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Anton Günther beim Musizieren Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Darf man das noch singen?Deutsch und frei: Heimatlied und "Hymne" des Erzgebirges

22. Dezember 2022, 15:52 Uhr

Anton Günthers "Deitsch on frei woll'n mer sei" von 1908 gilt bis heute als heimliche Hymne des Erzgebirges. Doch bereits von den Nationalsozialisten, wie auch später von Neonazi-Gruppen ist das Lied instrumentalisiert worden. Aktuell wird es auch bei den Domonstrationen gegen die Energiekrise und auch den noch immer stattfindenden "Coronaspaziergängen" gesungen. Welche Geschichte steckt hinter dem Lied?

von Nicolá Ramminger

Im Erzgebirge ist man stolz auf die Traditionen, die Volkskunst und - mal mehr, mal weniger - auf die Mundart. Der Mundart ein Denkmal gesetzt hat in seinen Liedern Anton Günther. Viele seiner fast 200 Heimatlieder zählen bis heute zum Repertoire mundartlicher Gesangsgruppen. Inhaltlich geht es dabei um das Lob des Erzgebirges, seiner Menschen und deren Stärken und Schwächen und Gottesfürchtigkeit, um die erzgebirgische Natur und um ortsübliche Berufe. Der Liedtext ruft aber auch zur Bewahrung des "Deutschtums" auf. 

Ein Loblied auf die Heimat

In seinem wohl berühmtesten Lied "Deitsch on frei woll'n mer sei" von 1908 heißt es unter anderem: "..denn's is ja doch es beste, es allerhöchste Gut, onnrer alten deitschen Haamit gilt dr letzte Troppen Blut. Deitsch on frei woll'n mer sei on do bleib'mer ah derbei, weil mer Arzgebirger sei!" (Es ist ja doch das beste, das allerhöchste Gut. Unserer alten deutschen Heimat gilt der letzte Tropfen Blut. Deutsch und frei wollen wir sein und da bleiben wir auch dabei, weil wir Erzgebirger sind.)

Vereinnahmung durch NPD

Die rechtsextreme sächsische NPD versuchte im Wahlkampf 2013, Anton Günther zu vereinnahmen. Seine Erben wehrten sich dagegen. In einem Artikel der Freien Presse wird in dem Zusammenhang die Enkelin des Dichters, Ingrid Riedmeier, zitiert: "Wir betrachten sein Bild auf dem Wahlplakat in Verbindung mit dem Slogan 'Unser Anton würde NPD wählen' als Verunglimpfung seines Andenkens. Wir verurteilen eine derartige Wahlwerbung auf das Schärfste", sagte die damals 72-Jährige in dem Artikel vom 18. September 2013.

Interview mit Steffen Kindt vom Erzgebirgsensemble Aue

Steffen Kind beschäftigt sich intensiv mit dem Leben und Werk Anton Günthers. Bildrechte: privat

Darf das Lied heute noch gesungen werden?
Steffen Kindt: Wir haben das Lied im Repertoire, überlegen uns aber ganz genau, wann und wo wir es singen. Wenn, dann immer nur im Kontext mit den Erklärungen zur Entstehungszeit, zum Beispiel zu den alle fümf Jahre in Aue stattfindenden Konzerten zum Geburtstag des Heimatdichters. Seit dem Vereinnahmungsversuch durch die NPD 2013 sind wir diesbezüglicher noch sensibler geworden.

War das Lied zu DDR-Zeiten verboten?
Steffen Kindt: Nein. Es war nicht gern gehört, aber verboten war es nicht. Dennoch war es ein Politikum, weil es von den Nazis missbraucht worden ist und politisch belastet war.

Was empfinden Sie, wenn das Lied heute bei Neonazikonzerten oder aktuell Corona-Spaziergängen gesungen wird?

Steffen Kindt: Wir stellen uns deutlich gegen den Missbrauch des Liedes und verweisen auf den kulturhistorischen Zusammenhang. Außerdem stehe ich im Kontakt mit den Erben Anton Günthers. Anton Günther war ein eher unpolitischer, vielmehr harmoniesüchtiger Mensch und thematisiert in seinen Liedern die Liebe zur Heimat und den Menschen. Die heutige politische Vereinnahmung hat nichts mit der Erberezeption, die wir als Erzgebirgsensemble betreiben, zu tun.

(Anmerk. d. Red.: Erberezeption bedeutet Aufführung im korrekten historischen und politischen Zusammenhang.)

Steffen KindtDer studierte Kulturwissenschaftler Steffen Kindt ist seit 1980 Mitglied des Erzgebirgsensembles Aue als Trompeter und Sänger. Der Anton-Günther-Kenner übernahm 1989 die Leitung des weit über die Grenzen des Erzgebirges hinaus bekannten Ensembles. Nach Ende der Trägerschaft des ehemaligen Landkreises Aue-Schwarzenberg gründete der 1965 in Stollberg geborene Kindt 1999 die "Erzgebirgsensemble GmbH Aue" und wird dabei vom Kulturraum Erzgebirge-Mittelsachsen unterstützt. Kindt ist geschäftsführender Gesellschafter und künstlerischer Leiter der GmbH.

So entstand das erzgebirgische Mundartlied

So sehen die Liedpostkarten von Anton Günther aus. Auf dieser kann man Text und Melodie von "Deitsch on frei woll'n mer sei" lesen. Bildrechte: Steffen Kindt

Um Anton Günthers Lieder wirklich zu verstehen, muss man in die Geschichte schauen. Der Volksdichter wird 1876 in Gottesgab, dem heutigen Boží Dar in Böhmen, geboren. Als Deutscher von der böhmischen Seite des Erzgebirgskamms verschlägt es ihn nach seiner Lehre für mehrere Jahre nach Prag. In der Stadt bekommt er Heimweh. So trifft er sich regelmäßig mit anderen Gottesgabern und böhmischen Erzgebirgern, die wie er in Prag leben. Wer in dieser Runde hochdeutsch spricht, muss einen kleinen Betrag Strafe zahlen. So gelingt es, die Sprache und traditionelle Mundart zu sprechen und zu pflegen. Nur an Liedern in erzgebirgischer Mundart mangelt es. So wird Anton Günther kurzerhand zum Mundartdichter. Seine Gedichte und Lieder drücken eine tiefe Verbundenheit und Zuneigung für seine Heimat aus. Ganz nebenbei erfindet er die Liedpostkarte - schließlich ist er gelernter Lithograph. Vor allem durch diese kunstvoll gestalteten Postkarten werden seine Lieder schnell verbreitet und bekannt.

Heimliche "Erzgebirgshymne": Entstehung vor dem 1. Weltkrieg

Nach seiner Rückkehr in die erzgebirgische Heimat lebt er fortan mit großem Erfolg von seiner Kunst. Er tritt beispielsweise in Wirtshäusern und bei Vereinen auf, lange bevor der Nationalsozialismus die Welt in Krieg und Elend stürzt. Sein Erzgebirgslied mit der Aussage "Deitsch on frei woll'n mer sei!" entsteht, wie schon erwähnt, bereits 1908. Er reagiert mit diesem Lied auf die sich schon damals - nämlich vor dem ersten Weltkrieg - abzeichnenden Spannungen zwischen der deutschen Minderheit in Böhmen und den anderen dort ansässigen Volksgruppen. Besondere Resonanz findet die "Erzgebirgshymne" dann nach dem ersten Weltkrieg in dem sich weiter verschärfenden Nationalitätenkonflikt nach Gründung der Tschechoslowakei. Ab 1918 gehört Günthers Geburtsort Gottesgab zur Tschechischen Republik, die Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen nehmen zu. Damals verschlechterten sich die Bedingungen für nationale Minderheiten, wie z.B. den Sudetendeutschen, im Vergleich zu den Tschechen und Slowaken sehr. Die Deutschen werden nun per Gesetz benachteiligt.

Missbrauch durch rechte Gruppen und Corona-"Spaziergänger"

Das Lied wurde von völkischen Gruppen, wie der sudetendeutschen Henlein-Bewegung, und später von den Nationalsozialisten zu Zwecken der Propaganda instrumentalisiert. Bereits 1936 wird der mittlerweile 60-jährige Künstler von den damals aufstrebenden deutschen Nationalsozialisten und der NSDAP umworben. Darauf lässt er sich jedoch nie ein. Bis heute wird das Lied zum aggressiven Bekenntnis der eigenen Nationalität beispielsweise bei Pegida und den sogenannten Coronaspaziergängen, unter anderem in Zwönitz, gesungen.

Am 29. April 1937 nimmt Anton Günther sich das Leben. Heimatforscher spekulieren über die Gründe. Ein Erklärungsansatz ist, dass der Volkssänger sich der gesellschaftlichen und politischen Radikalisierung seit 1933 nicht gewachsen gefühlt hat. Seine Familie hat sich zu den Gründen nie geäußert.

Der Artikel erschien erstmals 2021.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Dok: Stollen | 12. Dezember 2021 | 22:50 Uhr