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Russlanddeutsche: Integration nach schwierigem Start

27. August 2020, 14:17 Uhr

Fast viereinhalb Millionen Spätaussiedler haben seit 1950 Aufnahme in Deutschland gefunden. Davon rund 2,3 Millionen aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion, 1,4 Millionen aus Polen und 430 000 aus Rumänien. Russlanddeutsche gelten heute als Paradebeispiel für gelungene Integration. Danach sah es aber Anfang der 1990er-Jahre nicht unbedingt aus, als Millionen nach Deutschland kamen. Auch heute ist das Bild mehrschichtig.

von Alexander Hertel

Typische, vergoldete Türme mit Zwiebelhaube eines russisch-orthodoxen Kirchengebäudes. Bildrechte: Colourbox.de

"Das war ein Schock", erinnert sich Oxana Bach-Kerber an den ersten Eindruck von ihrem neuen Zuhause in Deutschland: ein Wohnheim im thüringischen Weißbach, einem Dorf mit knapp über 100 Einwohnern: "Es gab zwei Toiletten für 13 oder 14 Zimmer, in jedem eine Familie. Morgens, wenn alle aufstehen mussten, war das eine Katastrophe."

Probleme bei der Eingewöhnung

Im Sommer 1996 war das. Zuvor war die 24-jährige Bach-Kerber mit ihrer Familie aus Kasachstan, ihrer alten Heimat, nach Deutschland gekommen. Fünf Tage dauerte die Fahrt, die Verwandten waren bereits seit einigen Jahren da. Deutsch sprach keiner der Neuankömmlinge, die dem Gesetz nach jedoch Deutsche waren.

Die Sprachkurse begannen erst einige Monate nach der Ankunft, was den Alltag für Bach-Kerber schwierig machte: "Die Einwohner im Dorf waren aber toll. Da gab es einen kleinen Tante-Emma-Laden, die sprachen kein Wort Russisch. Und dann kam dann plötzlich jeden Tag eine Masse Russen. Aber die haben bei allem geholfen, auch bei Anträgen und ähnlichem."

Sprachprobleme als größtes Hindernis

Die nächste Hürde wartete bei der Arbeitssuche. Bach-Kerbers Ausbildung wurde vom Amt nicht anerkannt. Das duale Ausbildungssystem in Deutschland machte den Neunanfang nicht einfacher:

Ich saß im Unterricht und konnte vielleicht hundert deutsche Wörter und sollte dann BWL lernen. Nach zwei Wochen habe ich gesagt, ich kann das nicht. Ich sitze da wie ein Möbelstück.

Wieder ist es das persönliche Engagement, das weiterhilft. Eine Lehrerin schenkt der jungen Frau Lehrmaterial und kümmert sich um sie. Die Ausbildung klappt.

Integration als Generationsfrage

"Das Streben nach guter Bildung und einem guten Job ist für diese Gruppe lebensbestimmend", sagt Dmitri Stratievski. Der Politologe und Historiker vom Osteuropa-Zentrum Berlin untersucht seit zwölf Jahren die sozialen Folgen der massenhaften Einwanderung von Millionen Russlanddeutschen in die Bundesrepublik.

Besonders unter den damals jungen Aussiedlern gibt es Aufsteigergeschichten nach den schwierigen ersten Jahren: Menschen, die Karriere machten und Unternehmen gründeten. Sie prägen heute das Bild der Russlanddeutschen in der Öffentlichkeit. Aber es gibt auch die "anderen".

"Bei Älteren ist das wirklich ein großes Problem. Die wurden von den Problemen der 1990er-Jahre kalt erwischt. Damals gab es auch keinen Integrationsplan", sagt Stratievski. Viele von ihnen seien mental nie in der Bundesrepublik angekommen.

Abgehängt bis heute

Noch heute gebe es russlanddeutsche Communities, in denen die Alten unter sich blieben, russisch sprechen und russisches Fernsehen schauen würden, sagt Stratievski. "Es gibt sogar einen eigenen Begriff für sie: 'Russaki'. Das heißt: Nicht ganz eingedeutscht, aber auch keine Russen mehr", berichtet der Politologe.

Auch Oxana Bach-Kerber kennt solche Fälle aus dem eigenen Bekanntenkreis: "Eine Freundin von mir wohnt seit 20 Jahren hier. Die hat fünf oder sechs Sprachkurse gemacht und kann bis heute kein Deutsch. Die kennt nicht einmal Helene Fischer", sagt die Frau lachend. "Die ist hundert Prozent nicht integriert!"

Ausgrenzung im Alltag

Aber auch von der Mehrheitsgesellschaft wurden die Aussiedler lange nicht selbstverständlich als Deutsche betrachtet. Oxana Bach-Kerber kann sich noch gut an ihre Ausbildung in einem kleinen Gastronomiebetrieb in Stadtroda erinnern: "Der Koch war ein alter Mann. Der hat mich fast stündlich beschimpft. 'Russenschwein', hat er gebrüllt und 'du bist dumm'. Dabei hat er immer gelacht."

Der Bericht deckt sich mit den Erlebnissen anderer Aussiedler. Auch heute werden sie sowie ihre Kinder nicht von allen als "Deutsche" akzeptiert, weiß Forscher Stratievski aus seinen unzähligen Forschungsinterviews: "Die zweite Generation spricht akzentfrei Deutsch und war nie in Russland. Trotzdem werden sie Anhand einiger Merkmale als nicht-deutsch identifiziert und so behandelt."

Überintegriert bis zum Rechtsextremismus

Dies führe zu Gegenreaktionen, meint Stratievski. So neigen manche Kinder von Aussiedlern zur Cliquenbildung und umgeben sich nur mit anderen Aussiedlern. Aber auch das Gegenteil könne der Fall sein. So gebe es unter Russlanddeutschen "überzeugte Rechtsextreme - die sind sogar sehr gut integriert, kann man überspitzt sagen." Selbst in der NPD waren diese aktiv, weiß Stratievski: "Dabei hat die NPD 1994 in Berlin noch eine Demo unter dem Motto 'Russen raus!' veranstaltet."

Laut Politologe Stratiesvki zeigt dies vor allem, dass die 2,7 Millionen Russlanddeutschen genauso unterschiedlich sind und denken, wie der Rest der Gesellschaft: Von nicht- bis überintegriert, von anerkannt bis ausgegrenzt, von liberal bis rechtsextrem seien alle Facetten vertreten. Auch das kann man als positiven Befund werten, sagt der Politologe Dmitri Stratievski: "Heute kann man daher schon von einem Erfolgsprojekt sprechen."

Über dieses Thema berichtete MDR AKTUELL auch im:Heute im Osten - Reportage | Deutschlandliebe - Made in Russia | 03. März 2018 | 18 Uhr