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Rückblick und AusblickBarrierefreiheit in Sachsen-Anhalt: Das Projekt endet, die Berichterstattung nicht

26. Mai 2024, 12:30 Uhr

Mitte April ist das crossmediale Projekt "Stopp! Wo kommst du nicht voran?" von MDR SACHSEN-ANHALT und CORRECTIV gestartet. Projektleiterin Ricarda Wenge schildert erste Erfahrungen. Sie meint: "Mittendrinner" als die Mobilen Lokalredaktionen geht es nicht. Und auch, wenn das Projekt endet, geht die Berichterstattung weiter – über ein Thema, das alle betrifft.

Wenn wir – Mitglieder des Projektteams von MDR SACHSEN-ANHALT und CORRECTIV – durch die Stadt gehen, sehen, hören und fühlen wir sie überall: Barrieren. Den schlecht bedienbaren Fahrkartenautomaten, das Getümmel auf dem Wochenmarkt, gepaart mit einem Potpourri an Sinneseindrücken, aber ohne Möglichkeit des Rückzugs für Autistinnen und Autisten, ebenso die "paar" Stufen zur Arztpraxis, die für Rollstuhlfahrer, Senioren oder Eltern mit Kinderwagen schnell unüberwindbar sein können.

Mobile Lokalredaktionen in drei Orten: Wo gibt es Barrieren?

Genau dieser Perspektivwechsel ist ein Ziel unseres Projektes. Mit Unterstützung der Bürgerinnen und Bürger wollen wir herausfinden, wie barrierefrei Sachsen-Anhalt ist. Dazu waren wir in drei Städten mit einer Mobilen Lokalredaktion vor Ort.

Für mehrere Tage haben wir unser Quartier dort aufgeschlagen, wo viele Menschen vorbeikommen: In Dessau-Roßlau waren wir im "mitmach.lokal" an der Kavalierstraße anzutreffen, in Halberstadt hatten wir uns in einem Ladenlokal am Fischmarkt niedergelassen, in Tangermünde direkt neben der Touristinformation – ausgestattet mit Beachflags, Laptops und einem offenen Ohr für unsere Gäste. Für uns war es immer eine Überraschung, wer als Nächstes durch die Redaktionstür kommt.

Wo es für Rollstuhlfahrer in Halberstadt nicht weitergeht

In Halberstadt hatte Karl-Heinz Litschko einen DIN A5-Zettel dabei, seine Liste an Barrieren füllte Vorder- und Rückseite. "Die Wege auf dem Friedhof sind für Rollstuhlfahrer wie mich eine Katastrophe", sagte er. Angehörige könnten unter Umständen nicht einmal das Grab von Verstorbenen erreichen. Außerdem gebe es im Theater nicht genügend Rollstuhlplätze.

Gleichzeitig erfuhren wir bei einem Spaziergang mit dem Rolli-Club Halberstadt, dass vielerorts Barrieren bereits erfolgreich beseitigt worden sind. Das trifft auch auf den Halberstädter Dom und seinen Kreuzgang zu. Kerstin Römer führte uns einen Lift vor, der sich elegant in die Architektur schmiegt.

Schüler in Dessau wünschen sich barrierefreie Spielplätze

In Dessau-Roßlau haben uns Förderschüler der Regenbogenschule besucht und sich mehr Barrierefreiheit auf Spielplätzen gewünscht. "Probleme ergeben sich auch dadurch, dass es in der Stadt vielerorts an Beschilderung in Einfacher oder Leichter Sprache fehlt", nannte Lehrerin Béatrice Haas einen weiteren Punkt.

Kopfsteinpflaster in Tangermünde wird zum Problem

In Tangermünde stellt das Kopfsteinpflaster Monique Guske vor eine Herausforderung, oft hätten sich bereits Schrauben ihres Rollstuhls gelöst. "Man kriegt Angst, wenn ein Rad locker wird", sagt sie. Doch Sorge bereitet ihr noch etwas anderes: "Ich frage mich, ob ich jemals die Grundschule meines Sohnes von innen sehen werde und an Elternversammlungen teilnehmen kann."

Hartmut Behr berichtete erfreut von einem Café-Betreiber im Ort, der sofort reagierte, als er auf den nicht barrierefreien Zugang zu seinem Lokal aufmerksam gemacht wurde: "Er hat sein Handy gezückt und im Internet nach einer mobilen Rampe geschaut."

Interaktive Karte zeigt Barrieren in Sachsen-Anhalt

Derweil füllt sich online die Karte mit schwarzen Punkten. Denn auch im Netz können uns Menschen Barrieren melden, Fotos hochladen, Hindernisse verorten und Lösungsvorschläge äußern. Manche Barrieren haben wir aus eigener Anschauung erlebt. Etwa bei der Anreise, wenn wir mit Koffer kaum, dafür aber lautstark vorankamen, weil das Pflaster zu holprig ist und abgesenkte Bordsteine Mangelware sind. Oder wenn Menschen in die Mobile Lokalredaktion kamen und uns fragten, ob sie das WC nutzen dürfen. Öffentliche barrierefreie Toiletten sind rar gesät.

Manchmal sind es fehlende kulturelle Angebote am Nachmittag, die gerade Seniorinnen und Senioren daran hindern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Manchmal ist es auch das Geld.

Wir haben rund um die Mobilen Lokalredaktionen eine Reihe von Mitmach-Aktionen angeboten und alle waren kostenlos. Angefangen vom Barriereclash-Café für zwei Generationen über die Graffiti-Aktion für Jugendliche, den inklusiven Sportnachmittag und den Kreativ-Workshop mit gemeinsamem Pizza-Essen bis hin zum Familien-Picknick und der Audio-Ausstellung mit Erfahrungsberichten von Menschen im Autismus-Spektrum. Dabei konnten wir uns der Unterstützung lokaler Akteure sicher sein, die unser Projekt umfangreich auf ihren Kanälen bewerben.

Zwischenfazit: Mobile Lokalredaktionen sind mittendrin

Wenn ich gebeten werde, eine Zwischenbilanz zum Projekt zu ziehen, geht damit oft die Frage nach Zahlen einher: Wie viele Menschen sind in die Mobilen Lokalredaktionen gekommen, wie viele waren bei den Veranstaltungen? Für alle Projektbeteiligten sind es aber nicht die Zahlen, die sich einprägen.

Einige Einblicke von den Events

Gleich zu Beginn des Lokalredaktion in Tangermünde ging es aber erstmal zu einer Stadtteilbegehung nach Stendal. Bildrechte: MDR/Ricarda Wenge
Auch die Interessengruppe "Barrierefreies Stendal" war mit dabei. Bildrechte: MDR/Ricarda Wenge
In der Lokalredaktion fand auch eine Austellung mit Audioelementen statt. Bildrechte: Ricarda Wenge/MDR
Besucherinnen und Besucher konnten in die Welt von Autistinnen und Autisten blicken. Bildrechte: Ricarda Wenge/MDR
Die Audios wurden zuvor mit Autistinnen und Autisten aufgenommen. Bildrechte: Ricarda Wenge/MDR
Am Baum der Inklusion konnten Menschen ihre Wünsche für Tangermünde aufschreiben und in den Baum hängen. Bildrechte: Ricarda Wenge/MDR

Es sind die Begegnungen, die oft halbstündigen Gespräche, die wir geführt haben. Die Dankbarkeit, die eine Frau ausdrückt, als sie uns in der Mobilen Lokalredaktion sonnengelbe Tulpen vorbeibringt. Die Freudentränen, die eine ältere Frau bei unserer Tanzaktion vergießt, weil sie seit Jahren nicht mehr getanzt hat. Unser Erstaunen, als uns Ingo Kappel vom Blinden- und Sehbehindertenverband Sachsen-Anhalt im Restaurant eine App präsentiert, die dem Wernigeröder in schnellem Tempo und sehr zuverlässig die Speisekarte vorliest. Es ist das großformatige Kunstwerk, das wir am Ende eines Workshops von den Teilnehmenden der Reinhard-Lakomy-Schule, der Diakonie Werkstätten Halberstadt und des Cecilienstifts geschenkt bekommen, zusammen mit den vielen Themenideen, die wir aus dieser Begegnung mitnehmen. 

MDR sucht den Dialog – auch mit Skeptikern

Als MDR wollen wir mittendrin sein. "Mittendrinner" als wir es in diesen Wochen waren, geht wohl kaum. An Markttagen standen wir auf dem Platz, machten Menschen auf unser Projekt aufmerksam, suchten den Dialog – auch wenn es unbequem wurde. Natürlich bekamen wir den Vertrauensverlust in Medien allgemein zu spüren, doch wir ermuntern gerade die Skeptiker, sich an unserem Projekt zu beteiligen. Wer glaubt, dass wir auswählen, nach dem Motto "die eine Barriere nein, die andere ja", kann sich vom Gegenteil überzeugen. Nur Nonsense und Fake News veröffentlichen wir nicht.

In der Online-Karte kommen auch Zahlenliebhaber auf ihre Kosten, jeder kann sehen, wie viele Einträge es bereits gibt. Und wer genau hinsieht, wird merken, dass diese auch außerhalb von Sachsen-Anhalt getätigt worden sind: in Hamburg, Sachsen, Thüringen, NRW, Baden-Württemberg und Bayern. Was einmal mehr zeigt, dass unser Projekt das Potenzial hat, sich über weitere Bundesländer auszudehnen.

Warum Barrierefreiheit für alle Menschen wichtig ist

Wir haben das Projekt im Landesfunkhaus und darüber hinaus von Anfang an crossmedial gedacht und umgesetzt. So konnten wir mithilfe der Kolleginnen und Kollegen das Thema auf allen Ausspielwegen über Wochen sichtbar machen und tun es noch immer. Das ist ein echter Erfolg. Die MDR Barrierefreiheit unterstützt uns tatkräftig und stellt unter anderem ausgewählte Angebote in Leichter Sprache bereit.

Barrierefreiheit ist kein Special-Interest-Thema, es berührt Kultur genauso wie Sport, das ganz junge bis hin zum älteren Publikum – und es gehört nicht nur zu bestimmten Anlässen ins Programm. Mit dem Projekt wollen wir dieses Verständnis fördern. Die Rückmeldungen stimmen uns zuversichtlich. Man sollte nie vergessen: Ein Unfall, eine Erkrankung reicht und aus Fußgängern können Rollstuhlfahrer werden.

Nicht jede Behinderung ist sichtbar

Oft werde ich von Kolleginnen und Kollegen gefragt, warum und seit wann ein Protagonist im Rollstuhl sitzt, seit wann er oder sie eine Sehbehinderung hat. Oft muss ich passen. Ich könnte eher Fragen zum Musikgeschmack, den Essvorlieben oder dem MDR-Lieblingsmoderator der Person beantworten. Denn im direkten Austausch spielt die Behinderung keine Rolle. Wenn die- oder derjenige nicht von sich aus erzählt, sehe ich keinen Grund nachzufragen.

Außerdem: Nicht alle Behinderungen sind sichtbar. Mit dem Projekt rücken wir auch die unsichtbaren wie Autismus, Angststörungen, Depression und chronische Müdigkeit in den Fokus. "Meine größte Barriere ist fehlende oder mangelhafte Empathie seitens anderer Menschen, die nicht nachvollziehen können, in welcher Situation ich mich befinde und wie eigentlich mein tägliches Leben aussieht", sagte Christian Schmalstieg, der mit Multipler Sklerose und Migräne lebt und sich an einer unserer Aktionen beteiligt.

Durch das Berichten Barrieren abbauen

Wir Journalistinnen und Journalisten können keine barrierefreien Toiletten in Innenstädten installieren, aber wir können auf Barrieren aufmerksam machen – und dadurch etwas bewegen. 2023 hat Comedian und Schauspieler Tan Caglar für #hinREISEND getestet, wie barrierefrei Ausflugsziele in Halle an der Saale sind. Der unebene Weg hin zum Beatles Museum hat ihn als Rollstuhlfahrer nicht begeistert.

Die Betreiber haben reagiert, einen Hinweis vor dem Tor angebracht, verbunden mit dem Angebot, Besucherinnen und Besuchern behilflich zu sein. Langfristig beabsichtigen sie, den Weg begradigen zu lassen. Solches Feedback ermuntert uns, weiter am Ball zu bleiben. Genauso wie folgende Erkenntnis: "Auch ein Sehender kann blind durch die Gegend gehen", meinte Marianne Heine, als sie im Rahmen einer Stadtteil-Begehung erstmals Notiz von den taktilen Handlaufschildern an der Bahnstation "Stendal Hochschule" nahm.

Bei einer Stadtteil-Begehung in Stendal konnten die Teilnehmenden Orte nochmal ganz neu entdecken. Bildrechte: MDR/Ricarda Wenge

Wenn das Projekt endet, ist die Berichterstattung nicht vorbei

Am 27. Mai, am Vorabend des Diversity-Tags, laden wir ab 18 Uhr in Tangermünde zum Barriere-Austausch ein (Grete-Minde-Straße 1). Tan Caglar und Cartoonist Phil Hubbe werden zu Gast sein, aber auch Menschen, die wir während des Projektes kennengelernt haben. Online können noch bis zum 31. Mai Barrieren gemeldet werden.

Dann ist das Projekt vorbei, die Berichterstattung aber geht weiter. Die Geschichten der Menschen, unsere Recherchen werden in längere Formate wie #hinREISEND und exactly münden.

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MDR (Ricarda Wenge, Maren Wilczek)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 24. Mai 2024 | 19:00 Uhr

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