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In Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt es bundesweit am wenigsten Hilfsangebote für Wohnungs- und Obdachlose. (Symbolfoto) Bildrechte: picture alliance/dpa | Hauke-Christian Dittrich

MDR-Thementag "Not in der Nähe"Wohnungs- und Obdachlosigkeit: Wieso es an Hilfsangeboten und belastbaren Zahlen mangelt

17. Januar 2023, 05:00 Uhr

Kälte und steigende Preise für Energie und Lebensmittel erschweren diesen Winter vor allem den Menschen das Leben, die von Wohnungslosigkeit bedroht oder betroffen sind. Wie groß das Problem und die Bedarfslage in Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen tatsächlich sind, lässt sich nur durch belastbare Daten feststellen. Diese fehlen beim Thema Wohnungslosigkeit jedoch.

Obdachlose sind bei zunehmender Kälte großen Gefahren ausgesetzt und deshalb besonders im Winter auf Hilfe angewiesen. Auch Menschen, die nicht auf der Straße leben, aber von Wohnungslosigkeit bedroht oder betroffen sind, trifft dieser Winter aufgrund der Inflation und steigender Energiekosten hart.

Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) gab es in Deutschland im Jahr 2020 ungefähr 417.000 Menschen ohne Wohnung. Der Schätzung nach lebten 45.000 davon ohne jede Unterkunft auf der Straße. In einer Studie von 2019 berechnete die Gesellschaft für innovative Sozialforschung und Sozialplanung (GISS) eine Zahl wohnungsloser Menschen von etwa 313.000 bis 337.000.

Wohnungslosigkeit – Obdachlosigkeit – WohnungsnotfallWohnungslose Menschen verfügen über keinen mietvertraglich abgesicherten oder eigenen Wohnraum. Dazu gehören Personen, die obdachlos sind, vorübergehend bei Verwandten oder Bekannten unterkommen, in Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege oder in kommunalen Einrichtungen leben.

Die Begriffe Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit werden häufig synonym verwendet. Als obdachlos wird allerdings nur ein Teil der wohnungslosen Menschen bezeichnet. Als obdachlos gelten Personen, die im öffentlichen Raum wie beispielsweise in Parks, Gärten, U-Bahnhöfen, Kellern oder Baustellen übernachten.

Weiter gefasst ist dagegen der Begriff des Wohnungsnotfalls. Von einem Wohnungsnotfall spricht man, wenn eine Person wohnungslos ist, beispielsweise durch eine Räumungsklage von Wohnungslosigkeit bedroht ist oder in unzumutbaren Wohnverhältnissen lebt, beispielsweise in einer Wohnung mit erheblichen baulichen Mängeln.

Die Zahlen der BAGW und der GISS beruhen auf Hochrechnungen und freiwilligen Angaben der Anlaufstellen für Wohnungsnotfallhilfe. Wie viele wohnungslose und von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen tatsächlich in Deutschland leben, ist unklar. Lokale Zahlen für Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen werden durch Schätzmodelle und Hochrechnungen nicht abgedeckt.

In Sachsen-Anhalt waren 2022 die wenigsten wohnungslosen Personen untergebracht

Weil die dünne Datenlage bekannt ist, hat die Bundesregierung 2020 das Wohnungslosenberichterstattungsgesetz eingeführt. Dazu gehört eine bundesweite Statistik untergebrachter wohnungsloser Personen. Diese umfasst wohnungslose Menschen, die am Stichtag in vorübergehenden Übernachtungsmöglichkeiten oder in Not- und Gemeinschaftsunterkünften untergebracht waren. Zum ersten Mal wurde die Erhebung am 31. Januar 2022 durchgeführt. Dabei wurden deutschlandweit 178.145 Menschen gezählt.

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In Sachsen-Anhalt waren am Stichtag 365 und somit im Bundesvergleich am wenigsten wohnungslose Personen untergebracht. Thüringen folgt mit 940 Personen auf Platz fünf, Sachsen mit 1.665 auf Platz sieben. Innerhalb der Bundesländer finden sich die höchsten Zahlen in den Städten. In Dresden waren innerhalb des MDR-Gebiets am 31. Januar 2022 die meisten wohnungslosen Personen untergebracht. Es folgen Leipzig, Erfurt, Chemnitz und Jena.

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Bundesstatistik erfasst nur eine Teilgruppe der Wohnungslosen

Trotz der Einführung der Bundesstatistik lassen sich keine belastbaren Aussagen zu Wohnungslosigkeit in Deutschland machen. Denn die Statistik zählt nur Menschen, die am Stichtag in Notunterkünften untergebracht waren und vernachlässigt damit einen großen Teil der Betroffenen:

  • Wohnungslose Menschen in sozialen Einrichtungen (Pflegeeinrichtungen, Heime für Menschen mit Behinderung, Frauenhäuser, Suchtkliniken, betreute Wohnungen der Jugendhilfe, Unterkünfte für Geflüchtete),
  • wohnungslose Personen, die bei Freunden, Familien oder Bekannten unterkommen,
  • Obdachlose, die auf der Straße leben,
  • Personen, die am Stichtag noch nicht oder nicht mehr akut von Wohnungslosigkeit betroffen sind, aber als Wohnungsnotfälle gelten.

Kritik an der Vorgehensweise bei der Bundesstatistik

Werena Rosenke ist Geschäftsführerin der BAGW. Nachdem die Arbeitsgemeinschaft 25 Jahre lang eine Statistik gefordert hatte, sei man zwar froh, dass endlich Bewegung in die Sache gekommen ist. Man hätte sich allerdings ein anderes Vorgehen bei der Erhebung gewünscht.

Statt nur die Zahl der Übernachtungen in Notunterkünften an einem einzigen Tag zu erheben, solle man lieber alle Kontakte zum Hilfesystem über das Jahr hinweg messen. Eine daraus resultierende Statistik wäre, so Rosenke, um einiges umfassender und aussagekräftiger. Denn dadurch könne man alle Personen einbeziehen, die Beratungsangebote zu akuter oder drohender Wohnungslosigkeit in Anspruch nehmen.

Wir hätten uns eine umfassendere und aussagekräftigere Statistik gewünscht.

Werena Rosenke

Um den Datenmangel zumindest teilweise auszugleichen, ist das Bundesministerium für Arbeit und Soziales gesetzlich dazu verpflichtet, alle zwei Jahre einen zusätzlichen Bericht zu verdeckter Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit zu veröffentlichen. Im Erhebungszeitraum 2022 waren demnach 38.500 Erwachsene und Kinder in Deutschland obdachlos. Weitere 54.800 lebten in verdeckter Wohnungslosigkeit, also beispielsweise bei Familienmitgliedern, Bekannten oder Freunden.

Ostdeutsche Bundesländer liefern kaum Daten

In der Erhebung der GISS von 2019 und einem aktuellen Statistikbericht der BAGW wird darauf hingewiesen, dass nur wenige der verwendeten Daten aus Ostdeutschland stammen. In der Studie der GISS lag die Beteiligung von Gemeinden in Westdeutschland bei knapp 80 Prozent, in Ostdeutschland bei nur 66 Prozent. Teilweise hieß es in den Begründungen der Gemeinden: "Wir haben keine Wohnungslosen".

Der jährliche Statistikbericht der BAGW, der die Lebenslage von Wohnungsnotfällen zusammenfasst, beruht auf freiwilligen Angaben von Hilfseinrichtungen. Über ein Dokumentationssystem überbringen Einrichtungen und Angebote der Wohnungsnotfallhilfe Daten an die BAGW. Hilfseinrichtungen aus vielen Bundesländern beliefern die BAGW zu diesem Zweck mit Informationen. Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt und Thüringen beteiligen sich nicht.

Datenschutz, Mangel an Ressourcen und fehlende Kommunikation

Werena Rosenke vermutet als Grund dafür einen Mangel an Ressourcen. In kleineren Einrichtungen könne das nötige Software-System teilweise nicht finanziert werden. Auch der mit der Datenübertragung verbundene Aufwand könne personell oft nicht geleistet werden. Außerdem müsse natürlich ein gewisses Grundinteresse daran bestehen, Daten zu dokumentieren und weiterzugeben.

Fragt man bei den Trägern selbst nach, heißt es, man sei von der BAGW nie über eine mögliche Zusammenarbeit informiert worden. Obwohl die Stadtmission Halle Mitglied bei der BAGW ist, habe man dort nie eine Anfrage erhalten, sagt Heiko Wünsch, Abteilungsleiter der Wärmestube. Seiner Meinung nach fehlt es an klarer Kommuniaktion. Auch Mike Silweschak vom Haus "Ypsilon" in Lutherstadt Wittenberg wundert sich, dass nie eine Abfrage der Daten zu Wohnungslosigkeit erfolgt ist. Als Einrichtung der Erwachsenenhilfe habe man dort unter anderem mit Wohnungsnotfällen zu tun.

Es fehlt an klarer Kommunikation.

Heiko Wünsch, Abteilungsleiter der Wärmestube der Stadtmission Halle

Die beiden Sozialarbeiter sind sich einig: Man müsse sich zwar auch Gedanken über die Finanzierung einer Software und den personellen Aufwand der Dokumentation machen. Im ersten Schritt müsse man aber erst einmal grundsätzlich von der BAGW über die Statistik und Fragen des Datenschutzes informiert werden. Werena Rosenke sieht dieses Anliegen vonseiten der BAGW erfüllt: "Wir verbreiten regelmäßig Infos über unser Dokumentationssystem. Die Träger entscheiden dann aber immer noch selbst, ob sie mitmachen wollen".

In Sachsen-Anhalt und Thüringen gibt es am wenigsten Hilfsangebote

Ein grundsätzliches Problem in Thüringen und Sachsen-Anhalt für die Erfassung von Daten sei zudem der Mangel an freien Trägern der Sozialhilfe, also der von der Gemeinde unabhängigen Trägern, stellen Werena Rosenke, Heiko Wünsch und Mike Silweschak fest. Das lässt sich zudem durch die Auswertung des "Wo+Wie-Portals" der BAGW bestätigen, in dem Angebote und Einrichtungen der Hilfen im Wohnungsnotfall verzeichnet sind.

Die Bundesländer mit den wenigsten Einträgen sind Sachsen-Anhalt mit sieben und Thüringen mit zehn. Sachsen liegt bundesweit auf Platz acht. 15 der 35 Hilfsangebote gehören zur Stadt Leipzig.

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"In Ostdeutschland musste nach der Wende vieles erst mal gegründet werden, während es im Westen schon eine blühende Trägerlandschaft gab", erklärt Silweschak. Eine Schwierigkeit sei die Finanzierung. Die meisten Hilfsangebote basieren zum Großteil auf ehrenamtlicher Arbeit. Die Geschäftsführerin der BAGW meint: "In Ostdeutschland gibt es deutlich weniger Angebote, die zudem noch schlecht finanziert und personell schlecht ausgestattet sind. Also insgesamt deutlich schlechtere Voraussetzungen."

In Ostdeutschland sind die Voraussetzungen für Hilfsangebote schlechter.

Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAGW

Es könne schon sein, dass es in Sachsen-Anhalt und Thüringen einfach weniger Bedarf gibt, sagt der Sozialarbeiter des Haus "Ypsilon". Andere Bundesländer haben mehr Großstädte und Ballungsräume, in denen der Wohnraum knapp ist. Mit Sicherheit sagen kann man das aufgrund der großen Dunkelziffer nicht. Um den Bedarf an Hilfseinrichtungen besser einschätzen zu können, bräuchte es eben zuverlässige Daten.

Aktuell verfügbare Zahlen aus Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt

Um einen spezifischeren Eindruck der Lage in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zu bekommen, hat MDR Data die aktuellsten offiziellen Daten zu Wohnungs- und Obdachlosen der jeweiligen Bundesländer auf einer Karte dargestellt. In Thüringen und Sachsen-Anhalt stammen die Informationen aus Antworten auf Anfragen von Landtagsabgeordneten an die jeweilige Landesregierung. In Sachsen kommen die Informationen von der Diakonie. Die Kreise und kreisfreien Städte, für die Informationen vorliegen, sind auf der Karte markiert.

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In Sachsen-Anhalt stammen die Daten aus der Antwort auf die kleine Anfrage von Susan Sziborra‐Seidlitz (Bündnis 90/Die Grünen) von Februar 2022. Die Landesregierung merkt an, dass keine einheitlichen statistischen Daten oder Schätzungen zu Obdachlosigkeit vorliegen. Deshalb basieren die Informationen auf freiwilligen Angaben der Ämter der jeweiligen Kreise und kreisfreien Städte.

In Sachsen gibt die Diakonie jedes Jahr einen Lebenslagebericht zur Wohnungsnotfallhilfe heraus. Darin werden Wohnungsnotfälle der diakonischen Kontakt- und Beratungsstellen sowie des ambulant betreuten Wohnens erhoben. Einrichtungen der Straßensozialarbeit und Tagestreffs sind bei der Zählung nicht beteiligt. 2021 gab es bei der Diakonie Sachsen insgesamt 3.018 gezählte Fälle der Wohnungsnotfallhilfe.

In Thüringen stammt die letzte verfügbare Datenquelle aus dem Jahr 2016. In der Antwort auf die kleine Anfrage von Corinna Herold (AfD) hat die Landesregierung Zahlen der obdachlosen Menschen in den Kreisen und kreisfreien Städten festgehalten. Die Informationen stammen aus den Quartalsmeldungen der Kommunen und von Jobcentern. Auch hier war die Übermittlung der Daten freiwillig.

Hilfe ist unabhängig von den Zahlen wichtig

Selbst wenn nicht bekannt ist, wie viele Menschen in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen tatsächlich betroffen sind, Hilfe für Wohnungs- und Obdachlose ist auch in diesem Winter wichtig. Werena Rosenke appelliert in einem Pressestatement der BAGW an die Kommunen, aber auch an jeden einzelnen Bürger: "Gemeinsam müssen wir auf die achten, die sich nicht selbst helfen können und ohne Wohnung oder Obdach leben müssen".

Anmerkung der Redaktion: In einer erstern Version haben wir bei der Studie der GISS von einer Schätzung gesprochen. Da es sich um eine empirische Erhebung handelt, wurde dies am 23. Januar 2023 korrigiert.

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MDR (Katharina Forstmair)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 17. Januar 2023 | 19:00 Uhr

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