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Luftablassen als ProtestDie "Reifenplattmacher" jagen SUVs

28. Oktober 2023, 08:09 Uhr

Sie selbst verstehen sich als Klimaschützer und sie agieren weltweit: "Tyre Extinguisher", auf deutsch "Reifenplattmacher", lassen die Luft aus Autoreifen von SUVs. Zuletzt gab es vor allem in Magdeburg immer wieder Fälle, aber auch in Leipzig. Die Polizei ruft Bürger bereits auf, vor jeder Fahrt zu überprüfen, ob Luft auf den Reifen ist. Das Investigativ-Team vom MDR hat es geschafft, in Kontakt mit der Gruppe zu kommen.

"In der Nacht zu Montag, den 23.10.2023 wurden wie bereits in der Vergangenheit mehrere PKW in verschiedenen Ortsteilen Magdeburgs angegriffen", meldet die Polizei Magdeburg am Montagnachmittag dieser Woche. Der Grund: Zahlreichen Pkw in Magdeburg wurden die Luft aus den Reifen abgelassen. Die Polizei bittet – inzwischen schon zum dritten Mal seit Mitte September, "jeden Pkw-Fahrer vor Fahrtantritt die Betriebstauglichkeit seines Fahrzeugs zu überprüfen."

Betroffen von den Angriffen im August, September und Oktober bislang Autohalter in den Stadtteilen Nordwest, Alte Neustadt, Stadtfeld, Alt Olvenstedt, Neu Olvenstedt, Zentrum, Buckau, Leipziger Straße. Und auch der SUV von Harald Paukisch.

Notarzt betroffen – Glück im Unglück

Paukisch ist Oberarzt, er hatte in dieser Nacht Notdienst. Wenn er dann gerufen wird, nehme er meist seinen SUV, erzählt er. Doch diesmal muss er nicht los, das Auto bleibt stehen. Am nächsten Morgen erst bemerkt seine Frau, das mit dem SUV etwas nicht stimmt. Er steht schief auf dem Parkplatz, mit Bekennerschreiben an der Windschutzscheibe. "Ich habe die Polizei verständigt. Also nicht die 110, sondern die zuständige Polizeidienststelle. Und die hatten mehrere Wagen, das hatten die mir dann gleich auch gesagt. Da wusste ich halt, dass ich nicht der einzige war, der betroffen war", erzählt Paukisch.

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Nicht nur in Sachsen-Anhalt, auch im benachbarten Sachsen hat es solche Aktionen gegeben. Konkret in Leipzig, wo die Polizei von inzwischen drei Aktionen berichtet. Sowohl in Magdeburg als auch in Leipzig waren an den betroffenen Autos "Schreiben mit Hinweisen zum mutmaßlichen Tatmotiv" befestigt, so die Polizei in Magdeburg. "Ein Bekennerschreiben mit klimapolitischem Hintergrund", so die Polizei in Leipzig, wo sogar ein Fahrer erst auf der Autobahn bemerkt hatte, das mit seinen Reifen etwas nicht stimmte, die Polizei hatte einem Zeitungsbericht zufolge das Bekennerflugblatt entfernt und durch eine deutlich kleinere Karte ersetzt.

Die Schreiben gleichen einander aufs Wort – und legen nahe, dass es sich um Taten von Klimaschutz-Aktivisten handelt. "ACHTUNG", so lautet die Überschrift des Flugblattes, das frei im Internet verfügbar ist, "Ihr Spritfresser ist tödlich. [...] Wir haben dies getan, weil das Herumfahren in städtischen Gebieten enorme Folgen für andere hat. [...] SUVs und Geländewagen sind eine Katastrophe für unser Klima". Die Welt stehe vor einem Klimanotstand und schon jetzt würden Millionen von Menschen an den Folgen des Klimawandels sterben.

Gezeichnet ist das Blatt am Ende mit "The Tyre Extinguishers" – so wie die Feuer- oder Brandlöscher, nur eben mit Reifen vorn dran; oft übersetzt als Reifenlöscher oder Reifenplattmacher. Das, was sie tun, das bezeichnen sie als "Entwaffnen". Die Medien verpassen ihnen Namen wie Klimaaktivisten, Klimaterrorristen oder Guerilla.

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Ein "Tyre Extinguisher"-Aktivist erzählt

MDR Investigativ ist es gelungen, mit den "The Tyre Extinguishers" in Kontakt zu treten. Wir möchten wissen, was die Aktivisten bewegt. Eine erste Mail bleibt unbeantwortet, sie galt dem Leipziger Geschehen. Dies wurde aber noch nicht von den "Tyre Extinguishers" auf der Webseite oder den Social-Media-Accounts "verifiziert". Eine zweite hingegen wird weitergeleitet und es meldet sich eine Person. Diese möchte anonym bleiben. Wir nennen sie Lukas und vereinbaren ein Treffen in Magdeburg – an einem regnerischen Montag.

Lukas hat – so erzählt er – gemeinsam mit zwei weiteren Aktivisten in Magdeburg Luft aus Reifen großer SUVs gelassen. Er will nicht erkannt werden. Es ist grau und nass, ein durchdringender Regen vertreibt die Menschen aus dem Park, in dem wir Lukas treffen. Es gibt kaum Besucher, wir können in Ruhe reden.

Die nächtlichen Attacken auf SUV sind nach seiner Erzählung genau geplant, auch um einer späteren Strafverfolgung zu entgehen. "Wir ziehen uns die Handschuhe an, um Fingerabdrücke zu vermeiden und auch weil diese Reifen sehr schmutzig sind. Also wenn man wirklich 20 oder so SUVs gemacht hat, dann sind die Hände nachher saudreckig", erzählt Lukas. "Wenn wir dann losziehen, dann nehmen wir so ungefähr eine Handvoll Linsen, die reichen völlig aus für eine Person." Linsen aus dem Supermarkt, die, aus denen Suppe oder Curries gekocht werden. Werden sie in die Ventile gesteckt, werden die Reifen nicht zerstört, fahren kann mit dem Wagen aber erst einmal niemand, denn in der Regel sind die Reifen am Morgen platt.

In Lukas' Weltbild ein gemäßigter und legitimer Protest für den Klimaschutz. "Ich finde es noch relativ zivilisiert. Es gibt wirklich noch schlimmere Sachen. Autos anzünden. Wurde auch schon gemacht. In anderen Städten, in München zum Beispiel, da haben Klimaaktivisten SUVs angezündet."

Wir fragen, wie das Beschädigen von Privateigentum in seine eigenen Wertvorstellungen passt. Das wäre isoliert betrachtet auf jeden Fall ein Problem, sagt Lukas. "Das wäre nicht ethisch zu rechtfertigen. Das wäre Vandalismus, wenn man einfach wahllos Privateigentum beschädigt. Aber: wir haben ja ein Ziel und einen Hintergrund. Denn diese Privatautos, die stehen ja nicht einfach so da und machen nichts, sondern die zerstören ja die Umwelt von Millionen von Menschen." Die SUV richten Schaden an, sagt Lukas und töteten indirekt – durch Klimawandel und Emissionen.

Aktionen bundes- und weltweit

Aktionen der "Tyrer Extinguishers" gibt es auch in anderen Bundesländern. Die meisten in Berlin. Aber auch in Melbourne, Australien, werden SUVs angegriffen oder Prag und Paris. Bezichtigungsschreiben der "The Tyre Extinguisher" wurden inzwischen in 20 Ländern weltweit verteilt. Auch Elektrofahrzeuge sind nicht gefeit: Den Reifenplattmachern geht es neben dem CO2-Ausstoß auch um andere Faktoren wie Reifenabrieb und unter anderem den Platz, den die großen Fahrzeuge im öffentlichen Raum wegnehmen.

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Die Bewegung stammt aus Großbritannien, das zumindest kann man dem ersten Eintrag auf der Seite www.tyreextinguishers.com unter dem Reiter "News", datiert auf den 8. März 2022 entnehmen. Demnach wurden in der Nacht von 7. auf den 8. März in ganz Großbritannien hunderten SUVs die Luft abgelassen. "'The Tyre Extinguishers' ist eine neue Bewegung", heißt es da, "die im ganzen Land entsteht und die Menschen dazu aufruft, gegen SUVs in den Städten vorzugehen." Aktiv sind die Gründer der Bewegung aber offenbar schon länger. Sowohl Webseite als auch Twitter- oder X-Account wurden bereits im Juli 2021 angelegt, es gibt die "The Tyre Extinguishers" auch auf Insta- und Telegram.

Wenngleich die Aktionen weltweit stattfinden, geht die Polizei in Berlin, die mit Abstand die meisten Fälle manipulierter Reifen in Deutschland verzeichnet, nicht davon aus, dass die Aktionen zentral gesteuet werden. "Wir dürfen jetzt hier nicht von einer global organisierten Gruppierung sprechen, sondern das dürfte sich eher im Bereich von lokal geneigten Unterstützern bewegen", erläutert der Leiter des zuständigen Kommissariats in Berlin. Sie nutzten eher die Webseite, "zum einen um sich die Anleitung und die Bekennerschreiben herunterzuladen und zum anderen dann auch über ihre Erfolge zu berichten".

Protestforscher: Neue Protestformen Folge immer härterer Strafverfolgung

Das geschieht auf den Social-Media-Kanälen und auf der Webseite der Gruppe. Die ersten Posts stammen alle aus Großbritannien. Dort forscht Graeme Hayes, Soziologe an der Aston University in Birmingham zu den neuen Protestformen der Klimaschutzbewegung und zum zivilen Ungehorsam. Er verweist darauf, dass die Welle der Klimaproteste im öffentlichen Raum, wie die Aktionen von "Extinction Rebellion" oder "Just Stop Oil", nicht mehr so erfolgreich waren.

"Die Taktiken der Polizei sind besser geworden und die Proteste dadurch kürzer. Die Aktivisten werden strafrechtlich verfolgt und gehen inzwischen ins Gefängnis." Die immer härtere Strafverfolgung von Gruppen wie "Just Stop Oil" in Großbritannien oder auch der "Letzten Generation" in Deutschland, führe dazu, dass sich die Klimaaktivisten neuen Protestformen zuwenden würden, sagt er und fragt: "Und wenn die Regierung versucht, den Protest durch Maßnahmen der Polizei und der Justiz zu verhindern, was werden die Aktivisten als nächstes tun? Ich denke, das wird das Thema in den nächsten zehn Jahren."

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Und Lukas? Auch er hat für den Klimaschutz demonstriert und war an anderen Aktionen beteiligt. Doch das war dann nicht mehr genug: "Irgendwann habe ich mir gedacht, es reicht nicht mehr, ich muss ein stärkeres Signal setzen." Die Strafverfolgung spielt für ihn eine große Rolle bei der Wahl seiner Mittel. Auf der Straße festkleben würde er sich nicht. Sein Problem seien die Strafen. "Das kann ich mir nicht leisten und ich habe auch keine Lust von Autofahrern angepöbelt oder weggerissen zu werden. (..) Wir entziehen uns den Strafen, indem wir das nachts machen und anonym. Und deswegen ist es für mich das bessere Mittel."

Für Harald Paukisch ist es das nicht. Er hat Verständnis für die Klimaschutzbewegung. Aber nicht für Protest mit diesen Mitteln: "Ich glaube, das ist nicht so zielführend, ich denke, in einer Gesellschaft muss man sich auch austauschen können." Eben einen solchen Dialog hätte er sich gewünscht.

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT - Das Radio wie wir | 26. Oktober 2023 | 08:00 Uhr

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