Machtpoker in Dresden oder das Messer auf der Brust des Alexander Dubček
Als die Panzer im August 1968 in Prag einrücken, haben es alle irgendwie immer schon geahnt: Das Experiment Prager Frühling – es konnte nicht gut gehen. Zu weit lagen die machtstrategischen Ansprüche Moskaus und der im Warschauer Block vereinigten "Bruderländer" und des kleinen - innerhalb eines halben Jahres explosionsartig reformierten - Landes ČSSR auseinander.
Aber so klar liegen die Dinge dann doch nicht auf der Hand. Zumindest im Westen glauben nicht wenige an die Chance dieses Auf- und Umbruchs. Als sich am 23. März 1968 in Dresden die Generalsekretäre der sechs sozialistischen Bruderparteien versammeln (UdSSR, Polen, Ungarn, Bulgarien, DDR und ČSSR – das eigensinnige Rumänien wurde ganz bewusst nicht zum Treffen eingeladen) und in einer konzertierten Aktion versuchen, Alexander Dubček und seine Genossen einzuschüchtern, wird streng darauf geachtet, das nichts nach außen dringt. Und so machen sich westliche Zeitungen – ohne wirkliche Quellen – ihren Reim darauf.
"Der Tscheche geht als Sieger nach Hause"
Der "Daily Express" schreibt nach der Konferenz in Dresden: "Der ruhige Tscheche geht als Sieger nach Hause." Der neue Parteichef habe in Dresden triumphiert. Ein paar Meter weiter, beim konservativen "Daily Telegraph", das komplett gegenteilige Bild: "Nach der panischen kommunistischen Supergipfeltagung scheint es möglich, dass Russland bereit sei, Gewalt anzuwenden." – Zwei Mal, ein Blick in die Glaskugel – denn valide Informationen besitzen beide Blätter nicht. Ganz bewusst wurde in Dresden kein (offizielles) Protokoll angefertigt. Auch 1968 schon hatte man Angst vor den Leaks im eigenen Apparat.
Geheimes Protokoll
Doch wie war es wirklich? Gab es bei diesem Gipfel eindeutige Sieger und Verlierer? Wer waren die Scharfmacher? Und haben sie schon im Frühjahr in Dresden mit Intervention und Einmarsch gedroht? Aufschluss darüber gibt ein heimlich angefertigtes stenografisches Protokoll der Konferenz in Dresden, die von Walter Ulbricht, möglicherweise in Absprache mit Leonid Breschnew, angeordnet wurde.
Als Alexander Dubček unter dem Vorwand einer wichtigen wirtschaftspolitischen Beratung kurzfristig nach Dresden gerufen wird, ahnt er nicht, mit welch massivem Aufwand alle anderen bereits in den letzten drei Wochen (seit Aufhebung der Zensur in der ČSSR) Informationen über seine Politik der Öffnung gesammelt und eine konzertierte Attacke vorbereitet haben.
"Ihr sagt: Es sei Liberalismus. Wir sagen: Es ist Konterrevolution!"
Leonid Breschnew, Generalsekretär der KPdSU: "Schauen wir nur in die 'Rude Pravo'. Man kann daraus ein reiches Programm von Verleumdungen der Partei zusammenstellen. Und das ist das Zentralorgan der Partei. (…) Es wird alles angeschwärzt. Warum, Genossen, lassen Sie das alles zu? Sie [die Verfasser - Anm. d. Red.] sagen, dass es in der Tschechoslowakei riesige wirtschaftliche Schwierigkeiten gibt. Und wer hat die verschuldet? Angeblich ist daran das sozialistische System schuld."
Wladislaw Gomulka, der polnische KP-Chef: "Wir sind der Auffassung, dass es gut sein wird, wenn die Partei die Organe der Propaganda wieder in ihre Hände nimmt. (…) In dieser Etappe war es offenbar einer der größten Fehler, dass sie die Zensur aufgehoben haben."
Auf der Konferenz, die als das "Tribunal der Fünf" in die Geschichte eingeht, sind sich in einem Punkt alle einig: Alexander Dubček und das ZK der KP der ČSSR haben fahrlässig das Machtmonopol der Kommunisten gefährdet. Und damit liegen sie noch nicht einmal falsch. Es findet sich – offiziell – so gut wie keine Stimme, die ein "Weiter so wie bisher" in der tschechoslowakischen Öffentlichkeit propagiert. In einem historischen Moment sind die Kritiker der kommunistischen Alleinherrschaft und die Staats- und Parteiführung so nah aneinander gerückt wie nie zuvor seit der sozialistischen Staatsgründung 1948. Doch wie verteidigt Alexander Dubček diese komplette Abkehr von den heiligen Statuten der Partei?
Alexander Dubček: "Wie ist es möglich, die führende Rolle der Partei zu festigen? Ich sage Euch offen, Genossen, dass unter den Bedingungen, die in den letzten Jahren geherrscht haben, es zu ernsthaften Störungen der Arbeit unserer Zentralkomitees kam. (…) Innerhalb der Partei beginnt eine Bewegung der Demokratisierung."
Leonid Breschnew: "Ich würde gern daran erinnern, dass ich damals [bei einem Besuch im Dezember 1967 in Prag - Anm. d. Red.] gefragt habe: Wieso kannst Du wissen, wie sich die Ereignisse in der Tschechoslowakei, in der Partei und unter den Menschen in zwei, drei Monaten entwickeln werden? Wo ist eine Garantie, dass alles so gelingt, wie Ihr das vorgesehen habt? (…) Und Alexander Dubček antwortete mir: 'Nein, nein, alles wird in Ordnung sein!'"
Der kommunistische Patriarch in der Klemme
Leonid Breschnew versucht in Dresden zwei Rollen auf einmal zu bedienen – die des aggressiv Parteidisziplin einfordernden Chef-Generalsekretär und die das sorgenden Vaters, für den das Wohl der sozialistischen Gemeinschaft an oberster Stelle steht. Das kommt nicht von ungefähr. Denn Breschnew steckt selbst in einem Dilemma. Im Dezember 1967, als die Wahl des Ersten Sekretärs der tschechoslowakischen KP ansteht und Dubček eine Palastrevolution gegen den ungeliebten Amtsinhaber Antonin Novotny vorbereitet, gelingt es Dubček, Breschnew in einem die ganze Nacht währenden Vier-Augen-Gespräch von der Notwendigkeit des Wechsels zu überzeugen. Moskau greift nicht ein mit dem Argument: "Das ist Eure Angelegenheit."
Leonid Breschnew: "Ich habe gesagt: Alexander Stepanowitsch, zwölf Stunden haben wir nichts gegessen und nichts getrunken. Gehen wir gemeinsam frühstücken und eine Schale Tee trinken. Das war um sechs Uhr morgens. Alexander Stepanowitsch hat mir damals die Situation geschildert, mit aller Kompliziertheit in der Partei usw. Ich muss sagen, so offen habe ich vordem mit niemandem gesprochen."
Breschnew ist mehr als angetan von diesem neuen Ersten Sekretär der Partei. Ein Mann ganz nach seinem Geschmack: zugänglich, vergleichsweise jung (Dubček ist zu diesem Zeitpunkt 46 Jahre alt), das ideale Werbe-Gesicht eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Nur das Leonid Breschnew etwas ganz anderes darunter versteht. Erneuerung ist für ihn allenfalls ein Kaderfrage. Am Primat der alten Moskauer Linie im Warschauer Pakt, an der Deutungshoheit des Politbüros darf überhaupt kein Zweifel bestehen. Das ahnt Alexander Dubček bereits früh und sucht bei den "Bruderparteien" Rückendeckung und ausgerechnet auch bei einem seiner erbittertsten Widersacher: Wladislaw Gomulka.
Warschau, März 1968 : die ersten Faustschläge
Überall in Europa – in West und Ost – treiben die Studenten die Forderungen nach Liberalisierung, nach Aufbruch aus verkrusteten Systemen voran. So auch in Polen. Die Botschaft eines fundamentalen Politikwechsels in Prag beflügelt noch. – Doch: Gomulka ist nicht Dubček. Die Studentenproteste werden kriminalisiert. Und nicht nur das: Gomulkas KP-Führung ersinnt im März einen diabolischen Plan, um die Freiheitsflamme der Jungen radikal zu ersticken. Sie startet eine antisemitische Kampagne, erklärt die Wortführer der Proteste zu zionistischen Elementen, die insgeheim nur eines im Sinn haben: die polnische sozialistische Ordnung zu "zersetzen".
"Die Studenten werden exmatrikuliert und es beginnt eine Hatz auf jüdische Polen, denen gekündigt wird, die ihre Wohnungen verlieren usw., so dass es zu einer großen Immigrationswelle kommt. Das heisst, das, was sich da an Freiheitswillen auftut, wird umgeleitet in eine Art Pogrom", sagt Susanne Schattenberg, Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. "Alexander Dubček hat sein Pendant in Polen komplett anders eingeschätzt, wie die Aufzeichnungen aus Dresden dokumentieren."
Wladislaw Gomulka: "Und Ihr redet mit den Studenten, Genosse Dubček? – Sie wissen noch, wie Sie sich an uns gewandt haben: 'Übernehmen Sie diesen Protest, wenn ihn die Studenten zu Ihnen bringen, sonst wird das Ihnen und uns Schwierigkeiten bereiten', wie Sie gesagt haben. Entschuldigen Sie, Genossen, wenn ich das sagen muss: Ihre Führung und Ihre Regierung haben im wesentlichen nichts in der Hand. Sie führen nicht. Sie regieren nicht."
Die Freund-Feind-Verwirrung
Alexander Dubčeks Idee, sich im Ostblock Verbündete zu suchen, die seine Politik der Öffnung und vor allem auch Vergangenheitsbewältigung unterstützen, kommt nicht von ungefähr. Tatsächlich haben sowohl der Pole Gomulka als auch der Ungar Kadar in den Jahren unter Stalin massive Repressalien erfahren: Diffamierung, Ausschluss aus der Partei bis hin zu Haftstrafen. Doch mit der langsamen Rückkehr an die Tische der Macht hat sich, für Dubček zunächst unbemerkt, etwas verändert. Aus den mutigen Reformern von einst sind nüchterne Pragmatiker geworden, die eines um jeden Preis verhindern wollen: Dass in ihrem Land sowjetische Panzer rollen:
Und die Gefahr steht in Dresden unmissverständlich im Raum. Leonid Breschnew: „Wir können der Entwicklung in der Tschechoslowakei nicht mehr länger unbeteiligt zuschauen.“
Wladislaw Gomulka: „Wir haben nicht die Absicht, uns in die inneren Angelegenheiten einzumischen, aber es gibt Situationen, wo so genannte innere Angelegenheiten äußere Angelegenheiten werden, also Angelegenheiten des ganzen sozialistischen Lagers.“
Von der Angst, die Macht zu verlieren
Was Dubček und seine Genossen in Prag anstoßen, ahnen die KP-Führer, wird sich ohne Zügelung und ohne Repression bald wie ein Flächenbrand über die osteuropäischen sozialistischen Staaten ausbreiten. Dubček und "Demokratie"-Rufe ertönen schon bald in Ost-Berlin und Warschau, in Kiew und Leningrad. Und der nächste Schritt sei nur eine Frage der Zeit: Die echte, große Konterrevolution. – Denn das auch 1953 in der DDR und 1956 in Polen und Ungarn alles mit der Forderung nach mehr Demokratie begann, wird Alexander Dubček in Dresden immer wieder eingebläut.
Leonid Breschnew: "Sie wissen, dass das überhaupt nicht in einer so fernen Vergangenheit geschehen ist, als Genossen gehenkt und erschossen worden sind. Das begann auch erst mit Drohungen. (…) In Prag sind solche Fälle geschehen, dass Mitglieder des Zentralkomitees zusammengeschlagen worden sind. Die Sicherheitsorgane haben nicht eingegriffen. Wir wollen uns nicht einmischen. Aber das ist doch ein Signal, das ist der Beginn!"
Wladislaw Gomulka: "Es entstand eine Atmosphäre des Terrors und der Angst. Jeder, der nicht zustimmt, fürchtet sich, auch nur ein einziges Wort zu sagen. (…) Auch bei Ihnen haben die Leute Angst, irgend etwas zu sagen. Reden Sie also nicht über Demokratie. Jetzt ist bei Ihnen die Reaktion und die Konterrevolution obenauf! So ist die Lage! Und sie wollen das nicht sehen! Genosse!"
Walter Ulbricht: "Der Imperialismus – unser gemeinsamer Feind auf Leben und Tod – schläft nicht! Er ist bestrebt, alle Probleme, die sich in einem sozialistischen Land zeigen, zur Führung des psychologischen Krieges gegen uns alle auszunutzen."
Und Alexej Kossygin, Ministerpräsident der UdSSR, fasst zusammen: "Die Sache der Tschechoslowakei ist unsere gemeinsame Sache. Und wir überlassen diese Sache nicht unserem Feind, was uns das auch kosten möge!"
Über dieses Thema berichtete MDR im TV in "MDR Zeitreise"14.08.2018 | 21:15 Uhr