Interview mit WGT-Gründer Sandro StandhaftWGT Leipzig: Erinnerungen ans erste Treffen 1992 – "Ost-West-Unterschiede waren kein Thema"
Das WGT Leipzig findet 2023 zum 30. Mal statt und zieht wieder Goths aus der ganzen Welt an. 1992 organisierten zwei Gruftis aus Leipzig zum ersten Mal ein Treffen der schwarzen Szene: 2.000 Leute aus Ost und West kamen in den Eiskeller und besuchten Konzerte von Bands wie Goethes Erben und Das Ich. Sandro Standhaft, einer der WGT-Gründer, erinnert sich im Interview an den Einfluss von The Cure, die wilden Anfänge und eine Zeit, in der noch nicht zu ahnen war, dass das Wave-Gotik-Treffen einmal das größte Gothic-Festival der Welt werden würde.
MDR KULTUR: Herr Standhaft, Sie haben 1992 gemeinsam mit Michael Brunner das erste WGT veranstaltet. Wie kam es dazu?
Sandro Standhaft: Im Grunde war es so, dass wir dickste Freunde gewesen sind und in der Szene zugange waren, also zum Beispiel kleine Partys gemacht haben. Es gab damals schon ein paar überregionale Treffen, bei denen man zusammengekommen ist, zum Beispiel in Berlin 1987 durch die "Kiss me, kiss me, kiss me"-Platte von The Cure. Da hat man sich auf dem Alexanderplatz getroffen. Und das Treffen in Potsdam wird immer als der Ort genannt, an dem die Idee für das WGT entstanden ist. Das hat auch Micha [Michael Brunner, Anm. der Redaktion] in die Welt rausposaunt, dass die Idee Ende 1988 in Belvedere entstanden ist, als sich dort 200 Gruftis getroffen haben. Ich sehe das anders.
Es war 1990 dieses The Cure-Konzert hier. Das war für uns aus der Szene so gottgleich, dass hier direkt nach der Wende The Cure bei uns in Leipzig auf der Festwiese spielt. Da sind wir natürlich hin, und dort haben dann um die 8.000 Gruftis zusammengehockt. Das war für mich der Moment, wo ich dachte, dass man aktiv werden muss, in Richtung Auflegen.
Das haben wir dann Ende des Jahres oder Anfang 1991 im alten Villa-Keller angefangen – und die erste Grufti-Disco im Osten gestartet. Wir haben die Wände angemalt, in der Oranienstraße in Berlin Platten gekauft und abends mit der Heimanlage die Leute bespielt. Die haben da zu Musik getanzt, die sie gar nicht kannten und sind dann Fans von den Bands geworden. Das war echt eine schöne Zeit!
Wir haben von Anfang bis Mitte 1991 den Villa-Keller bespielt und sind dann in den Eiskeller gegangen und haben dort Konzerte gemacht. In diesem Zeitraum war immer der Gedanke da, dass wir irgendwas machen müssen. Also sich nicht nur zu treffen und zu quatschen, sondern auch mal alle mit Musik zusammenzubringen über mehrere Tage, und da ist dann die Idee entstanden.
Und wie wurde das Ganze dann Realität?
Ich hab da immer im Kopf, dass das so ein langwieriger Prozess war, aber wenn man sich überlegt, dass wir erst Anfang 1991 aufgelegt und dann im Herbst diese Konzerte gemacht haben und dann schon im Mai das erste Treffen stattfand, ist das ja holterdipolter gegangen. Aber das war eben diese Zeit damals – ganz wild. Wir hatten keine Versicherung und durch die Konzerte auch keine finanziellen Rücklagen. Wir haben das einfach gemacht. Wir waren jung. Darüber hat man nicht nachgedacht. Und durch die Agenturen hatten wir die Kontakte zu Bands wie Project Pitchfork, Love like Blood und Goethes Erben. Und haben gesagt: Wir machen das jetzt.
Wie haben Sie die Information verbreitet, dass so ein Treffen in Leipzig stattfindet?
Wir haben Plakate gemacht, Karten gedruckt und sind ein bisschen auf Tour gegangen und haben das in Clubs verteilt in Berlin und in der näheren Umgebung. Eigentlich hätten wir viel mehr machen müssen. Es waren dann doch 2.000 Leute da. Das hätten wir gar nicht gedacht. Wir haben uns auch nicht überlegt, wo sie übernachten können. Am Ende haben die Leute mitten im Wald geschlafen.
Das würde jetzt gar nicht mehr gehen. Da wäre sofort die Polizei da und würde das räumen. Ich meine, das war Anfang Sommer. Den Leuten hätte da auch alles abbrennen können, aber zum Glück ist nichts passiert.
Wir haben uns gar nicht so viele Dinge Gedanken gemacht oder um besonders viel gekümmert. Eigentlich nur darum, dass es in den ganzen Szene-Blättern steht und wir das in den Clubs und bei unseren eigenen Veranstaltungen beworben haben. Mehr war nicht. Mundpropaganda hat damals auch gut funktioniert, und bei so einer zusammenhängenden Szene war das schnell zu organisieren.
Waren bei diesem ersten Treffen eigentlich auch schon internationale Gäste da?
Nein, das war dann erst beim zweiten. Da waren dann schon Menschen aus anderen Staaten dabei. Bei dem ersten Treffen kamen Leute aus der ganzen Republik – also nicht nur aus Leipzig – und sogar viele aus den alten Bundesländern.
Wenn Sie an das Treffen 1992 zurückdenken, was fällt Ihnen da als Erstes ein?
Die witzigste Geschichte ist, dass wir es ganz klein dachten. Wir haben erwartet, dass aus dem Osten ein paar Hundert Gruftis kommen und vormittags noch den Backstagebereich eingeräumt, als da so ein goldener Kombi-BMW angefahren kam und da stand auf dem Nummernschild "BT", und ich sage so zu Micha: "Ey, die kommen sogar aus Bitterfeld!" – aber es war ja Bayreuth. Das war nämlich der Das Ich-Sänger mit seinem Auto. Und ich dachte, es kommen sogar Leute aus Bitterfeld. So klein haben wir damals gedacht.
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Gibt es noch weitere Geschichten, Anekdoten oder Erinnerungen, an die Sie gerne zurückdenken?
Ja, durchgemachte Nächte und mit Geld in der Jacke rumrennen. Wir haben ja nicht mal ein Unternehmen angemeldet, sondern da einfach so wild dieses Ding gemacht.
Es war sehr warm, viel los, viel zu klein für die ganzen Leute. Die passten natürlich nicht alle in den Eiskeller. Deshalb war immer ein großer Teil draußen. Für viele war das erste Treffen das familärste, weil es kleiner war als die späteren Treffen, aber auch weil es noch mehr Austausch gab. Man hat wirklich einfach zusammengesessen, gequatscht und Zeit miteinander verbracht. Das Treffen war auch nicht auf tausend Orte verteilt. Es war alles an einem Punkt, und ich glaube, das haben die Menschen damals genossen, weil es das vorher noch nicht so gegeben hat.
Wie waren die Leute drauf? Wie war die Stimmung?
Es war eine superfriedliche Stimmung. Ost-West-Unterschiede waren da überhaupt kein Thema. Die Fotos vom Treffen – diese Sommerstimmung und Leute, die zusammensitzen und quatschen – die drücken das aus. Es war eine ganz entspannte, ruhige Sache. Aber wir haben natürlich immer darüber nachgedacht, ob alles klappt und ob wir nicht überfallen werden, ob im Eiskeller oder draußen im Park nichts passiert, also mit denen die dort übernachten. Für uns war es nicht so "easy Sommer", sondern wir waren schon ein bisschen angespannt.
Wir haben ja auch bei meiner Mutter in der Küche jeden Tag das Essen für die Bands gemacht und das dann in den Backstage-Bereich gefahren. Einmal sind wir von meiner Mutter weggefahren und sie ist uns hinterhergerannt. Da stand noch der Salat auf dem Dach und wir fuhren um die Ecke und der flog natürlich runter und fehlte dann später. Also das war damals alles noch ganz einfach.
Haben die Leipziger damals was von dem Treffen mitbekommen? Und wie haben sie reagiert?
Eigentlich waren wir komplett für uns. Klar, man hat sich dann bestimmt auch mal die Stadt angeguckt, aber bei 2.000 Leuten verläuft sich das. Und damals gab es auch kein Schaulaufen. Die Menschen, die da waren, sind ja auch im Alltag so rumgelaufen.
Reaktionen aus der Stadt gab es nicht. Das stand zwar in der Zeitung, weil wir eine gute Bekannte hatten, die bei der LVZ gearbeitet hat. Sie hat auch vorher schon über unsere Konzerte geschrieben. Es gab also ein bisschen was, aber das Interesse war bei weitem noch nicht so groß wie jetzt. Das ist dann über die Jahre erst gewachsen.
Konnte man beim ersten Treffen schon absehen, dass das WGT später mal so groß wird?
Nein. Wir sind zwar nicht grob ins Minus gerutscht, konnten unsere Konzerte weitermachen und sogar das nächste Treffen planen, aber eigentlich konnte man das erst beim zweiten Treffen ahnen. Da kam dann zum Beispiel die "Bravo" an. Das war dann schon anders.
Ich habe aber auch nur die ersten beiden Treffen mitgemacht. Dann haben wir uns überworfen, weil wir uns so unterschiedlich entwickelt hatten. Wir waren ja auch noch jung und haben damals nicht gesagt: "Jetzt ziehen wir das mal zusammen durch, weil das eine Zukunftsperspektive hat", sondern wir haben uns gestritten und sind dann auseinandergegangen. Ich habe dann weiter Konzerte in Halle gemacht, aber mit dem wichtigen Standort, den ich da verloren habe, war das natürlich schwer.
Micha hat das dann noch bis Ende der 2000er-Jahre weitergemacht, auch mit tollen Line-Ups. Das hat mich dann sehr traurig gemacht, weil dort Bands dabei waren, die ich sehr gemocht habe, zum Beispiel Siouxsie and the Banshees. Ich bin dann regelmäßig zu Pfingsten aus der Stadt gefahren. Ich wollte nicht hier sein, die Leute nicht sehen. Das war wirklich nicht schön, aber ich habe schon lange meinen Frieden damit gemacht. Es ist nur schade, wenn man so ein Ding lostritt und dann nichts mehr davon hat – aber man war eben zu jung, zu grün.
Das Interview führte Annekathrin Queck für MDR KULTUR.
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Dieses Thema im Programm:MDR KULTUR - Das Radio | WGT-Nacht | 27. Mai 2023 | 20:05 Uhr