Nachrichten & Themen
Mediathek & TV
Audio & Radio
SachsenSachsen-AnhaltThüringenDeutschlandWeltLeben

Kampf ums SorgerechtPolizei trennt drei Kinder gegen ihren Willen von der Mutter

12. August 2021, 16:56 Uhr

Fünf Kinder leben bei Corinna A. aus Wismar, bis die Polizei drei Kinder gewaltsam aus ihrer Obhut reißt, um sie zum Vater zu bringen. Dabei wollten die Kinder bei der Mutter bleiben. Wieso griff die Polizei also ein?

von Christiane Cichy und Carmen Brehme, MDR Umschau

Corinna A. aus Wismar versteht die Welt nicht mehr, genauso wenig wie ihre drei Kinder, die vor mehreren Monaten durch die Polizei gewaltsam von ihrer Mutter getrennt wurden. Um sich Zutritt zur Wohnung zur Familie zu verschaffen, hatten Polizisten die Tür mit einer Ramme aufgebrochen. "Kinder, wir rammen jetzt die Tür auf. Nehmt die Köpfe dahinter weg. Geht beiseite", habe es dabei gehießen.

Dann seien vier Männer hereingestürzt, um die 13 und 16 Jahre alten Jungen aus der Wohnung zu holen. Diese hatten sich nach Aussage der Mutter in einem Zimmer verbarrikadiert, weil sie bei ihr bleiben und nicht zum Vater gebracht werden wollten. "Sie hatten geweint und wurden abgeführt wie Schwerverbrecher", sagt Corinna A. fassunglos. Das dritte Kind, was ihr zuvor bereits weggenommen wurde, ist ein zehnjähriges Mädchen. Es wurde unter einem Vorwand dem Vater überführt.

Corinna A. musste hilflos mit ansehen, wie Polizisten ihre Kinder aus der Wohnung holten. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Wille der Kinder wurde ignoriert

Die drei Kinder hatten in der Vergangenheit immer wieder vor Gericht ausgesagt, dass sie nicht beim Vater wohnen wollen. Der 16-Jährige gab an, dass sein Lebensmittelpunkt bei der Mutter sei. Dort sei er aufgewachsen, dort seien Schule und Bekannte. Auch der 13-Jährige äußerte, dass er bei der Mama bleiben wolle. Er hätte Angst vor dem Vater. Das zehnjährige Mädchen sagte, dass sie sich mit Mama besser verstehen würde und es dort besser sei als beim Vater. Doch der geäußerte Wille der Kinder wurde ignoriert.

Für Corinna A. in einer Demokratie undenkbar, bis die Polizei ihre drei Kinder unter Zwang aus ihrer Obhut riss. "Wo es keine Kindeswohlgefährdung gibt, wo es den Kindern gut geht", betont die Mutter. Seit dieser Aktion war der Lehrerin jeglicher Kontakt zu ihren Kindern untersagt. Dasselbe gilt für ihren neuen Partner, den kleinen Halbbruder Jonte und den großen Bruder Hanjo.

Bruder Hanjo: "Das trennt die Familie, das macht die Familie kaputt"

"Es sind fünf Geschwister, wovon drei weg sind, die hier seit der Geburt alle miteinander gelebt haben - tagein, tagaus. Der Kleine geht durch die Zimmer und ruft nach seinen Geschwistern, weiß nicht, wo sie sind. Wie soll man einem kleinen Kind erklären, dass seine Geschwister wie vom Erdboden verschluckt sind? Das ist menschenverachtend, so mit uns umzugehen", klagt Corinna A. an.

"Das ist sehr schlimm, dass man mit Menschen, mit denen man lange gelebt hat, nicht mehr kommunizieren kann, sie nicht mehr sehen kann. Sie leben ja jetzt ganz weit weg. Das trennt die Familie, das macht die Familie kaputt", beschreibt der große Bruder Hanjo, wie sehr er unter der Situation leidet.

Die Polizei hat die Wohnungstür aufgerammt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

13-Jähriger läuft weg zur Mutter und fleht die Behörden um Hilfe an

Wenige Wochen nach der gewaltsamen Herausnahme lief der 13-jährige Junge vom Vater weg, zurück zu seiner Mutter. Aus Angst, wieder herausgeholt zu werden, schrieb er immer wieder Briefe an Kinderschutzstellen, aber auch an das Jugendamt: "Ich werde nicht zu meinem Vater gehen. Ich habe Angst vor Rache, weil ich weggelaufen bin. Der Beschluss ist eine totale Missachtung meines Willens."

Der verzweifelte Teenager wandte sich auch an Carola Wilcke, eine Sachverständige der Kinderkommission des Bundestages. "Ich habe ein völlig zerstörtes Kind am Telefon gehabt. Er weinte sehr, war am Ende seiner Kräfte", erinnert sie sich. "Diesen Eindruck hatten auch die OLG-Richter in der Kindesanhörung. Sie haben wahrgenommen, dass der Junge sehr belastet wirkte. Sie haben aber einfach nicht die richtigen Schlüsse daraus gezogen.“

Polizei rückt erneut an – Mutter verletzt, Sohn erneut gewaltsam mitgenommen

Mit Beschluss des Oberlandesgerichtes in Rostock sollte der Junge zum zweiten Mal gegen seinen Willen aus seinem Zuhause geholt werden. Als Polizeikräfte Monate später erneut vor seinem Hause standen, versteckte sich der Junge wieder. Doch diesmal waren noch mehr Polizeikräfte im Einsatz als beim ersten Mal. Auch eine Mitarbeiterin des Jugendamtes und eine Gerichtsvollzieherin waren vor Ort.

Die Mutter versuchte, ihren 13-jährigen Sohn zu schützen, stellte sich immer wieder dazwischen. Auch ihr gegenüber wurde Gewalt angewendet, wie uns vorligendes Videoamterial belegt. "Ich habe Prellungen, blaue Flecken davongetragen, auch eine Blockade der Halswirbelsäule. Dann wurde ich ins Bad gesperrt", sagt sie. Der 13-Jährige hat geweint, sich mit mit allen Kräften gewehrt. Immer wieder hat er wiederholt: "Ich will das nicht. Ich will das nicht." Dennoch ist er aus dem Haus gezogen worden; auf Strümpfen. Wohin ihr Sohn gebracht wurde, sei der Mutter bis heute nicht gesagt worden. Lediglich: dass er in einer Heimeinrichtung sei.

Wieso griff die Polizei überhaupt ein?

2016 hatte sich Corinna A., die von Beruf Lehrerin ist, von ihrem Mann getrennt. Wegen der Kinder kam es dann immer wieder zum Konflikt und zu Prozessen vor dem Familiengericht. Der Versuch, dass die Kinder wöchentlich zwischen Vater und Mutter hin und her wechseln, scheiterte. Die Kinder sagten, dass ihnen das wechselartige Besuchsmodell nicht gut tat. Deswegen sei es zum Streit mit dem Vater gekommen und sie hätten keinen Kontakt mehr zu ihm haben wollen.

Auf Antrag des Vaters beschloss das zuständige Familiengericht in Wismar, dass die drei Kinder auch unter Anwendung von unmittelbarem Zwang und Unterstützung von Polizeibeamten bei der Mutter herausgeholt und zum Vater gebracht werden.

Familienrechts-Experte Ludwig Salgo kritisiert, Behörden würden außer Acht lassen, "was das auch für langfristige Schäden für die Kinder bedeuten können". Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Gewaltsame Herausnahme von Kindern gegen ihren Willen kein Einzelfall ...

Wir kontaktieren das Jugendamt, die zuständigen Gerichte und den Vater, wollen wissen, was so einen Eingriff der Polizei rechtfertigen soll. Doch wir erhalten keine Auskunft. Was wir wissen: Der Fall Corinna A. ist kein Einzelfall. Familiengerichte in Deutschland beschließen immer wieder, dass Kinder gegen ihren Willen gewaltsam aus ihrem sozialem Umfeld geholt werden, weil sie den Umgang zum anderen Elternteil ablehnen.

... aber per Gesetz verboten

Dabei ist bei der Durchsetzung von Umgang die Anwendung von Gewalt sogar per Gesetz verboten, betont Professor Ludwig Salgo, einer der führenden Kinderrechtsexperten Deutschlands. Doch dieses Verbot werde mit einem "Trick" umgangen, in dem gesagt werde: "Kinder, die keinen Umgang haben, sind ja schwerstens gefährdet". Dabei sei die Annahme, dass Kinder, die keinen Umgang haben oder Umgang ablehnen, gefährdet wären, durch die Humanwissenschaften "nirgends bestätigt". Doch in berechtigten Fällen müsse Polizei Gewalt anwenden können, sagt der Kinderrechtsexperte: "Natürlich gibt es Situationen, wo der Staat, um von Kindern Gewalt abzuwenden, auch mal Gewalt gegen Kinder anwenden darf. Das ist aber nicht unser Fall."

Corinna A. aus Wismar wurde der Vorwurf gemacht, den Willen ihrer drei Kinder manipuliert zu haben. Dabei gab es keine Beweise für diese Behauptung. Auch dies sei kein Einzelfall in Sorgerechtstreiten, so Carola Wilcke, Sachverständige der Kinderkommission des Bundestages: "Dieses Phänomen beobachte ich recht häufig am Familiengericht. Wenn ein Kindeswille den beteiligten Protagonisten nicht gefällt, dann wird er sehr schnell dazu erklärt, dass er manipuliert sei. Das Bemerkenswerte ist, diese angebliche Manipulation wird überhaupt nicht untersucht, es wird in den Raum gestellt". Dann würde daraus der Schluss begründet, dass der Wille des Kindes daher nicht relevant sei. "Und die Zeche zahlen die Kinder", erklärt die Expertin für Kinderrechte.

Experten warnen vor langfristigen Schäden bei den Kindern

Professor Ludwig Salgo kritisiert, dass die Behörden dabei außer Acht ließen, welche Bedeutung ein solcher Eingriff für die Kinder hat, "was das auch für langfristige Schäden für die Kinder bedeuten können". Hier sei eine gesetzliche gegebene Fortbildung der Richter nötig, "damit sie mit Kindern besser kommunizieren können und mehr von Bindung und Trennung im Kindesalter verstehen". Das würde sie auch befähigen, vorhandenen Gesetze anwenden zu können, um Kindern in solchen Sorgerechtstreiten wirklich zu helfen.

Carola Wilcke warnt ebenfalls vor den seelischen Folgen. Wenn man wie im Fall von Corinna A. ein Kind in ein Heim oder zum Vater umplatziert und aus seinem gewohnten sozialen Umfeld herausreißt, seien die Folgen katastrophal. "Diese Kinder stürzen in eine tiefe Krise, was mit viel Traurigkeit, Wut, Hilflosigkeit einhergeht. Das sind alles Kriterien, die für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung alles andere als förderlich sind. Also macht man bei diesen Kindern viel mehr kaputt, als dass es am Ende nutzt", sagt Wilcke.

Mehr zum Thema

Quelle: MDR Umschau

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Umschau | 10. August 2021 | 20:15 Uhr