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Krypto-HandysEncrochat-Prozesse – Mehr als 2.000 Ermittlungsverfahren

07. Juli 2021, 05:00 Uhr

Ihr Messenger-Dienst wurde ihnen zum Verhängnis: Weltweit werden Kriminelle angeklagt, die über "Encrochat" mit Krypto-Handys unter anderem Drogengeschäfte vereinbart haben. Der Polizei gelang es, das "WhatsApp für Straftäter" zu entschlüsseln. In Deutschland wurden bisher mehr als 2.250 Ermittlungsverfahren eingeleitet. Allerdings dürften die Prozesse nur der Anfang sein. Denn nach Encrochat lasen Ermittler bei weiteren Messenger-Diensten mit. Datenschützer kritisieren das Vorgehen.

von David Kopp, Kripo Live

Ein Blick in die Prozesslisten der Landgerichte in Mitteldeutschland zeigt: Vor allem gegen mutmaßliche Drogendealer und -dealerinnen laufen derzeit zahlreiche Verfahren. So steht beispielsweise ein 24-Jähriger in Halle vor Gericht, weil er an verschiedene Abnehmer in Naumburg, Weißenfels und Leipzig insgesamt 24 Kilogramm Marihuana für 5.300 Euro pro Kilogramm verkauft haben soll. Einen Teil seiner Ware lagerte er bei einem Bekannten, der dafür das Kinderzimmer bei seiner Großmutter zur Verfügung stellte.

Am Landgericht Magdeburg läuft ein Prozess gegen eine Frau und einen Mann, die gemeinsam einen Drogenkurierdienst betrieben haben sollen. Laut Anklage waren sie unter anderem in Magdeburg, Berlin, Halle, Dresden und Cottbus aktiv. Sie sollen bei ihren Fahrten Kokain und Methamphetamine bis zu einer Menge von zehn Kilogramm bei sich gehabt haben. In einem anderen Fall hat das Landgericht Magdeburg zwei Männer wegen Drogenhandels und Waffenbesitzes zu Haftstrafen von neun Jahren beziehungsweise sieben Jahren und zwei Monaten verurteilt.

Drogendeals via "WhatsApp für Straftäter"

In Dresden hat die Staatsanwaltschaft mehrere Anklagen gegen mutmaßliche Drogenhändler erhoben. Einem Verdächtigen wird vorgeworfen, bei verschiedenen Lieferanten unter anderem rund 50 Kilogramm Crystal für mehr als eine halbe Million Euro gekauft zu haben. Ein anderer soll mit Crystal und Marihuana im Gesamtwert von über 1,3 Million gehandelt haben.

Verfahren gegen mutmaßliche Drogenhändler, wie sie scheinbar Tag für Tag an deutschen Gerichten verhandelt werden. Doch die genannten Fälle haben eine Gemeinsamkeit: Die Verdächtigen wurden in einem großen europäischen Ermittlungskomplex überführt. Denn sie nutzten zur Kommunikation mit anderen Kriminellen alle die gleiche Technik: sogenannte Krypto-Handys. Darauf war die Software "Encrochat" zum verschlüsselten Austausch von Nachrichten installiert. Weil "Encrochat" vor allem von Kriminellen genutzt wurde, erhielt es auch die Bezeichnung "WhatsApp für Straftäter".

Europaweiter Schlag gegen die Organisierte Kriminalität

Der Polizei in den Niederlanden und Frankreich war es im vergangenen Jahr gelungen, einen Teil der geheimen "Encrochat"-Nachrichten abzuschöpfen – der europäischen Justizbehörde Eurojust zufolge mehr als 20 Millionen. Dadurch konnten die Ermittler den Kriminellen bei der Planung ihrer Aktionen über die Schulter schauen, wie es der Leiter der Kriminalabteilung der niederländischen Polizei, Andy Kraag, im Juli 2020 beschrieb: "So waren wir in der Lage, ihnen mehrmals einen Schritt voraus zu sein. Die abgefangenen Nachrichten gaben uns einen sehr detaillierten Einblick in die gegenwärtige Unterwelt." Jetzt wisse man mehr über die Kriminellen und ihr Handeln.

Dieses Wissen nutzten die Ermittler europaweit für einen Schlag gegen die Organisierte Kriminalität. Bei einer gemeinsamen Polizeirazzia gab es in mehreren europäischen Ländern zahlreiche Festnahmen. Tonnenweise Drogen wurden sichergestellt, Drogenlabore und Folterkammern aufgedeckt.

So waren wir in der Lage, ihnen mehrmals einen Schritt voraus zu sein. Die abgefangenen Nachrichten gaben uns einen sehr detaillierten Einblick in die gegenwärtige Unterwelt.

Andy Kraag, Leiter der Kriminalabteilung der niederländischen Polizei

Bundesweit mehr als drei Tonnen Cannabis sichergestellt

Nach einer Zwischenbilanz des Bundeskriminalamts und der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt wurden in Deutschland bisher mehr als 2.250 Ermittlungsverfahren im Zusammenhang mit "Encrochat" eingeleitet. In mehr als 520 Verfahren sei es seitdem zu Festnahmen, Sicherstellungen und Durchsuchungen gekommen. Dabei seien rund 750 Haftbefehle vollstreckt und folgende Mengen an Betäubungsmitteln sichergestellt worden:

  • fast 3,2 Tonnen Cannabis
  • etwa 320 Kilogramm synthetische Drogen
  • mehr als 125.500 Ecstasy-Tabletten
  • fast 400 Kilogramm Kokain
  • 10 Kilogramm Heroin

Steigende Belastung für die Justiz

Bei den Gerichten in Deutschland laufen die "Encrochat"-Verfahren erst jetzt richtig an. Am Landgericht Dresden sind beispielsweise bislang zehn Verfahren wegen des mutmaßlichen Handels mit Betäubungsmitteln via "Encrochat" eingegangen. Und es wird mit weiteren gerechnet. Gerichtssprecher Ziegler sagte "Kripo live", der zusätzliche Eingang dieser Verfahren innerhalb eines recht kurzen Zeitraums führe zu einer höheren Belastung der ohnehin schon stark beanspruchten Großen Strafkammern. "Es kann davon ausgegangen werden, dass es sich in der Regel um längere Zeit in Anspruch nehmende Verfahren handelt", so Ziegler. "Bei realistischer Einschätzung dürfte daher vor allem der tatsächliche Personalbedarf steigen." Beziffern ließe sich dieser derzeit aber noch nicht. Auch an den Landgerichten Erfurt und Magdeburg werden weitere Verfahren im Zusammenhang mit "Encrochat" erwartet.

Nach "Encrochat" wurden weitere Messenger-Dienste genutzt

Für die Organisierte Kriminalität und die Ermittler, die ihr auf der Spur sind, ist Encrochat mittlerweile Schnee von gestern. Inzwischen gab es bereits zwei Nachfolger: "Sky ECC" und "An0m". "Sky ECC" war der Chatdienst eines kanadischen Anbieters. Er warb ebenfalls mit einer unknackbaren Verschlüsselung. Und so wechselten viele Kriminelle nach der Entschlüsselung von "Encrochat" zu "Sky ECC". In seiner Hochphase hatte "Sky ECC" etwa 70.000 Nutzer und damit noch einige mehr als "Encrochat". Doch auch bei "Sky ECC" lasen belgische, französische und niederländische Ermittler ab Februar 2021 mit. Nach der Entschlüsselung der beiden Kryptodienste sind in Europa rund 2.500 Ermittlungsverfahren eingeleitet worden. Das berichtet die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) unter Berufung auf Europol.

Trojanische Messenger-App des FBI

Als Alternative kam danach "An0m" auf den Markt – mit einem großen Unterschied: Die Software wurde nicht von einer privaten Firma betrieben, sondern verdeckt von der US-Sicherheitsbehörde FBI. Den Interessenten aus dem kriminellen Bereich wurde ein Mobiltelefon präsentiert, das angeblich eine vollkommen geheime Kommunikation ermöglicht. Tatsächlich waren die Geräte aber Teil eines Netzwerks des FBI. Die Ermittler lasen von Anfang an mit. Bis zum 7. Juni 2021. An diesem Tag fanden unter dem Titel "Operation Trojanshield" weltweit koordinierte Razzien statt. Zuvor hatten sich Ermittlungsbehörden zahlreicher Länder ausgetauscht – unter anderem über die europäische Polizeibehörde Europol. Die Ermittlungsbehörden sprachen von einem gewaltigen Schlag gegen Schwerkriminelle. Auch in Sachsen gab es Durchsuchungen und Festnahmen.

Unterschiedlich beantwortet wird die Frage, ob die unter anderem vom FBI gewonnen Beweise vor deutschen Gericht überhaupt genutzt werden dürfen. Und ob Nutzerinnen und Nutzer von Verschlüsselungstechnik nicht generell unter Generalverdacht geraten. Hierzu ist das Oberlandesgericht Bremen der Ansicht, dass die Verwendung eines Kryptohandys auf ein konspiratives Verhalten zur Begehung und Verdeckung von Straftaten hindeutet.

Massenüberwachung ohne konkreten Tatverdacht?

Das Landgericht Berlin tendiert offenbar in eine andere Richtung. Einem Spiegel-Bericht zufolge hat es untersagt, Daten aus der "Encrochat"-Entschlüsselung in einem Strafverfahren zu verwenden. Das Ausforschen auf deutschem Staatsgebiet sei unter "Missachtung individualschützender Rechtshilfevorschriften" und ohne den "erforderlichen konkreten Tatverdacht" durchgeführt worden, zitiert der Spiegel aus dem Beschluss des Berliner Landgerichts. Auch wenn der "Encrochat"-Dienst besonders attraktiv für Kriminelle gewesen sei: Allein der Besitz eines Kyptohandys lasse noch keinen Schluss auf strafbares Verhalten zu. Einen Anlass zur Überwachung habe es also nicht gegeben.

Mit Blick auf das Vorgehen der US-Ermittlungsbehörden bei An0m spricht Dennis Kipker, Jurist für Polizei- und IT-Sicherheitsrecht an der Universität Bremen, sogar von Massenüberwachung. Hier sei über mehrere Jahre die Kommunikation von zahllosen Personen scheinbar in Echtzeit mitgelesen worden, so Kipker im Gespräch mit "Kripo live". Diese Art der Überwachung könne letzten Endes auch völlig Unbeteiligte erfassen, ohne dass es einen Verdacht auf eine konkrete Straftat gebe.

Quellen: Kripo Live, dpa, AFP

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | 08. Juni 2021 | 11:30 Uhr