NÄCHSTE GENERATIONNackt gegen Patriotismus: Der Weimarer Künstler Tommy Neuwirth
Der Weimarer Künstler Tommy Neuwirth studierte Mediengestaltung und -kunst an der Bauhaus-Universität Weimar. Seit 2013 gibt er performative Konzerte unter dem Namen "Das weltweite Netzwerk für ein bedingungsloses Grundeinkommen". In seinem Video "You and me (Europa)" hisst er die Deutschlandflagge und auch sein "Wutbürger-Refrain" ist mehr als streitbar: ein Song, dessen Melodie einem Lied der umstrittenen Rockband Frei.Wild entlehnt ist. Eine Patriotismus-Kritik der etwas anderen Art.
Alles darüber im Video erfahren:
Ein nackter Mann stolpert über ein Feld. Immer wieder fällt er hin. Aber die Deutschlandflagge, die er die ganze Zeit mit sich trägt, die er hält er hoch. Dazu ein skurriles Gemisch aus fetten Beats, Tiergeräuschen wie aus einem Baby-Keyboard, nationalistisch anmutendem Autotune-Gesäusel ("Ein Selfie, auf der Wartburg, die Hymne…") und dann auch noch dem "Final Countdown".
Wem gehört die deutsche Flagge?
Verwirrt? Keine Sorge, das darf, ja das soll so sein, folgt man Tommy Neuwirth, dem Nackten mit der Flagge und kreativem Kopf hinter diesem Video, das "You and me (Europa)" heißt. Für Uneindeutigkeiten und Widersprüche zu sensibilisieren, das sei sein Ziel, erklärt der Medienkünstler. So geht es in "You and me (Europa)" um nationale Identität und ihre Probleme. "Ich habe mich gefragt: Was hat man davon, wenn man als nackter Mensch nur noch seine Nation hat?", erzählt der Musiker. "Wenn ich nur noch Mensch bin und nur meine Deutschlandflagge habe und meine Nationalität – was bringt mir das?'"
Ich habe mich gefragt: Was hat man davon, wenn man als nackter Mensch nur noch seine Nation hat?
Tommy Neuwirth, Musiker und Medienkünstler
Mit dem Video stellt Tommy Neuwirth nicht nur die Frage nach dem Sinn von Patriotismus, sondern auch: Wem gehört die deutsche Flagge? Denn die sei ja erstmal das Symbol für unser Land, egal was man von Nationalstolz halte, meint Tommy Neuwirth. Auch wenn man zu der Flagge ein ambivalentes Verhältnis habe, müsse man sie sich nicht von rechten Strömungen "wegnehmen" lassen. Fest steht: Manche Leute haben mit der Flagge ein Problem, auch Leute in seinem Publikum. Wenn er den Song live aufführe und dann auf der Bühne die Flagge schwenke, löse das teilweise Unverständnis aus, manchmal sogar Wut. "Das hat mich überrascht", sagt Tommy Neuwirth. "Meine Absicht ist nicht, zu provozieren." Stattdessen sei die Flagge für ihn ein banales Mittel, um künstlerisch seine Frage zu formulieren.
Gespaltene Reaktionen aus dem Publikum
Wenn Tommy Neuwirth auf leeren Bierkästen tänzelt – im Blaumann oder mit Pulli und Basecap mit der Aufschrift "Insecurity" –, wenn er dabei Lieder singt wie "Satisfaction" von den Stones (in seiner Version klingt es depressiv) oder seinen Song vom Truckerfahrer Manni ("Manni, Manni, Manni" – oder doch "Money, Money, Money"?), dann kann man darüber lachen, erschaudern, grübeln – oder stattdessen die Stirn runzeln. Denn so viel ist klar: Nicht jeder kann sich für diese Auftritte begeistern, nicht jeder fühlt sich mit so viel Unsicherheit wohl. Und so erzählt Tommy Neuwirth, dass sich sein Publikum meistens teile, fifty-fifty, zwischen Leuten, die damit gar nichts anfangen könnten und Leuten, die von seinen Songs nicht genug bekämen.
Kann eine Frei.Wild-Melodie befreit werden?
Besonders streitbar ist sein "Wutbürger-Refrain", ein Song, der sich auf ein Lied der Band Frei.Wild bezieht. Zur Erinnerung: Frei.Wild gilt manchen als rechte Band, sie wurde mehrmals mit dem Echo ausgezeichnet, was stets hoch-umstritten war. Auch Tommy Neuwirth sieht die Band kritisch. Die Lyrics, die Frei.Wild benutzt, seien sehr einfach, sie seien "sehr klar, es gibt immer einen Fingerzeig." Er wolle zeigen, dass die Welt komplexer ist. Den Frei.Wild-Song "Das Land der Vollidioten" hat er deswegen verfremdet, hat seine Melodie genommen, sie neu instrumentiert und mit neuem Text versehen: "Ich schmeiß' mein' Job, ich schmeiß' ihn nicht, aus Pflicht an sich und dies und das", singt er da, später brüllt er. Er habe sich gefragt, ob man diese Melodie "in einen Kontext bringen kann, in dem sie wieder frei ist?" Der "Wutbürger-Refrain" sei der Versuch.
Mein Sohn hat diese Melodie vor sich hingesummt. Der Ohrwurm ist also angekommen. Das sind so Momente, wo man denkt: Will ich das überhaupt?
Tommy Neuwirth
Auch wenn sich manche das wünschen mögen – von Tommy Neuwirth bekommt man keine Parolen, keine Message. Seine Kritik – wenn man sie überhaupt als solche bezeichnen kann – ist nie eindeutig. Er legt nicht den Finger in die Wunde, er zeichnet höchstens ihre Ränder nach. Ob das immer so gut ist? Die Melodie von Frei.Wild verbreitet er ja trotzdem und macht sie dadurch noch bekannter. Das ist ihm selbst sehr bewusst. "Mein Sohn hat diese Melodie vor sich hingesummt", berichtet er. "Der Ohrwurm ist also angekommen. Das sind so Momente, wo man denkt: Will ich das überhaupt?'"
Er selbst habe darauf keine Antwort. Und so befällt den Mann von der "Insecurity" schon mal selbst die Unsicherheit.
Über das Format "Nächste Generation"
Das dokumentarische Format "MDR KULTUR – Nächste Generation" nimmt die Arbeit junger Kulturschaffender aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen in den Blick. Die Werke der Künstlerinnen und Künstler wollen Debatten anregen, verschiedene Aspekte unserer Gesellschaft, wie Gleichberechtigung oder Klimakrise, kommentieren und gleichzeitig Ideen für die Zukunft entwerfen.
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | ARD Radiofestival | 15. Juli 2017 | 11:30 Uhr