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Umgang mit KolonialgeschichteDas Koloniale Erbe Thüringens

07. Februar 2023, 11:15 Uhr

Nicht nur in den großen Hansestädten gibt es koloniale Spuren, auch in Thüringen finden wir welche. Wir sprachen mit Dr. Florian Wagner, Historiker zur Geschichte des Kolonialismus an der Universität Erfurt und in Leitung der Koordinationsstelle koloniales Erbe Thüringen (KET).

Was bedeutet koloniales Erbe?

Es geht zunächst um materielles und kulturelles Erbe. Das materielle Erbe ist, dass sich unsere Vorfahren Ressourcen unrechtmäßig angeeignet und diese ausgebeutet haben. Wir profitieren heute mehr oder weniger noch davon, aber für die Kolonisierten ist dieses Erbe eine strukturelle Last, die teils bis heute ein menschenwürdiges Leben verhindert.

Ähnlich ist es mit dem kulturellen Erbe, durch welches die Kolonialzeit systematisch verklärt wird. Das äußert sich nicht nur in historischer Literatur, sondern auch in unserer Kultur, Sprache, sowie teilweise in der Architektur und in den Stadtbildern. […] Das Erbe reicht von der Rechtfertigung der Versklavung und Ausbeutung von Menschen, über die Erniedrigung von Menschen in Literatur, Liedern und Filmen, bis hin zur Akzeptanz von Eroberungskriegen und Völkermorden.

Welche Probleme bereitet das koloniale Erbe Thüringens?

Da kann ich jetzt nur ein Beispiel von vielen nennen. 50 % der Museen in Thüringen haben angegeben, dass sie Bestände aus kolonialen Kontexten haben. Die Dunkelziffer ist noch viel höher, weil die meisten gar nicht genau untersucht haben, woher ihre Objekte stammen. […] Abgesehen von Eigentumsfragen spiegeln Ausstellungsformen vieler Museen die Perspektive der weißen Europäer wider, welche Gewalt, Brutalität und auch Ungerechtigkeit verschweigen und die Kolonisierten als primitiv darstellen. Man kann sich dann nicht darauf berufen, das sei eben der "Geist der Zeit" gewesen. Das stimmt erstens nicht und zweitens hat sich bis heute an solchen Darstellungsformen wenig geändert.

Insgesamt ist aber das koloniale Erbe nicht nur ein Problem sondern auch eine Chance, sich endlich mit dem Kolonialismus auseinanderzusetzen und zum Beispiel mehr über Raubgut in Museen zu erfahren.

Ein Beispiel aus dem Alltag sind Straßen, die umbenannt werden sollen, weil der Name kolonial belastet ist. Wie stehen Sie dazu?

Straßenumbenennungen stoßen teilweise auf Widerstand, weil sie einen Eingriff in Alltagsgewohnheiten darstellen und auch mit Kosten verbunden sein können. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es andere Gründe gibt, dagegen zu sein. Wer ist denn dagegen, eine Straße umzubenennen, die Menschen ehrt, welche Versklavung befürwortet haben oder in den Kolonien sehr gewalttätig vorgegangen sind, wie Hermann von Wissmann, der als Erfinder des Maschinengewehr-Massakers gilt und übrigens in Erfurt zu Schule ging?

Eine gut geplante und kommunizierte Umbenennung sehe ich als einmalige Chance für die Stadt und die Anwohner, sich auch an Geschichtsaufarbeitung zu beteiligen, "Geschichte zu machen" und vielleicht so ein Stück Gerechtigkeit wiederherzustellen. So eine Chance hätte man gar nicht, wenn die Straßennamen nicht problematisiert würden.

Wie weit ist Thüringen mit der Aufarbeitung seines kolonialen Erbes?

Ich finde, dass teilweise schon viel getan wurde. Vielleicht ist Thüringen in der Hinsicht spezifisch, da man sich schon zu DDR-Zeiten mehr mit dem Thema beschäftigt hat als zum Beispiel in Westdeutschland. Das liegt auch daran, dass die deutschen Kolonialarchive in der DDR waren und man aus politischen Gründen Interesse an der Thematisierung der Kolonialvergangenheit hatte, wenn auch in einer instrumentalisierten Form des unspezifischen Kampfes gegen den Imperialismus. Aber selbst nach der Wende sind Wissenschaftler wie Larissa Förster bei der Beschäftigung mit "Human Remains" an der Universität Jena vorangeprescht. Vor Kurzem wurden aus Jena noch Gebeine an eine Community in Hawaii zurückgegeben, was an Restitution eigentlich schon sehr progressiv ist.

Dann gibt es natürlich die jüngere Diskussion, welche die "Decolonize-Initiativen" in Erfurt, Weimar und Jena losgetreten haben, um Stadtbild, Architektur und Straßennamen. Überall ist noch viel zu tun, aber man startet nicht von null. Unausgeschöpft ist das Potenzial auch noch bei der Beschäftigung mit der klassischen Kolonialgeschichte, die weniger sichtbar ist und nur in Kooperation mit Menschen aus den ehemaligen Kolonien geschrieben werden kann.

zur Person Dr. Florian WagnerDer Historiker Dr. Florian Wagner forscht als akademischer Rat auf Zeit zur Geschichte des Kolonialismus an der Universität Erfurt. Er ist Leiter der Koordinationsstelle koloniales Erbe Thüringen (KET).

Koordinierungsstelle für koloniales Erbe Thüringen (KET)Die wissenschaftliche Koordinierungsstelle für koloniales Erbe Thüringen ist an den Universitäten Jena und Erfurt angesiedelt. Sie existiert seit Dezember 2021. Aufgabe der Koordinierungsstelle ist es, den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Austausch über das "Koloniale Erbe" Thüringens zu fördern und seine vielfältigen Dimensionen zu beleuchten. Die Koordinierungsstelle bietet Workshops für Schulen und Multiplikatoren an. Für 2023 ist eine Veröffentlichung geplant, in der theoretische Überlegungen, historische Fallstudien, Objektgeschichten und graphische Interventionen kombiniert werden. Abgesehen von Blogbeiträgen auf der Webseite entsteht in den kommenden Jahren auch ein Sammelband, der das koloniale Erbe in Thüringen systematisch untersucht.