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Anwälte in der DDR: Dem Staat treu, nicht dem Mandanten

09. März 2018, 16:51 Uhr

Der Berliner Historiker Christian Booß hat eine ausführliche Studie zur Funktion und Tätigkeit von Anwälten in politischen Gerichtsprozessen der DDR vorgelegt. Im ZEITREISE-Interview erläutert er, welchen Einfluss die Anwälte auf Prozessergebnisse hatten, wie sehr sie in das System der IM eingebunden waren und warum die niedrige Zahl von 600 Anwälten für die gesamte DDR ausreichte.

Herr Booß, welche Rolle spielte der Anwalt im juristischen System der DDR?

In politischen Verfahren – und das war entsprechend den Aufgaben der Stasiunterlagenbehörde der Kern meiner Untersuchung – sieht man, dass der Anwalt in der DDR eher im Sinne des Staates, denn im Sinne seines Mandanten handeln sollte. Im Grunde genommen wurde in politischen Strafverfahren von einem sozialistischen Anwalt erwartet, dass er nicht zu viel tut, dass er im Verfahren möglichst wenig Fragen und Beweisanträge stellt, seinen Mandanten, den Angeklagten, möglichst nicht überredet, wenn er ein Geständnis abgelegt hat, dieses zu widerrufen. Wenn dieser schwieg, sollte der Anwalt ihn möglichst motivieren, doch mit dem Staatsanwalt und dem Gericht zusammenzuarbeiten. Der sozialistische Anwalt sollte also nicht das Gericht oder das Verfahren an sich in Frage stellen, sondern im Gegenteil seinem Mandanten zureden, dass das alles im Prinzip seine Ordnung hat. Er trat also im Durchschnitt eher deutlich zurückgenommen auf. 

Grundsätzlich sollte ein Anwalt Loyalität gegenüber der DDR und der SED sehr viel weitgehender an den Tag legen als in der Bundesrepublik. Natürlich geht man auch in der Bundesrepublik davon aus, dass ein Anwalt nicht die Gesetze bricht und auch nicht seinen Mandanten berät, wie er am besten das Gesetz aushebelt. Was man aber nicht erwartet ist, dass ein Anwalt in der Bundesrepublik seinen Mandanten dazu erzieht, dass er das Gesetz einzuhalten und dem Staat Folge zu leisten hat. Genau das aber erwartete die SED und das Justizministerium von den Anwälten der DDR. Sie sollten eine rechtspädagogische Funktion ausüben, bei Rechtsberatungen, als ihr Rechtsvertreter bzw. Verteidiger den Bürgern nahe bringen, die "sozialistische Gesetzlichkeit", wie das damals hieß, zu respektieren.

Hatte der Verteidiger dann überhaupt einen Einfluss auf den Prozessausgang? Konnte ein sehr guter Anwalt etwa die drohende Strafe wesentlich abmildern?

In Verfahren der politischen Justiz war der Einfluss der Anwälte relativ gering. Ich habe die Anträge der Staatsanwaltschaft mit den Urteilen der Gerichte in über 1000 Fällen verglichen. Im Gegensatz zu dem, was man über die 1950er-Jahren sagt, gab es in den 1970er- und 80er-Jahren eine nur geringe Abweichung von etwas mehr als drei Prozent, was nicht sehr viel ist. Also das Urteil lag im Durchschnitt knapp unter dem Vorschlag des Staatsanwaltes. Möglicherweise lag das auch ein wenig am Einfluss des Anwalts. Vielleicht war es aber auch ein abgekartetes Spiel, in dem der Richter etwas abweicht, damit der Prozess nicht wie eine Inszenierung aussieht und jeder der Beteiligten ein bisschen seine Rolle deutlich machen kann.

Der Einfluss des Anwaltes auf den Ausgang der politischen Verfahren war in der Regel doch eher gering. Das machte den menschlichen Kontakt zwischen Anwalt und Mandanten umso wichtiger. Denn oftmals war der Anwalt die einzige Person, die ein Angeklagter in der Untersuchungshaft zu sehen bekam, wo er von der Stasi bewusst isoliert wurde. Das war ja der Trick der Stasi in der späten DDR: Sie folterte nicht, aber sie isolierte die Häftlinge, um sie zu brechen, und deswegen war für diese jeder menschliche Kontakt von außen so wichtig. Aber ich bin mir nicht sicher, ob alle Anwälte dieser Anforderung gerecht geworden sind. Manche haben diese Situation ja sogar perfide ausgenutzt und dann als IM ihre Mandanten ausgehorcht und das Wissen an die Stasi weitergegeben. Das ist dann natürlich ein ganz schäbiges und trauriges Kapitel.

Wie stark waren die Anwälte in das System der "IM", der inoffiziellen Mitarbeiter der Staatssicherheit, integriert?

Die Anwälte waren als Informanten für die Stasi besonders interessant, weil sie sehr viele Kontakte hatten. In der Regel waren das ja gut gebildete, intelligente, kommunikative Menschen, die ja auch relativ viel Geld verdienten. Sie hatten also auch im privaten Bereich durchaus interessante gesellschaftliche Beziehungen. Insofern liegt die Anwerbungszahl laut Stasi-Definition bei den Anwälten deutlich über dem Durchschnitt der Bevölkerung. In Berlin waren fast 35 Prozent der Anwälte in einer bestimmten Phase ihres Lebens als IM o.Ä. bei der Stasi registriert. In den Bezirken war das ungefähr die Hälfte dessen, etwas mehr als 15 Prozent. Solche hohen Zahlen sind ja auch in den 1990er-Jahren im Zuge der Anwaltsüberprüfung genannt worden.

In Berlin haben also 35 Prozent der Anwälte Informationen zu ihren Mandanten an die Stasi weitergegeben?

Nein, das nicht. Das wäre eine verkürzte Schlussfolgerung. Viele dieser Juristen waren "nur" vor oder nach ihrer Anwaltstätigkeit IM: beim Militär in der Ausbildung oder bei Vorberufen. Oder während der Anwaltstätigkeit, jedoch bei Themen, die eigentlich mit ihrem Kerngeschäft überhaupt nichts zu tun hatten. Es sind letztlich nur wenige Anwälte gewesen, die über ihre Mandanten geredet haben und noch weniger, die das regelmäßig taten. Insofern muss man zweifach antworten: Die Rechtsanwälte waren eine interessante Gruppe für die Stasi, aber man kann nicht daraus schließen, dass die Stasi systematisch mittels IM-Anwalt die Justiz gesteuert hat, nicht einmal die politische Justiz. So weit geht das dann wiederum nicht.

Sie schreiben in Ihrem Buch, dass sich die Zahl der Anwälte in der DDR seit der Gründung des Staates bis zu seinem Untergang stark reduziert hat. In den 80er-Jahren gab es dann rund 600 Anwälte auf 16 Millionen Einwohner. Ist das nicht ein bisschen wenig?

Es war in der DDR gar nicht so üblich, wie heutzutage in der Bundesrepublik, dass man sich in juristischen Konfliktfällen gleich einen Anwalt nahm. Nach dem Staatsverständnis der SED war das auch gar nicht nötig. Denn angeblich war ja im Sozialismus, neben ökonomischen Widersprüchen, auch der Widerspruch zwischen Staat und Individuum aufgehoben. Insofern ging man davon aus, dass beispielsweise im Strafverfahren der Richter und der Staatsanwalt per se schon die Interessen des Angeklagten mitvertreten können. Es gab sogar das Kuriosum, dass ein Mensch zu seinem Richter gehen und sich von ihm beraten lassen konnte, was nach unserer heutigen Vorstellung von einem unabhängigen Richter ein vollkommenes Unding ist. In der DDR aber war das durchaus üblich, was insgesamt zur Folge hatte, dass sich wesentlich weniger Leute einen Anwalt nahmen als in der Bundesrepublik. Es gab auch viele Strafverfahren, die ohne Anwalt durchgezogen wurden. Selbst bei politischen Prozessen der 1970er- und 1980er-Jahre, die ich untersucht habe, sind ungefähr 17 Prozent ohne einen Anwalt über die Bühne gegangen.

Zur Person:Christian Booß ist 1953 in Berlin geboren. Er studierte an der Freien Universität Geschichte und Germanistik, arbeitete danach als Rundfunk- und Fernsehjournalist, bis er 2001 als Pressesprecher zur Stasi-Unterlagenbehörde wechselte. Booß ist heute Projektkoordinator in der Forschungsabteilung der BStU.

Seine Studie zum Thema erschien unter dem Titel "Im goldenen Käfig" im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Preis 45 Euro.

Über dieses Thema berichtete der MDR auch im TV:14.01.2018 | 20:15 Uhr