Das Ende der Romanows: Der Mord an der letzten Zarenfamilie
Mehr als 100 Jahre nach der Ermordung der Zarenfamilie Romanow kann immer noch kein Punkt hinter die Geschichte gesetzt werden. Heute sind zwar alle Überreste der Familie geborgen, doch manche Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche äußern Zweifel an deren Identität. Viele orthodoxe Würdenträger sind nämlich fest davon überzeugt, dass die Familie des letzten russischen Zaren einem rituellen Mord zum Opfer fiel!
Es ist Mitte Juli 1918, die Nächte sind kalt in Sibirien. Alexandra, die Zaren-Gattin, notiert penibel in ihrem Tagebuch, dass die Familie bei 15 Grad in ihrem Arrest friert. Es sollte ihr letzter Eintrag sein. Denn schon wenige Stunden später sind sie, ihr Mann, der 14-jährige Thronfolger Aleksej und dessen ältere Schwestern Anastasia, Olga, Tatjana und Maria tot.
Zar wird im Ersten Weltkrieg zur Hassfigur
Im März 1917 dankt Nikolaus II. ab. Aus dem mächtigen "Alleinherrscher aller Russen" wird der gewöhnliche Bürger Nikolai Romanow. Das Volk ist im siebten Himmel, denn der Erste Weltkrieg, der bereits seit drei Jahren andauert, hat den Zaren zu einer Hassfigur gemacht. Der Herrscher und seine Familie werden unter Hausarrest gestellt, dürfen aber zunächst in ihrem Luxus-Palais in Zarskoje Selo bleiben und ihre Dienerschaft behalten. Ein goldener Käfig gewissermaßen! Später wird die Familie in die Provinzstadt Tobolsk verlegt.
In dieser Zeit behandelt man die Gefangenen noch anständig und respektvoll. Doch das ändert sich nach der Oktoberrevolution 1917. In Russland bricht ein blutiger Bürgerkrieg aus. Auf der einen Seite stehen die Bolschewiki, die radikalen Sozialisten, die unter der Führung Lenins eine "Diktatur des Proletariats" installieren wollen, auf der anderen Seite die so genannten Weißen, also Anhänger der alten Ordnung. Im Frühjahr 1918 bringen die Bolschewiki Nikolaus und seine Familie nach Jekaterinburg im Ural. Es ist eine der zarenfeindlichsten Regionen Russlands. Als die Romanows am Bahnhof von Jekaterinburg aus dem Zug steigen, werden sie beinahe gelyncht.
Nikolaus II. in Jekatarinburg – völlige Isolation
In Jekaterinburg wird die Zarenfamilie in der Ipatjew-Villa (benannt nach deren letztem Besitzer) isoliert. Die Bolschewiki haben einen anderen Namen für die neue Bleibe von Nikolaus II.: das "Haus zur besonderen Verwendung". Und dieser Name passt in der Tat besser. Die Romanows werden fast vollständig von der Außenwelt abgeschottet. Das Gebäude ist von einer meterhohen Doppelpalisade umgeben. Ein kurzer Freigang im Garten ist nur einmal am Tag möglich, und manchmal wird auch der gestrichen. Im Haus ist es dunkel und stickig, weil die Fenster blickdicht übertüncht sind und nicht geöffnet werden dürfen. Die Lebensmittel werden rationiert, und die jungen Zarentöchter müssen sich zahllose obszöne Bemerkungen von ihren Bewachern gefallen lassen. Für die an Luxus und Ehrerbietung gewöhnte Familie muss das die Hölle gewesen sein.
Eine Hölle, die erst in der Nacht vom 16. zum 17. Juli 1918 ein grausames Ende findet. Die Weißen, die im russischen Bürgerkrieg gegen die Bolschewiki kämpfen, sind bis kurz vor Jekaterinburg vorgerückt. Die Bolschewiki wollen um jeden Preis verhindern, dass die Zarenfamilie befreit wird. Was sich damals zugetragen hat, hat einer der Hauptakteure der Nachwelt berichtet: Jakow Jurowskij, der Kommandant des Hauses und Leiter des Erschießungskommandos.
Blutbad im Keller
Jurowskij soll bis zu seinem Tod 1938 stolz gewesen sein, die Ermordung der Zarenfamilie verantwortet zu haben. In seinem Bericht beschrieb er ausführlich, wie die Romanows und ihre Dienstleute in den Keller geführt werden, unter dem Vorwand, es sei zu ihrem eigenen Schutz, da es in der Stadt Unruhen gebe. Dort ist bereits ein Zimmer vorbereitet. Das Erschießungskommando wartet im Nebenraum: mit Revolvern. Als sich die Familie wie befohlen für ein angebliches Foto in einer Reihe aufstellt, stürmen die Henker hinein. Jurowskij verliest ein kurzes Urteil. Der Zar hat gerade noch die Zeit, verdutzt zu fragen "Was?" – da fallen schon die ersten Schüsse.
Mehrere Minuten soll das Blutbad gedauert haben, auch deshalb, weil die Zarentöchter unter ihren Kleidern versteckt noch Reste des Familienschmucks tragen. Schmuck mit Brillanten, die härter sind als Stahl. Die Kugeln prallen daran ab. Die Zarentöchter müssen deshalb mit Bajonettstichen ins Jenseits befördert werden. Doch der schwierigste Teil der Operation beginnt erst nach der Ermordung der Zarenfamilie.
Mörder der Zarenfamilie wollen keine Spuren hinterlassen
Die Körper der Erschossenen werden auf einen LKW geladen und in eine verlassene Mine gebracht, etwa 17 Kilometer von Jekaterinburg entfernt. Dort werden die Toten entkleidet, der Schmuck sichergestellt und die Leichen in die Grube geworfen. Doch die Mörder haben Angst, die Leichen könnten dort später gefunden werden. Daher beschließen sie, die Überreste der Romanows zu noch tieferen Mienen in der Nähe zu fahren. Doch als auf halber Strecke der Lastwagen stecken bleibt, entscheiden sie, die Leichen teils zu verbrennen und teils direkt im schlammigen Waldweg zu vergraben.
Wann starb der letzte Zar?
17. Juli 1918
Wie lange regierte Nikolaus II.?
23 Jahre. Nachdem sein Vater, Nikolaus III., 1894 unerwartet nach kurzer Krankheit stirbt, übernimmt Nikolaus II. den Thron. Bis zu seiner Abdankung im März 1917 regiert er Russland.
Was geschah mit der Zarenfamilie?
Die Zarenfamilie wird durch die Bolschewiki in der Nacht von 16. auf 17. Juli 1918 im Ipatejew-Haus in Jekaterinburg ermordet. Zuerst Zar und Zarin. Dann die Kinder.
Hat eine Zarentochter überlebt?
Viele Jahre hält sich das Gerücht, die jüngste Tochter, Anastasia, hätte den Mord überlebt. Immer wieder behaupten Frauen, dass sie die Tochter von Zar Nikolaus II. seien. So auch 1922 die Berlinerin Anna Anderson. Sie kommt Anfang der 1920er Jahre in ein psychiatrisches Krankenhaus in Berlin, in dem sie zunächst keine Angaben zu ihrer Person macht und schließlich die Identität Anastasias annimmt. Eine DNA-Analyse klärt Jahre später, dass Anderson nicht eine verschollene Romanow ist.
Wo leben die Romanows heute?
In Spanien. Großfürstin Maria Wladimirowna Romanowa ist Nachfahrin von Kirill Romanow, dem Enkel von Zar Alexander II.
Was passierte mit den Leichen der Romanows?
Die Leichen der ermordeten Zarenfamilie werden in einem nahe gelegenen Waldstück vergraben.
Wann wurden die Leichen der Romanows gefunden?
1991 werden bei Ausgrabungen die Schädel der Romanows gefunden. Eine DNA-Analyse bestätigt: Das ist die Zarenfamilie. Die russische Kirche spricht Zar Nikolaus II. und seine Familie im Jahr 2000 als Märtyrer heilig.
Die Suche nach den sterblichen Überresten der Romanows
Nur eine Woche später marschieren die Weißen tatsächlich in Jekaterinburg ein. Die Ermordung der Zarenfamilie wird untersucht, Beweise werden akribisch gesammelt – doch die verscharrten Leichen findet man nicht – nur einige wenige Körperteile, ein paar angebrannte Knochen und Reste verbrannter Kleidung.
In der Sowjetzeit ist der Zarenmord dann ein Tabuthema. Erst in den 1970er-Jahren trauen sich einige Hobbyhistoriker, nach den Gräbern zu suchen. Heimlich durchstreifen sie die Wälder rund um Jekaterinburg, das damals einem Revolutionär zu Ehren Swerdlowsk heißt. Obwohl es nur spärliche Informationen gibt, stoßen sie schließlich auf eine Stelle voller menschlicher Knochen. Im Schutze der Dunkelheit graben sie einige Überreste hastig aus, bringen sie kurze Zeit darauf aber wieder zurück – und schweigen bis 1991.
Erst nach dem Ende der Sowjetunion trauen sie sich, ihren Fund öffentlich zu machen und Archäologen zu verständigen. Die finden vor Ort im Wald noch weitere unentdeckte Knochenteile. Genetische Untersuchungen bestätigen bald, dass es die sterblichen Überreste des letzten Zaren, seiner Gattin und drei seiner Töchter sind. Sie werden 1998 in der Peter-und-Paul-Kathedrale in Sankt Petersburg beigesetzt. Nur der Zarewitsch und die vierte Tochter fehlen. Ihre Gräber werden erst 2007 gefunden, ebenfalls von Hobbyhistorikern und nur wenige Hundert Meter vom Fundort der anderen Leichen entfernt.
War es ein Ritualmord?
2017 kommt neuer Wind in die eigentlich abgeschlossenen Untersuchungen, als prominente Vertreter der Russisch-Orthodoxen Kirche, Historiker und Kriminalisten in Moskau zusammenkommen, um die neuesten Ergebnisse einer Untersuchung im Auftrag der Kirche zu diskutieren. Diese hat ein großes Interesse daran, weil der Zar im Jahr 2000 als Märtyrer heiliggesprochen wurde.
Das Oberhaupt der Russisch-Orthodoxen Kirche, Patriarch Kyrill, kritisiert, dass die älteren Ermittlungen undurchsichtig seien und die Kirche nicht einbezogen worden sei. Zudem möchte die Kirche die Möglichkeit eines Ritualmordes genauer untersuchen lassen. Erste Mutmaßungen über solch einen Mord kamen bereits 1918 auf. Denn damals fanden die Ermittler nicht einmal die Zähne der Opfer. Daraus zog man die pikante Schlussfolgerung, die Bolschewiki hätten die Köpfe der Ermordeten abgeschnitten und sie als Trophäen nach Moskau gebracht. Für die Ermittler ein klares Indiz für ihre wichtigste Theorie, dass es ein Ritualmord gewesen sei, von langer Hand durch das weltweite Judentum geplant. Alle drei Ermittler von 1918 waren, nebenbei bemerkt, überzeugte Antisemiten.
RitualmordDie Theorie vom Ritualmord gehört zu den häufigsten und beständigsten antisemitischen Mythen und war Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa weit verbreitet. Im Kern besagt sie, dass Juden Blut christlicher Kinder für geheime, magische Rituale nutzen würden. Für die Nationalsozialisten stellte der "jüdische Ritualmord" eine zentrale Säule ihrer antisemitischen Propaganda dar und wurde zur Rechtfertigung des Holocaust herangezogen.
In Bezug auf den Zarenmord fand die Theorie vom Ritualmord in den 1920er-Jahren weite Verbreitung in Kreisen russischer Emigranten in Europa und wurde auch von der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland aufgegriffen. Seit Beginn der 90er-Jahre wurde sie im postsowjetischen Russland wieder aktiv diskutiert.
Kein Frieden für die Zarenfamilie
2017 sagte Bischoff Tichon, eine der einflussreichsten Figuren der russischen Kirche: "Bei einem bedeutenden Teil der kirchlichen Untersuchungskommission gibt es keinerlei Zweifel, dass es sich genau so zugetragen hat." Dass es also einen Ritualmord gegeben hat. Beweise für diese Theorie, der viele kirchliche Würdenträger anhängen, gibt es aber bis heute nicht.
Zarentage mit Prozessionen in Jekaterinburg
Dem religiösen Kult um die heilig gesprochenen Romanows tut dies ohnehin keinen Abbruch. Seit Jahren veranstaltet die russisch-orthodoxe Kirche in Jekaterinburg im Juli so genannte Zarentage zum Gedenken an die ermordeten Romanows. Auf dem Programm stehen zahllose Gottesdienste und Prozessionen - etwa vom Bahnhof, an dem die Romanows 1918 aus dem Zug steigen, bis zum Ort ihrer Ermordung, an dem heute eine Kirche steht, sowie Ausstellungen, Konzerte und Vorträge zur russischen Geschichte.
Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR Aktuell | 05. September 2018 | 17:45 Uhr