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Wissenschaftler und Nobelpreisträger Paul Ehrlich (1854-1915) entwickelte das Mittel Salvarsan gegen die Krankheit Syphilis und gilt dadurch als Begründer der Chemotherapie. Bildrechte: imago images/Everett Collection

MedizingeschichteHochgiftig, aber heilend: Salvarsan gilt als erstes Mittel gegen Syphilis - in Magdeburg und Stendal getestet

23. November 2021, 16:08 Uhr

Die bakterielle Erkrankung Syphilis hält die Wissenschaft vor gut 100 Jahren in Atem. Erstmals gelingt es dem Mediziner Paul Ehrlich, ein Gegenmittel zu entwickeln. Am 3. März 1910 wird "Salvarsan" in Magdeburg vorgestellt. Seine Einführung liest sich wie eine Blaupause des heutigen Kampfes um einen Corona-Impfstoff.

von Elisabeth Lehmann

Acht Reichsmark kostet die Herstellung eines Kilogramms "Salvarsan" im Jahr 1910. Verkauft wird das Wundermittel gegen die bakterielle Krankheit Syphilis für 16.000 Reichsmark. Als Begründung führt "Salvarsan"-Erfinder, der Mediziner Paul Ehrlich, die "umfangreichen Vorarbeiten, die fortlaufende Laboratoriumsarbeit und die subtile Fabrikation in den Farbwerken Hoechst" an. Die Presse wirft ihm damals persönliche Bereicherung vor.

Salvarsan ist ein knappes Gut zu der Zeit. Ein Hauen und Stechen um eine Dosis des Mittels beginnt nicht nur unter deutschen Syphilis-Erkrankten. Ehrlich nutzt zunächst das Netzwerk seiner Kollegen, um das neue Arzneimittel an deren Patienten zu prüfen. Auch das ist ein gefundenes Fressen für die Presse, die Ehrlich beschuldigt, Günstlingswirtschaft zu betreiben.

Die Hoffnung im Kampf gegen die "Franzosenkrankheit" und "Lustseuche" Syphilis: Ein Aushang zur Markteinführung des Mittels Salvarsan. Bildrechte: imago/Bernd Friedel

Salvarsan wird zum Spielball der internationalen Politik

Syphilis gilt zu der Zeit als Volksseuche und tritt fast weltweit auf. Doch nur Ehrlich hat ein wirklich wirksames Mittel dagegen gefunden. International wird das Medikament daher schnell zum Spielball der Politik. Während des Ersten Weltkriegs verhängt Deutschland ein Ausfuhrverbot nach Frankreich und England. Die Länder sollen sich selbst um eine Arznei bemühen.

Rückblickend weist die Einführung von Salvarsan erstaunliche Parallelen zu heutigen Debatten rund um den Corona-Impfstoff auf. Bei vielen Menschen löst Salvarsan damals ebenso Angst aus wie heute die völlig neu entwickelten mRNA-Impfstoffe. Kein Wunder, schließlich ist es das erste gezielt wirkende Chemotherapeutikum – eine Revolution unter den Heilmitteln. Es besteht aus Arsen, einem hochgiftigen chemischen Stoff, der zwar erfolgreich die Bakterien abtötet, die Syphilis verursachen, aber starke Nebenwirkungen hat. Durch die Presse geistern viele Berichte von allergischen Reaktionen, darüber, dass Patienten erblindet seien, sogar von Todesfällen ist die Rede. Doch Ehrlich bleibt dabei: Das Risiko durch Salvarsan sei beherrschbar – und die Nebenwirkungen im Vergleich zu den Schäden, die Syphilis anrichtet, akzeptabel.

Syphilis beginnt mit Geschwüren und endet mit dem Tod

Über die Ursprünge der Syphilis gibt es viele Theorien. Eine davon: Die Flotte des Entdeckers Christoph Kolumbus soll die Seuche Ende des 15. Jahrhunderts mit nach Europa gebracht haben. Verbreitet hat sie sich wohl aber durch den Krieg zwischen Italien und Frankreich zu dieser Zeit. Die Söldner des Königs von Frankreich, Karl VIII., waren für ihren ausschweifenden Lebenswandel bekannt, und Syphilis wird vor allem durch Geschlechtsverkehr übertragen. Nach dem Ende des französischen Feldzugs gegen Italien verstreuten sich die Söldner über ganz Europa – und mit ihnen der Syphilis-Erreger. Zu den damals bekannten Symptomen zählen vor allem die Geschwüre. Später, so die Erkenntnisse der Folgejahre, befällt die Krankheit auch das Gehirn und das Nervensystem, führt zu Lähmungen und Demenz und oft auch zum Tod. Viele Infizierte fristeten ihr umnachtetes Dasein in Heilanstalten.

Syphilis-Medikament: Menschenversuche in Stendal und Magdeburg

Eine davon steht in Uchtspringe, einem Ortsteil von Stendal in Sachsen-Anhalt. Kurz nach der Entdeckung von Salvarsan sucht Paul Ehrlich nach Möglichkeiten, das Präparat am Menschen zu testen. Konrad Alt, der damals die Heil- und Pflegeanstalt in Uchtspringe leitet, erklärt sich bereit, seine Patienten zur Verfügung zu stellen. Viele von ihnen waren in Folge einer Syphilis-Erkrankung gelähmt. "Über sie hatte man absolute Verfügungsgewalt, sie waren im Rahmen des Experiments kontrollierbar und ihr Tod erschien gesellschaftlich vertretbar", schreibt Axel C. Hüntelmann in seiner Abhandlung zu Arzneimitteln des 20. Jahrhunderts. Ergebnis der Studie in Uchtspringe, die Alt am 3. März 1910 vorstellt: 23 Kranken wurden 0,3 Gramm von Salvarsan injiziert. Die Nebenwirkungen stellten sich als gering heraus. Die "dosis tolerata efficiens" ist gefunden. Zur Bestätigung wird diese "geeignete Dosis" noch einmal an Probanden im Altstädtischen Krankenhaus Magdeburg getestet – auch dort mit positiven Ergebnissen.

Es ist ein Durchbruch im Vergleich zu früheren Behandlungsmethoden. Bis dahin galt das Einreiben mit Quecksilber als aussichtsreichste Kur. Die schlimmsten Symptome der Syphilis waren die Infizierten danach erst einmal los. Leider aber auch Haare und Zähne aufgrund einer Quecksilber-Vergiftung.

Viele Berümtheiten litten an Syphilis

Der Schriftsteller Oscar Wilde soll unter Syphilis gelitten haben, aber auch der Philosoph Arthur Schopenhauer. Der Humanist Ulrich von Hutten, so ist überliefert, hat die qualvolle Syphilis-Kur elf Mal über sich ergehen lassen. Über eine soll er geschrieben haben:

Die Kranken wurden in eine Hitzstube eingeschlossen, die ununterbrochen und sehr stark geheizt wurde. Kaum lag der Kranke in der Schmiere, so begann er sich in einer seltsamen Weise matt zu fühlen. Allen schwärten Rachen, Zunge und Gaumen, das Zahnfleisch schwoll an, die Zähne wackelten, der Speichel floss ohne Unterlass aus dem Mund, gleich von Anfang an furchtbar stinkend und so ansteckend, dass er alles sofort verunreinigte und besudelte. Daher wurden auch die damit benetzten Lippen geschwürig und die Innenseite der Wangen wund. Es stank die ganze Wohnung, und diese Art der Kur war so hart, dass die meisten lieber sterben als dass sie auf solche Weise kuriert werden wollten.

Ulrich von Hutten über Syphilisbehandlung

Heute wird Syphilis meist mit Penicillin behandelt, Salvarsan wird nicht mehr eingesetzt. In der Schlussbemerkung seiner Abhandlungen über Salvarsan aus dem Jahr 1913 schreibt Paul Ehrlich: "Es ist ja selbstverständlich, dass die vollständige Beherrschung eines Medikaments nur schrittweise gewonnen werden kann. Es werden sich wohl im Laufe der Zeit noch viele Punkte klären, die heute noch in Dunkel gehüllt sind." Und so war es auch. Auch wenn Salvarsan abgelöst wurde; bis heute gilt das "heilende Arsen" als Grundlage der modernen Chemotherapie.

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