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EnteignungenStaatlicher Kunstraub in der DDR: Museen aus Sachsen-Anhalt vernetzen sich

20. Oktober 2022, 11:21 Uhr

In der sowjetischen Besatzungszone und der DDR wurden tausenden Menschen ihrer Kunst- und Kulturgüter wie Gemälde oder antike Möbel auf staatliche Anordnung beraubt. Längst sind nicht alle Stücke zu ihren rechtmäßigen Eigentümern bzw. deren Nachfahren zurückgekehrt. Vieles liegt immer noch in den ostdeutschen Museumsdepots – für die Fachleute eine Herausforderung, über die sie sich bei einem Fachtag in Magdeburg austauschen.

Kaum zu glauben, aber der Raub von Kulturgütern kann Menschen im Extremfall sogar in den Tod treiben. Diese Deutung liegt jedenfalls beim Bibliotheks- und Archivverwalter Karl Reulecke nahe, der sich 1950 in der geplünderten Orangerie in Wernigerode – dem einstigen Sitz des fürstlichen Archivs – erhängte. Der Sohn des Jagdaufsehers der fürstlichen Familie Stolberg-Wernigerode hatte seit 1919 in der "Fürst zu Stolberg-Wernigerodeschen Bibliothek" gearbeitet – einer altehrwürdigen Kultureinrichtung, deren Ursprünge bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. Mit geschätztern 4.000 Bänden gehörte sie damals zu den größten Privatbibliotheken. Der Bestand wuchs und wurde 1928 mit etwa 121.300 Bänden angegeben.

Selbstmord in der fürstlichen Bibliothek in Wernigerode

Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges musste die Bibliothek auf staatliche Anordnung schließen und fiel nach dem Kriegsende in die Hände der sowjetischen Besatzer. Im Zuge der Bodenreform wurde in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) das Vermögen der Fürstenfamilie entschädigungslos enteignet. Als im März 1946 Stalins "Trophäenjäger" die Bestände verstaatlichten, plünderten und etwa 50.000 Bücher zu unbekannten Zielen in der Sowjetunion verschleppten, konnte Reulecke seine einst verwalteten Schätze nicht schützen.

Als er dann hoffen konnte, es würde nicht mehr schlimmer kommen, wurde 1949 auch noch das gesamte Stolberg-Wernigerodesche Archiv aus der Orangerie beschlagnahmt und nach Oranienbaum gebracht. Reulecke dokumentierte das gründlich – und setzte seinem Leben am 24. Januar 1950 in der leeren Orangerie ein Ende. Die Umstände seines Todes sind nicht restlos aufgeklärt, doch ist es gut vorstellbar, dass die Zerstörung seiner geliebte Arbeitsstelle dazu beigetragen haben. Sicher, es ist ein besonders tagischer und ungewöhnlicher Fall – fest steht aber, dass der staatlich organisierte Kunst- und Kulturgutraub viele Schiksale beeinflusst hat.

In der SBZ und der DDR wurden tonnenweise Kunstgegenstände entschädigungslos enteignet und später gezielt nach Westdeutschland verkauft. Hier ist eine Lücke in den Biografien der Familien, Museen, Kommunen und der Identität unseres Landes entstanden. Deshalb ist es wichtig, sich damit zu beschäftigen.

Birgit Neumann-Becker, Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Raubkunst in ostdeutschen Museen

Nicht alles wurde aber in den Westen verkauft. Zahlreiche beschlagnahmte und entwendete Kunstgegenstände kamen auch in die Museen der DDR. Woher sie stammen und wem sie gehören, ist auch über drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung längst nicht bei allen Stücken bekannt. Heute wächst in den Museen das Bewusstsein für dieses Unrecht. Deshalb wird immer häufiger erforscht, woher die ausgestellten Gegenstände stammen und wie sie in die Sammlungen gekommen sind – in der Fachsprache "Provenienzforschung" genannt. Auch aus moralischen Gründen ist es vielen Einrichtungen ein Anliegen, die Geschichten der Objekte aufzuarbeiten.

In den Inventarbüchern steht oft: Übernahme, Übergabe, staatliches Eigentum. Und da fragt man sich, welcher Vorgang könnte da dahinterstecken?

Dr. Annette Müller-Spreitz, Koordinierungsstelle Provenienzforschung des Museumsverbands Sachsen-Anhalt

In der Öffentlichkeit verband man Provenienzforschung lange Zeit mit der Raubkunst aus der Zeit des Nationalsozialismus, beispielsweise Gemälden aus dem Besitz jüdischer Familien. Auch Kunstwerke aus kolonialen Kontexten stehen im Fokus. Der Kunstraub in der SBZ und DDR wird dagegen relativ selten öffentlich thematisiert. Viele Betroffene wussten lange oder wissen immer noch nicht, dass ihre Kunstwerke und Antiquitäten sich in Museumsdepots befinden.

Schlösser und Burgen als Schatzkammern

Im Zuge von Bodenreform, Entnazifizierung, Verstaatlichung und anderen Zwangsmaßnahmen bereicherte sich der Staat am Privateigentum der Bürger. Bei den enteigneten Kulturgütern in der SBZ und der DDR handelt es sich beispielsweise um Kunstwerke wie Gemälde und Figuren, Porzellan, Münzen, Teppiche, Kronenleuchter, Bücher, Möbel und andere Antiquitäten.

Eine erste Enteignungswelle brachte die Bodenreformen von 1945. Die Enteignung betraf nicht nur Grund und Boden, sondern auch Burgen, Schlösser und Herrenhäuser. Allein in Sachsen-Anhalt waren das rund 2.500 Gebäude mitsamt Inventar, also mit Kunstgegenständen, Möbeln, Geschirr, aber auch ganzen Bibliotheken und Archiven. Sie wurden größtenteils in das dafür eingerichtete Zentraldepot in die Moritzburg in Halle gebracht. Auch das Schloss Wernigerode diente als Lager.

Fachtag zum Kulturgutentzug in Sachsen-Anhalt

Inzwischen vernetzen sich Museumsleute und Kunstexperten, um dieses Kapitel der DDR-Geschichte aufzuarbeiten, zumindest für das Gebiet von Sachsen-Anhalt. Gerade kleinere und mittlere Museen brauchen Unterstützung bei der Provenienzforschung. Dafür treffen am 20. Oktober 2022 erstmals Vertreter unterschiedlicher Disziplinien aus Mitteldeutschland im Magdeburger Kunstmuseum zusammen: Wissenschaftler, Politiker, Mitarbeiter von kleinen und großen Museen und Behörden, beispielsweise vom Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen. Der Anstoß kam von Dr. Annette Müller-Spreitz vom Museumsverband Sachsen-Anhalt und Birgit Neumann-Becker, der Beauftragten des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

Mein Anliegen ist es, auf die Themen Kulturgutverlust und Provenienzforschung aufmerksam zu machen. Wir möchten Kontaktmöglichkeiten schaffen und im nächsten Schritt schauen, wo Vernetzung und Zusammenarbeit hilfreich sind.

Birgit Neumann-Becker, Beauftragte des Landes Sachsen-Anhalt zur Aufarbeitung der SED-Diktatur

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung ist wichtig, damit die Wege der Objekte nochmal sauber und faktenbezogen nachgezeichnet und die Entzugsmechanismen aufgearbeitet werden. Es gibt dazu auch sehr viel Aktenmaterial, was man auswerten kann.

Dr. Annette Müller-Spreitz, Koordinierungsstelle Provenienzforschung des Museumsverbands Sachsen-Anhalt

Rückgabe von DDR-Raubkunst in Sachsen-Anhalt

In Sachsen-Anhalt wurden seit der 1990er-Jahren schon Zehntausende Objekte zurückgegeben. Die erste Rückgabe im Bundesland erfolgte 1997 auf Schloss Wernigerode. Ebenso gab das Kunstmuseum Moritzburg in Halle einige größere Konvolute, wie eine Ahnengalerie, an die rechtmäßigen Eigentümer zurück. Einige der zurückübertragenen Kunstwerke kauften Museen auch zurück, um sie der Öffentlichkeit weiterhin präsentieren zu können – so zum Beispiel ein Porträt des Generalfeldmarschalls Gneisenau, das seinen Nachfahren bei der Bodenreform im Herbst 1945 weggenommen wurde. Im Jahr 2000 erhielten die Erben die besitzrechte daran zurück, 2014 kaufte das Museum das Bild rechtmäßig. Trotz dieser Rückgaben gibt es in den Museen von Sachsen-Anhalt noch viele Objekte, die mutmaßlich aus Privatbesitz stammen, deren Herkunft aber nicht ausrechend geklärt ist.

Im Schloss Bernburg gab es 31 Objekte aus einem Flüchtlingsrücklass 1953, vor allem Gemälde aus dem Ende des 20. Jahrhunderts auf Leinwand in schönen Keilrahmen, Meissener Porzellanfiguren, ein Weihrauchkessel und Möbelstücke, wie einen Armlehnenstuhl und eine kleine Kommode. Hier hat niemand Ansprüche erhoben. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Familie das Vergessen hat oder nicht ahnt, dass da etwas im Museum ist.

Dr. Annette Müller-Spreitz

Verschiedene Produkte der Meißner Porzellan-Manufaktur 1985. Bildrechte: IMAGO / Werner Schulze

Wernigerode-Bibliothek in Hessen neu gegründet

Die Erforschung der Verluste der "Fürst zu Stolberg-Wernigerodeschen Bibliothek" steht unterdessen noch am Anfang. Seit der Wiedervereinigung engagierte sich Fürst Philipp zu Stolberg-Wernigerode für die Neugründung der Bibliothek. Nach zahlreichen Rückgaben der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt sowie von Privatpersonen und Antiquariaten konnte die private fürstliche Bibliothek im hessischen Hirzenhain 2019 wieder eröffnet werden. Ihr Fokus liegt auf Theologie und Kirchengeschichte. Zudem beherbergt sie einen regional- und familiengeschichtlichen Bestand.

Doch dass die Bestände den alten Glanz wiederreichen können, sit fraglich, denn zehntausende Bände der einstigen Sammlung befinden sich als Beutekunst in Russland und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion.