Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio

Geschichte

DDRNS-ZeitZeitgeschichteMitteldeutschlandWissen

Verbrechen der AlliiertenGeboren als Schande – Mein Vater der Besatzer

26. September 2023, 05:00 Uhr

1945 endet der 2. Weltkrieg in Europa. Die Alliierten befreien Deutschland, aber sie vergehen sich auch an vielen Frauen. Die Opfer und ihre aus den Vergewaltigungen entstandenen Kinder sind bis heute traumatisiert.

von Henrike Sandner

1945: Deutschland liegt in Trümmern. Millionen Menschen haben alles verloren. Diese Zeit zwischen Chaos und Hoffnung ist besonders für die Frauen gefährlich. Vagen Schätzungen zufolge werden 1945 bis 1946 über 900.000 Frauen zu Opfern von Vergewaltigungen durch die, die als "Befreier" gekommen sind. Vergewaltigt von Soldaten der US-Armee, von Franzosen, Briten und sowjetischen Rotarmisten. Eine lange tabuisierte, unrühmliche Seite der alliierten Soldaten, über die bis heute kaum gesprochen wird.

Ist der Vater ein amerikanischer Soldat?

Konrad Jahr ist eines von ca. 30.000 Kindern, die in den Nachkriegsmonaten durch eine Vergewaltigung gezeugt wurden. Ein ungewolltes Kind. Er wächst auf in einer Pflegefamilie in Altenburg in Thüringen. Die Pflegemutter ist mit dem Temperament des Jungen überfordert, der Pflegevater ist streng. Geliebt wird er nicht.

Konrad Jahr wächst in einer Pflegefamilie auf. Bildrechte: Konrad Jahr

Als Sechsjähriger erfährt Konrad von seiner Pflegeschwester, dass sich seine leibliche Mutter im Mai 1945, als die US-Armee Thüringen besetzt, angeblich mit einem Amerikaner eingelassen haben soll. Sie habe ihn deshalb in eine Pflegefamilie gegeben. Konrad Jahr prahlt nun überall damit, dass sein Vater Amerikaner sei. Er idealisiert ihn, rettet sich in die Fantasie, den Vater irgendwann einmal zu finden. Ihn zu finden wird für Konrad Jahr zu einer Art Lebensaufgabe.

Der Vater war für mich der Rettungsanker. Ich hatte ein Geheimnis, das nur mir gehörte und woraus ich heraus Kraft schöpfen konnte. Es war wirklich so, dass das wie so eine Vision war: Ihr könnt mich mal, also ich bin Ami und eines Tages gehe ich sowieso weg und gehe nach Amerika zu meinem Vater.

Konrad Jahr

Was der Mutter von Konrad Jahr tatsächlich widerfahren ist, bleibt lange unausgesprochen. Denn die Frauen wollen die Schmach einer Vergewaltigung durch einen alliierten Soldaten lieber verschweigen oder verdrängen. Wenn sie schwanger werden, ist das oft schlimmer als die Vergewaltigung selbst. Und wenn sie die Kinder zur Welt bringen, erinnern sie ein Leben lang an die Demütigung. Es sind Kinder einer Schande. Konrad Jahr muss 40 Jahre alt werden, bis er die Wahrheit erfährt.

Vergewaltigungen gehören nach Kriegsende zum Alltag

Vergewaltigungen sind Alltag in den letzten Wochen vor dem Ende des 2. Weltkrieges und lange danach. Es geht um Rache, um die Schwächung des Gegners, aber auch um das nachhaltige Zerstören von Familienstrukturen über Generationen hinweg.

Vor allem der Roten Armee eilt der Ruf voraus besonders grausam zu sein. Die Nazi-Propaganda streut gezielt Geschichten vom Einmarsch der Sowjetsoldaten in den Ostgebieten, die von schrecklichen Racheakten berichten. Die Bevölkerung soll zum erbitterten Widerstand motiviert werden. In Berlin ist die Angst der Frauen vor der vorrückenden Sowjetarmee am Ende so groß, dass im April 1945 die Selbstmordzahlen mit 3.881 Suiziden einen traurigen Höhepunkt erreichen. Mit fast 100.000 Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee allein in Berlin werden die schrecklichen Befürchtungen dann zur bitteren Wahrheit. Viele Frauen werden mehrfach Opfer, manche mehr als ein Dutzend Mal.

Die Gewalt kommt nicht aus dem Nichts – schon während des Krieges gehören Vergewaltigungen und andere Arten sexueller Grausamkeiten auch zum Vorgehen der Wehrmacht. Doch nur selten werden die Verbrechen bekannt, und auch die Geschichtswissenschaft interessiert sich für die ohnehin dünne Datenlage erst Ende der 1990er Jahre.

"Befreier" können keine "Täter" sein

Doch im Osten wie im Westen Deutschlands werden die Soldaten der alliierten Armeen schnell als "Befreier" gefeiert. In der 1949 neu gegründeten DDR wird die Sowjetunion bald zum "großen Bruder". In der im gleichen Jahr neu gegründeten Bundesrepublik Deutschlands schließt man sich auch wirtschaftlich dem Westen an und verbündet sich mit den USA. Über Jahrzehnte hinweg hält sich vor allem im Westen Deutschlands das Narrativ vom gewalttätigen Rotarmisten. Es lässt sich im Kalten Krieg für politische Zwecke nutzen. Die alten Feindbilder werden wiederbelebt. Aber es geht auch darum, von der Tatsache abzulenken, dass auch die West-Alliierten nicht frei sind von Schuld. Auch in Dörfern in der Pfalz, in Bayern oder in Westfalen wurden Frauen vergewaltigt – von US-Soldaten oder Soldaten der französischen Armee.

Auch West-Alliierte sind Täter

Besonders die Übergriffe der US-Soldaten erreichen mit geschätzten fast 200.000 Vergewaltigungsfällen eine Zahl, bei der man nicht mehr von Einzelfällen sprechen kann. Geahndet werden die Gewalttaten nur selten. In den ersten Wochen nach Kriegsende gibt es keine funktionierenden Ämter oder Strukturen, um die Missbrauchsfälle zur Anzeige zu bringen. Allein die Einmarschberichte der Pfarreien in Bayern belegen etwa, dass auch die westlichen Alliierten vermehrt sexuelle Übergriffe verübt haben. In der historischen Forschung beginnt man erst in den 1980er-Jahren sich mit den Gewalttaten der West-Alliierten zu beschäftigen.

Natürlich ist es schwer, gerade auf deutscher Seite, mit den ganzen Verbrechen, die im deutschen Namen passiert sind, im Zweiten Weltkrieg dann auf die Alliierten zu deuten, weil dort sehr schnell der Vorwurf kommen kann - Relativierung, deutscher Schuld, Aufrechnung deutscher Schuld.

Dr. Peter Lieb, Militärhistoriker

Vergewaltigungskinder als Ausdruck der Schande

Konrad Jahr begegnet seiner leiblichen Mutter nur drei Mal in seinem Leben. Beim ersten Mal ist er zwölf Jahre alt und eine für ihn fremde Frau erklärt dem irritierten Jungen unter Tränen, sie sei seine Mutter. Es sei etwas "Furchtbares" passiert, etwas was man einem Kind nicht erklären könne. Konrad Jahr trifft sie erst wieder mit 22 Jahren kurz nach seiner Entlassung aus einer DDR-Haftanstalt.

Er hat Parolen an die Wände der SED-Kreisleitung in seinem Heimatort geschmiert – gegen Walter Ulbricht und gegen die Russen. In den fast drei Jahren Haft liest er die Bibel, will Theologie studieren und ist entschlossen seinen Vater zu finden. Doch als er seine Mutter nach dem Namen des Vaters fragen will, kommt er gar nicht dazu. Der Ehemann seiner Mutter schmeißt ihn wieder hinaus. Die Familie gibt Konrad Jahr, dem ungewollten Sohn, die Schuld am Leid der Mutter.

Schweigen, Verdrängen, Vergessen?

Viele Frauen, die nach Kriegsende von einem alliierten Soldaten vergewaltigt wurden, werden später ihre Kinder in einer Pflegefamilie aufwachsen lassen, nicht zuletzt auch, weil es die aus dem Krieg zurückkehrenden Männer von ihnen verlangen. Es ist die Generation der Männer, die den verlorenen Krieg als Schmach empfindet. Die Kinder der vergewaltigten Frauen konfrontieren sie mit der eigenen Schuld. Konrad Jahr wird per Brief aus der Familie seiner Mutter ausgeschlossen. Das Leid der Mutter wird ihm zur Last gelegt, weil er immer wieder versucht den Kontakt aufzunehmen. Die wenigsten Frauen reden über ihre Erlebnisse, weder als sie passiert sind, noch danach. Sie erfahren keine Hilfe.

Schwestern mit den Kindern eines Kinderheims in Frankfurt an der Oder im Jahr 1948 Bildrechte: imago images/United Archives

Es gab keine intakte Infrastruktur, die sich darum hätte kümmern können. Es hat keinerlei Handhabe gegeben, von der deutschen Polizei oder von den deutschen Gerichten dagegen vorzugehen.

Prof. Miriam Gebhardt, Historikerin

Konrad Jahr arbeitet in den 80er-Jahren als Pfarrer in Jena. Seine Haltung gilt als nicht staatskonform, er provoziert zu oft und wird deshalb 1986 aus der DDR ausgewiesen. Kurz vor seiner Abreise in die Bundesrepublik versucht er noch einmal den Namen seines Vaters zu erfahren.

Pfarrer Konrad Jahr mit Gemeindemitgliedern Bildrechte: Konrad Jahr

Mit nunmehr 40 Jahren erzählt ihm seine Mutter zum ersten Mal, was wirklich passiert ist an jenem kalten Apriltag 1945: Sie war auf einem Schwarzmarkt in Elsterwerda in der sowjetischen Besatzungszone. Bei einer Razzia wird sie von sowjetischen Soldaten aufgegriffen und auf ein Feld vor der Stadt gefahren. Dort vergewaltigen sie mehrere Soldaten und lassen sie dann schwer verletzt liegen. Einer der Soldaten muss der Vater von Konrad Jahr sein. Eine zutiefst traumatische Erfahrung, die es ihr unmöglich gemacht hat, das Kind bei sich zu behalten.

Innerhalb von 20 Minuten war ich 'russifiziert'. Damit war der jahrelange Traum, ich sei Amerikaner, geplatzt. Ich war 40 Jahre auf der Suche nach meiner Identität. Verrückt ist ja, dass diese Vergewaltigung dazu geführt hat, dass ich überhaupt lebe.

Konrad Jahr

Das Trauma bleibt ein Leben lang

Konrad Jahr hat nach dieser Wahrheit lange gebraucht, um seinen Frieden zu finden, mit sich, seiner Mutter und auch dem unbekannten Vater. Dass ein so gewaltsamer Akt ihm das Leben geschenkt hat, scheint fast unbegreiflich. Seine unstete Lebensgeschichte zeigt, wie weit die Ereignisse im Frühjahr und Sommer 1945 seinen Weg beeinflusst haben und bis in unsere heutige Zeit nachwirken. Es zeigt aber auch, wie wichtig es ist, diese "dunkle Seite" der alliierten Soldaten zu thematisieren. Denn auch in der Gegenwart werden Frauen in Kriegen Opfer von sexualisierter Gewalt.

Dieses Thema im Programm:Das Erste | ARD History: 1945 - Frauen als Kriegsbeute | 25. September 2023 | 23:35 Uhr