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Gemeinschaftsschulen haben mehr Vor- als Nachteile, sagt Didaktik-Professorin Maria Hallitzky von der Universität Leipzig. Trotzdem sind sie noch selten in der Schullandschaft. Bildrechte: picture alliance/dpa | Marijan Murat

SchulreformGemeinschaftsschulen haben mehr Vorteile als Nachteile

04. Mai 2024, 05:00 Uhr

Länger gemeinsam Lernen, dieses Thema bewegt besonders Eltern und Lehrkräfte – seit vielen Jahren. Kindern bereitet die Aufteilung nach der vierten Klasse, also nach der Grundschulzeit, oftmals Bauchschmerzen. Gemeinschaftsschulen hätten vor allem für schwächere Schüler Vorteile, sagen Experten. Warum ändert sich also nichts?

  • Die Aufteilung von Kindern nach der 4. Klasse bedeutet nicht selten Stress und Druck. Gemeinschaftsschulen bis zur 9. Klasse könnten dem entgegenwirken.
  • "Die Vorteile des gemeinsamen Lernens überwiegen", sagt Prof. Dr. Maria Hallitzky von der Universität Leipzig.
  • In Thüringen gibt es 77 Gemeinschaftsschulen, in Sachsen vier. Der Normalfall ist das gemeinsame Lernen noch lange nicht.

Meistens werden nach der 4. Klasse Schülerinnen und Schüler getrennt: Die einen gehen auf das Gymnasium, andere auf die Real- oder Hauptschule beziehungsweise Mittelschule. Ob diese Trennung nach der 4., 6. oder erst in der 9. Klasse passieren sollte, wird in der Schulforschung und unter Eltern seit Jahren, wenn nicht sogar seit Jahrzehnten, diskutiert. Das Thema beschäftigt auch die Teilnehmer des Bundeskongresses zum Längeren gemeinsamen Lernen, der noch bis Samstag in Dresden stattfindet.

Denn Kindern und Eltern bereitet die Aufteilung nach der 4. Klasse, also nach der Grundschulzeit, oftmals Bauchschmerzen. Schülerinnen und Schüler merken: Jetzt wird verteilt und getrennt. Und Eltern müssen gemeinsam mit Lehrkräften entscheiden, was das Beste für die Zukunft ihrer Kinder ist. Es ist der erste Umbruch, die erste große Veränderung der gefühlt gerade erst angefangenen Schulzeit.

Diesen Prozess nicht in der 4., sondern zum Beispiel erst in der 9. Klasse anlaufen zu lassen, wird an manchen Schulen bereits erfolgreich praktiziert. Der Normalfall ist das längere gemeinsame Lernen jedoch nicht.

Vorteile von Gemeinschaftsschulen überwiegen

Dabei würden die Vorteile des gemeinsamen Lernens gegenüber der frühen Aufteilung der Kinder an unterschiedliche Schulformen überwiegen, sagt Prof. Dr. Maria Hallitzky. Sie ist Professorin für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik des Sekundarbereichs an der Universität Leipzig.

Vor allem für leistungsschwächere Kinder und Jugendliche sei das gemeinsame Lernen gut. Leicht positive Effekte habe die frühe Trennung hingegen bei den Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Die Nachteile der frühen Trennung für die Leistungsschwächeren seien aber um ein Vielfaches größer als die Vorteile für die Leistungsstärkeren.

Die Kinder, die den Sprung auf das Gymnasium nicht schaffen – überproportional häufig aus ökonomisch benachteiligten oder aus migrantischen Familien stammende Schülerinnen und Schüler – spüren hingegen "dass sie in gewisser Weise herabgesetzt werden, was für das Lernen nicht förderlich ist", sagt Maria Hallitzky und ergänzt: "Es sprechen also mehr Gründe für das längere gemeinsame Lernen als dagegen."

Viel Stress für Eltern und Kinder

Dazu komme der Stress für Eltern und Kinder: "Schon in der 1. und 2. Klasse drängen Eltern, dass der Leseprozess schneller gehen müsse, weil die Kinder später auf ein Gymnasium gehen sollen", sagt Maria Hallitzky und erinnert sich dabei an ihre Zeit als Lehrerin an Grundschulen.

Und so gehe es bis zum Ende der Grundschulzeit weiter: "In der 3. und 4. Klasse fängt es dann an, dass bei Prüfungsaufgaben um einzelne Punkte gerungen wird, weil Eltern in Sorge sind, ihre Kinder könnten es nicht auf das Gymnasium schaffen."

Bei der frühen Trennung nach Leistung erfolge zugleich auch eine soziale Trennung: "Wir stürzen uns leider immer nur auf Pisa-Ergebnisse, verlieren dabei aber den Blick für das Soziale", sagt die Professorin.

Unterschiedliches Entwicklungstempo

Ein weiterer Grund, nicht zu früh eine Trennung der Kinder vorzunehmen, sei, dass Kinder sich in dieser frühen Phase noch völlig unterschiedlich entwickeln würden, sagt Otto Seydel. Er ist 79 Jahre alt, war Lehrer am Internat Schloss Salem und beobachtet das deutsche Schulsystem schon sein halbes Leben.

Er betont, dass falsche Prognosen für die Talente von Kindern gestellt werden würden. Mit neun oder zehn Jahren sei es normal, dass sich Schülerinnen und Schüler in verschiedenen Disziplinen und Themengebieten unterschiedlich stark engagieren. Das frühe Trennen und Aussieben könne hier Druck und Versagensängste verstärken und letztlich zu einer kummervollen Demotivation führen. "Es setzt eine Selbststigmatisierung ein", sagt Seydel.

Überlegungen, Gemeinschaftsschulen und ein gemeinsames Lernen in heterogenen Gruppen zu fördern, gingen bis in die 1970er Jahre zurück, sagt Seydel. Warum sich im Bildungssystem die Verhältnisse nur langsam verändern würden, hält er für eine politische Entscheidung. Es werde zu sehr auf die Verfechter von Gymnasien gehört. Pilotprojekte würden dagegen zeigen, dass Gesamtschulen sehr gut funktionieren.

Änderungswille und Hürden

Aber auch andere Hürden stünden einer flächendeckenden Einführung von Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen im Weg. Erst vergangenes Jahr schrieb Seydel ein Grundlagenbuch zum Thema Schulgebäude, was bei einem Neubau oder einer Sanierung aus pädagogischer Sicht beachtet werden müsse.

Das Thema Schulstruktur hängt damit zusammen: "Die vorhandenen Schulgebäude, zum Beispiel von Grundschulen, sind gar nicht darauf ausgerichtet, als Gemeinschaftsschule zu funktionieren."

Wenig Inklusion an Gymnasien

Einen weiteren Nebeneffekt der frühen Teilung nach der 4. Klasse sieht der Sozialforscher Marcel Helbig vom Leibniz-Institut für Bildungsverläufe in der wenigen Inklusion, die an Gymnasien stattfinde. "Da Gymnasien nur von Schülerinnen und Schülern besucht werden sollen, die den Leistungsanforderungen dieser Schulform genügen, werden Kinder mit Förderbedarf nur sehr bedingt aufgenommen", schreibt er in einem Fachaufsatz.

Von den derzeit herrschenden Verhältnissen würden Gymnasien nämlich am meisten profitieren: Höhere soziale Schichten und eine vergleichsweise gute Ressourcenausstattung ermöglichen es denjenigen, die dort unterrichten oder unterrichtet werden, gesellschaftliche Herausforderungen wie Inklusion und Migration weitgehend fernzuhalten, schreibt Helbig weiter.

Helbig sieht die Schullandschaft tief gespalten. Und fragt, warum die großen Ungleichheiten, Dysfunktionalitäten und Ungerechtigkeiten keine schulstrukturellen Veränderungen nach sich zögen. Denn mit dieser Frage müsse sich die Politik dringend beschäftigen, um nicht von den Problemen der Schulen überrollt zu werden.

Die drängendsten Probleme

Der Verein "Gemeinnützige Gesellschaft Gesamtschule – Verband für Schulen des gemeinsamen Lernens", kurz GGG, kritisiert ebenfalls umfassend, wie es derzeit an vielen Schulen läuft: Unterfinanzierung, fehlende Augenhöhe, Lehrkräftemangel. Das System müsse reformiert werden, dringend.

"Der Bildungserfolg in unserer Gesellschaft hängt immer noch maßgeblich von der sozialen Herkunft ab", schreibt der Verein auf seiner Website. Wie Gemeinschaftsschulen in diesem System zu einer postiven Wendung betragen können, wurde unter anderem auf einem dreitägigen Bundeskongress in Dresden unter dem Motto "Schule kann anders!", intiiert vom GGG, besprochen.

Denn in manchen Bundesländern tut sich dahingehend bereits etwas, zum Beispiel in Thüringen: "Die Thüringer Gemeinschaftsschule ist seit ihrer Einführung vor über zwölf Jahren eine Erfolgsgeschichte. Mittlerweile gibt es 77 Thüringer Gemeinschaftsschulen, davon 55 in staatlicher Trägerschaft", schreibt das zuständige Bildungsministerium auf Anfrage. Auch in Sachsen gibt es seit 2020 vier Gemeinschaftsschulen in Dresden, Leipzig und Bautzen. In Sachsen-Anhalt gibt es derzeit 47 Gemeinschaftsschulen.

Bildung und menschliches Zusammenleben

Das deutsche Bildungssystem wandelt sich, trotz allem, nur sehr langsam und steht vor großen Problemen, die weit in die Gesellschaft hinein wirken werden, darin sind sich Expertinnen und Experten einig.

"Ich sehe eines der größten Probleme in der einseitigen Betrachtung von Schule, die von wettbewerbsorientierten Aspekten gelenkt ist", sagt Maria Hallitzky am Ende des Gesprächs. Fragen der allgemeinen, menschlichen Bildung, auch im Sinne einer Humanisierung des menschlichen Zusammenlebens, würden kaum gestellt werden.

Man müsse darüber sprechen, wie Allgemeinbildung in diesem Sinne möglich sein könne, sagt sie.

Wer entscheidet auf welche Schule es geht?In allen Bundesländern geben die Lehrkräfte an Grundschulen Empfehlungen dazu ab, welche weiterführende Schule aus ihrer Sicht für das Kind richtig wäre. Die Empfehlung hat in den Ländern unterschiedlich großes Gewicht.

Die Grundschulzeit variiert zwischen den Bundesländern. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen beträgt die Schulzeit vor der weiterführenden Schule vier Jahre. In Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern sind es sechs Jahre.

Das letzte Wort bei der Entscheidung, auf welche Schulart ein Kind dann tatsächlich wechselt, haben aber die Eltern. Nur in wenigen Bundesländern wie Bayern, Brandenburg und Thüringen ist die Grundschulempfehlung verbindlich und steht über dem Elternwillen.

Quelle: Kultusministerkonferenz

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL - Das Nachrichtenradio | 04. Mai 2024 | 09:00 Uhr

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