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Ukraine-Krieg bremst EnergiewendeKohleausstieg aufgeschoben: Ein Kraftakt im Lausitzer Revier

09. März 2023, 11:42 Uhr

Der Kohleausstieg 2038 ist beschlossene Sache und im Braunkohlerevier Lausitz bereiten sie sich seit Jahren darauf vor. Doch dann kam der Ukraine-Krieg und die Rolle rückwärts in der Kohleförderung. Im vergangenen Sommer wurde alles wieder hochgefahren. Ein Kraftakt für Mensch und Maschinen.

von Elisabeth Lehmann und Meike Materne

Dichter Wasserdampf schlägt Iris Böhm aus der großen Werkshalle entgegen. Sie hält den Arm schützend vors Gesicht. Es "faucht" aus einer Leitung, wie sie sagt. "Mann, das ist ja eine Tropfsteinhöhle hier. Ich gehe erstmal wieder raus. Das hält man ja nicht aus." Iris Böhm flucht. Die 35-Jährige ist Doppelblockleiterin im Kohle-Kraftwerk von Jänschwalde, ist dafür verantwortlich, die Blöcke E und F des Kraftwerks 3 wieder fit zu machen. Sie sollen wieder Strom liefern. Doch das ist nicht so einfach. "Die Anlage steht seit vier Jahren still. Und das ist wie mit jedem anderen technischen Bauteil, das lange steht: Irgendwann fängt es an zu rosten. Und gegen diesen Zahn der Zeit kämpfen wir."

Ukraine-Krieg beeinflusst Energiewende

Der Plan war eigentlich ein anderer. Seit Mitte der 1980er Jahre am Netz, sollten die Blöcke E und F 2023 endgültig stillgelegt werden. Deutschland soll bis 2038 aus der Kohle aussteigen, so will es die Bundesregierung. Die vier noch intakten Tagebaue in der Lausitz sollen bis dahin ausdienen, auf erneuerbare Energien umstellen. Strom soll dann nicht mehr durch die Verbrennung von Kohle erzeugt werden, sondern aus Wind, Sonne und Wasserstoff kommen. Die Kraftwerke in Jänschwalde sollten nach und nach runtergefahren oder umgerüstet werden. Doch der Überfall Russlands auf die Ukraine änderte alles.

Kohlekraftwerk Jänschwalde: Doppelblockleiterin Iris Böhm. Bildrechte: © MDR/Markus Zergiebel, honorarfrei

"Man hatte sich seelisch und moralisch schon darauf eingestellt, dass wir aus der Kohle aussteigen. Wir hatten uns schon mit dem Gedanken angefreundet, in die Müllverbrennungsanlage, die hier im Kraftwerk in Jänschwalde entstehen soll, zu gehen. Und dann plötzlich heißt es Rolle rückwärts, wir fahren Werk 3 wieder an." Das war im Sommer vergangenen Jahres. Ab Oktober soll das Werk wieder Strom liefern, heißt es. "Der Druck ist wahnsinnig hoch", erzählt Iris Böhm damals.

Energiekrise erzwingt Kohle-Comeback

Deutschland muss Gas sparen, um die ausbleibenden Lieferungen aus Russland aufzufangen. Die Stromerzeugung durch Gaskraftwerke wurde also zurückgefahren. Sowohl Kohlekraftwerke als auch die Kohleförderung wurden wieder hochgefahren. In der Lausitz bekommen sie das direkt zu spüren.

70.000 Menschen haben hier bis Anfang der 90er Jahre in der Kohle gearbeitet. Heute beschäftigt die LEAG, die die Tagebaue betreibt, rund 7.000 Menschen. Zu wenige, um das kurzfristige Comeback der Kohle zu stemmen. 300 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fehlten laut Unternehmensangaben, als das geänderte Energiesicherungsgesetz im Juli vergangenen Jahres in Kraft trat.

Nachschichten für Deutschlands Stromversorgung

Um den gestiegenen Bedarf an Kohle zu decken, hat die LEAG auf Vier-Schicht-Betrieb umgestellt. Für die Bergleute wie Christin Schreiber heißt das jetzt: Sieben Tage am Stück arbeiten, Früh-, Spät- und Nachtschichten inklusive. Zwei Tage frei. 1.255 Frauen arbeiten bei der LEAG, jede vierte von ihnen in Schichten. Christin Schreiber ist gelernte Industriemechanikerin, ein "Kind der Kohle", wie sie sagt. Mutter, Oma – sie alle haben schon im Bergbau gearbeitet.

Schichtdienst bei der LEAG: Bergleute wie Christin Schreiber arbeiten an sieben Tagen die Woche im Vier-Schicht-Betrieb. Bildrechte: MDR/Meike Materne

Christin Schreiber bedient verschiedene Bagger auf dem Kohleumschlagplatz der Tagebaue Nochten und Reichwalde, etwa den Schaufelradbagger: 115 Meter lang, 30 Meter hoch, in 20 Minuten kann er 16 Waggons mit Kohle beladen, insgesamt 1.000 Tonnen. "Ich würde niemals leugnen, dass ich hier arbeite. Ich finde das wichtig und würde das auch gern bis zur Rente machen." Ihr sei schon bewusst, dass die Kohleförderung irgendwann ein Ende haben muss. Doch noch sei es nicht soweit. Im Gegenteil.

Energie der Zukunft: Grüner Wasserstoff ab 2025

Seit vergangenem Sommer hat die 32-Jährige noch eine Aufgabe: neue Mitarbeiter einarbeiten. "Seit wir wieder mehr Kohle fahren und mehr Leute eingestellt wurden, ist der Arbeitsumfang für mich schon mehr geworden. Aber es ist natürlich auch wichtig, dass wir engagierte junge Leute haben, die Lust haben, hier zu arbeiten." Sie schaut zu ihrem Neuling John hinüber. Der nickt:  "Ja, ein Kindheitstraum wird hier wahr mit den großen Baggern."

Noch läuft die Kohleverstromung in der Lausitz: Das Kraftwerk Jänschwalde läuft mit einer Ausnahmegenehmigung bis mindestens Ende Juni 2023. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Doch wie lange die noch laufen, ist nicht klar. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck hält am Kohleausstieg 2038 fest, Ukraine-Krieg hin oder her. Er möchte die LEAG am liebsten sogar auf 2030 verpflichten – bisher vergeblich. Bei seinem Besuch in der Lausitz Mitte Februar überreichte er die Förderbescheide über 28,5 Millionen Euro für ein neuartiges Wasserstoff-Speicherkraftwerk, das hier ab 2025 laufen soll, ein bundesweites Pilotprojekt. Bis es Strom liefert, müssen die herkömmlichen Kohlekraftwerke einspringen. Kohle hat nach wie vor einen großen Anteil am deutschen Strommix – vor allem, wenn die Sonne nicht scheint und der Wind nicht weht. Im Moment sind es mehr als 45 Prozent.

Gnadenfrist für das Kraftwerk Jänschwalde

Iris Böhm hat es geschafft, ist mit ihrem Team im Zeitplan geblieben. Seit Oktober 2022 liefern die Blöcke E und F des Kraftwerks 3 in Jänschwalde wieder Strom, haben bis zu 2,5 Millionen Haushalte über den Winter gebracht. Iris Böhm schaut immer mal wieder in den Kessel, in dem die Kohle brennt: "Das geht schon ganz nah ans Herz. Da spürt man die Wärme und man merkt, dass die Anlage zum Leben erwacht ist. Und das ist natürlich genau das, was wir wollen."

Das Kraftwerk hat eine Sonderbetriebserlaubnis bis Ende Juni 2023, da es den aktuellen Umweltauflagen nicht mehr entspricht. Laut Gesetz soll es maximal bis März 2024 laufen. Wann es nun wirklich in den Ruhestand geht, kann im Moment niemand vorhersehen. Vielleicht läuft es ja doch noch länger. Es wäre nicht die erste Rolle rückwärts.

Welche Braunkohlekraftwerke dürfen wieder Strom erzeugen?

Fünf Kraftwerksblöcke, die mit Braunkohle betrieben werden, dürfen wieder ans Netz: Neben den Blöcken E und F in Jänschwalde im Lausitzer Revier sind es die Blöcke E und F in Niederaußem sowie C in Neurath im Rheinischen Revier. Sie dürfen befristet bis zum 30. Juni 2023 wieder ans Netz gehen.

Warum wird wieder mehr Strom aus Braunkohle produziert?

Wegen des russischen Angriffs auf die Ukraine ist Gas nicht nur teuer, sondern auch knapp geworden. Außerdem will die EU die Energie-Abhängigkeit von Russland verringern und 15 Prozent Gas einsparen. Die Braunkohleblöcke sollen in der Energiekrise helfen, weniger Strom aus Gas zu erzeugen. Sie haben eine Kapazität von zusammen 1,9 Gigawatt und damit etwas mehr als eins der drei noch verbliebenen deutschen AKW, die jeweils 1,4 bis 1,5 Gigawatt Strom produzieren können.

Programmhinweis

Die dreiteilige Dokumentation "Kohlefrauen" finden Sie in der ARD-Mediathek.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Kohlefrauen – Baggern für das Grubengold | 08. März 2023 | 21:15 Uhr