolore ersetzt. Michail Gorbatschow starb am 30. August im Alter von 91 Jahren in Moskau.
Gorbatschow: Totengräber der Sowjetunion?
Gorbatschow zog sich ins Privatleben zurück, mischte sich allerdings fortlaufend ins politische Tagesgeschehen ein: als Gastredner, Buchautor und Chef seiner 1992 gegründeten "Gorbatschow-Stiftung" für "sozialwirtschaftliche und politologische Forschung". Im Westen wird Gorbatschow bis heute hofiert und gefeiert. In Russland hingegen gilt er als "Totengräber der Sowjetunion". Russlands Präsident Wladimir Putin bezeichnete den Zerfall der UdSSR als "größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts". Und Schuld daran trage seiner Ansicht nach Gorbatschow mit seiner Reformpolitik.
Irritationen im Westen
In den letzten Jahren irritierte Gorbatschow den Westen jedoch ein ums andere Mal. Er verteidigte die russische Annexion der Krim, nannte die USA und deren Führungsanspruch eine "Seuche der Welt" und lobte Präsident Wladimir Putin als einen Mann, der die Interessen Russlands besser als jeder andere verteidige. Vielleicht aber sind jene Irritationen lediglich Ausdruck eines Missverständnisses: Freilich wollte Gorbatschow damals den Kalten Krieg beenden und dem atomaren Wettrüsten Einhalt gebieten. Die UdSSR und den Sozialismus hatte er aber keineswegs abschaffen wollen.
Jeder Reformer, schrieb Gorbatschow vor vielen Jahren einmal, sei im Grunde genommen unglücklich. 2015 sagte er in einem Gespräch mit dem "Spiegel" aber, dass er, wenn er auf sein Leben zurückblicke, doch "ein glücklicher Mensch" sei.
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 31. August 2022 | 19:30 Uhr