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Verhandlung in MagdeburgHalle-Anschlag: Alle wichtigen Infos zum Prozess

27. August 2020, 15:19 Uhr

Neun Monate nach dem Anschlag von Halle hat in Magdeburg der Prozess gegen den Attentäter begonnen. Ein Prozess, wie ihn Sachsen-Anhalt so noch nicht erlebt hat. Das Wichtigste zum Start der Verhandlung im Überblick

von Marie-Kristin Landes, MDR Sachsen-Anhalt

Der 9. Oktober 2019 ist ein Tag, den nicht nur Halle und Sachsen-Anhalt, sondern das ganze Land so schnell nicht vergessen werden. Gegen Mittag versucht Stephan B. mit Sprengsätzen und Schusswaffen gewaltsam in die Synagoge einzudringen. Dort feiern zu diesem Zeitpunkt rund 50 Menschen den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Stephan B. scheitert an der Tür. Noch auf der Straße vor der Synagoge erschießt er eine Fußgängerin, die zufällig an ihm vorbeigeht. Danach zieht er durch das Paulusviertel, dringt in einen naheliegenden Döner-Imbiss ein und erschießt dort einen Gast. Ihm gelingt trotz Schusswechsel mit der Polizei die Flucht aus Halle. All das streamt er live über eine Helmkamera im Internet.

In Wiedersdorf, knapp 15 Kilometer entfernt, fordert er gewaltsam von zwei Anwohnern die Schlüssel zu einem Fahrzeug vor ihrem Haus. Das Paar wird dabei schwer verletzt. In einer benachbarten Werkstatt werden ihm kurz darauf die Schlüssel zu einem Taxi herausgegeben. Anschließend flieht er mit diesem in Richtung A9. Einige Kilometer weiter endet seine Fahrt. Stephan B. wird auf der B91 in Werschen bei Zeitz festgenommen.

Der Vorwurf

Die Bundesanwaltschaft hat am 16. April 2020 Anklage gegen Stephan B. erhoben. Die Anklageschrift besteht aus mehreren Punkte. Am schwerwiegendsten ist der Vorwurf des zweifachen Mordes. Am 9. Oktober 2019 hatte Stephan B. erst die Fußgängerin Jana L. vor der Synagoge, kurz darauf im Imbiss "Kiez-Döner" Kevin S. erschossen. Darüber hinaus wird ihm versuchter Mord in 68 Fällen vorgeworfen. Außerdem werden dem Angeklagten fahrlässige und gefährliche Körperverletzung, versuchte räuberische Erpressung mit Todesfolge, schwere räuberische Erpressung sowie Volksverhetzung nach §130 des Strafgesetzbuches (StGB) vorgeworfen.

Dem Angeklagten droht damit eine lebenslange Haftstrafe. In Deutschland gibt es für diese keine Höchstgrenze. Allerdings können lebenslange Haftstrafen nach 15 Jahren auf Bewährung ausgesetzt werden. Wird im Prozess eine "besondere Schwere der Schuld" festgestellt, ist dies nicht möglich. Zusätzlich könnte das Gericht in seinem Urteilsspruch eine anschließende Sicherungsverwahrung verhängen. Dies wird möglich, wenn davon auszugehen ist, dass ein verurteilter Täter auch nach Entlassung aus der Haft eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt.

Der Angeklagte

Vor Gericht verantworten muss sich der 28-jährige Stephan B. aus Benndorf. Eine Gemeinde mit rund 2.300 Einwohnern im Landkreis Mansfeld-Südharz. Zuletzt wohnte er dort bei seiner Mutter. Von Benndorf aus soll er auch das Attentat geplant haben. Nur wenige Details über sein Leben sind bekannt. Er hat Abitur gemacht, Wehrdienst bei der Bundeswehr absolviert und ein Chemiestudium angefangen, aber nicht abgeschlossen. Bis zum 9. Oktober 2019 ist der Angeklagte den Behörden nicht aufgefallen.

Laut Anklageschrift soll er aus einem rechtsextremistischen, antisemitischen und rassistischen Motiv gehandelt haben. Das geht auch aus seinem "Manifest" hervor, das kurz vor der Tat ins Internet gestellt wurde. Detailliert sind darin seine größtenteils selbstgebauten Waffen beschrieben. Zudem leugnet er den Holocaust zu Beginn des von ihm ins Internet gestellten Livestreams. Wann und wie genau sich Stephan B. radikalisiert hat, sind zwei der Fragen, deren Beantwortung im Verlauf des Gerichtsprozesses erwartet werden. Er gilt als isolierter Einzeltäter, der sich vor allem in Foren und Chaträumen im Internet aufgehalten haben soll. Sein Manifest ist gespickt mit Codes und Begriffen der Gamerszene. Der Livestream zu seiner Tat ähnelt einem Videospiel. Laut Generalbundesanwalt hat er sich in Tradition vergleichbarer Attentäter gesehen wie Brenton Tarrant, dem Attentäter von Christchurch in Neuseeland.

Seit seiner Festnahme sitzt der Angeklagte in Untersuchungshaft. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch aus der JVA Halle am 30. Mai 2020 wurde er in die JVA Burg verlegt. Dort befindet er sich wie schon in Halle in Einzelhaft. Seine Zelle wird rund um die Uhr per Kamera überwacht. Auch während des täglichen Hofgangs ist Stephan B. isoliert von Mitgefangenen. Seit dem Fluchtversuch muss er währendessen Handschellen tragen. Für die Verhandlungstage wird er unter hohen Sicherheitsvorkehrungen von Burg nach Magdeburg und zurück gebracht werden müssen.

Der Verhandlungsort

Zuständig für den Prozess ist das Oberlandesgericht Naumburg. Geführt wird er vor dem 1. Strafsenat, der hier als Strafschutzsenat zusammenkommt. Aus Platzgründen wird in den Räumlichkeiten des Landgerichts Magdeburg verhandelt. Allerdings nicht im Hochsicherheitssaal. Dieser ist wie ein weiterer in Halle zu klein. Stattdessen wurde Sachsen-Anhalts größter Gerichtsssaal, die ehemalige Bibliothek des Landgerichts, für die Verhandlungen vorbereitet. Der Saal umfasst mehr als 300 Quadratmeter. Platz, der zwingend notwendig ist. Allein die Zahl der Nebenkläger ist enorm.

Außerdem gibt es einen großen Andrang nationaler wie internationaler Medienvertreter. Für sie wird es im Saal genau 44 Sitzplätze gegeben. 50 weitere Plätze sind für Zuschauer reserviert. Außerdem gibt es einen Nebenraum in dem weitere 44 Medienvertreteter Platz finden. In den Nebenraum wird der Ton aus dem Gerichtssaal übertragen. Die Verhandlung in Magdeburg findet unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt. Erschwerend hinzu kommt die Corona-Pandemie. So ist beispielsweise im Gerichtssaal das Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes Pflicht, außer für Gerichtspersonen und Verfahrensbeteiligte. Derzeit sind 18 Verhandlungstage angesetzt.

Die Richterin

Den Prozess leiten wird Ursula Mertens. Seit 2019 ist sie Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Naumburg. Auch für Mertens ist es die erste Gerichtsverhandlung in dieser Größenordnung. Allerdings kann sie auf viel Erfahrung mit Prozessen von hohem öffentlichen Interesse zurückgreifen. Seit mehr als 20 Jahren verhandelt sie Strafprozesse. Während ihrer Zeit als Richterin am Landgericht Halle leitete sie unter anderem den Prozess um die Dessauer IHK-Fördermittelaffäre oder den um Peter Fitzek, besser bekannt als selbsternannten "König von Deutschland."

Die Bundesanwaltschaft

Bereits am Nachmittag des 9. Oktober 2019 hatte die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen an sich gezogen. Das bedeutet, dass ab diesem Zeitpunkt sämtliche Ermittlungsarbeit, wie beispielsweise Durchsuchungen, von ihr angeordnet wird. Generalbundesanwalt ist seit 2015 Peter Frank. Er wird in diesem Verfahren die Anklage vertreten. Bei der Pressekonferenz am Tag nach dem Attentat sagte er: "Was wir gestern erlebt haben, war Terror." Darin verbirgt sich auch die Begründung, warum die Bundesanwaltschaft und nicht ein Staatsanwalt aus Sachsen-Anhalt die Anklage vertritt.

Die Bundesantwaltschaft ist eine Behörde mit Sitz beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Sie besteht aus dem Generalbundesanwalt Peter Frank und rund 200 weiteren Personen, darunter Bundesanwälte und Oberstaatsanwälte. Eine ihrer wesentlichen Aufgaben ist die Verfolgung und Anklage terroristischer Straftaten, um die demokratische Grundordnung zu schützen. Darunter fallen neben rechtsextremistischem Terrorismus wie in diesem Fall auch linksextremistischer sowie islamistisch motivierter Terrorismus.

Die Nebenklage

Auch wenn der Generalbundesanwalt in diesem Verfahren die Anklage vertritt, ist er nicht der einzige Kläger. Rund 40 Nebenkläger sind zum Verfahren zugelassen. Darunter Angehörige der Verstorbenen, Mitglieder der jüdischen Gemeinde Halle und weitere. Nicht jeder Geschädigte des Attentats von Halle und Wiedersdorf ist gleichzeitig Nebenkläger. Die Entscheidung diese Möglichkeit zu nutzen, obliegt jedem selbst. Wer sich der öffentlichen Anklage durch die Bundesanwaltschaft als Nebenkläger anschließen darf, regelt §395 der Strafprozessordnung (StPO).

Nebenkläger können, müssen aber nicht, durch Anwälte vertreten werden. Sie haben die Möglichkeit, die gesamte Hauptverhandlung im Gerichtssaal zu verfolgen. Wer nur als Zeuge vor Gericht geladen ist, hat diese Möglichkeit nicht. Außerdem können Nebenkläger mittels Anwalt Einsicht in Akten beantragen. Besonders spannend: Nach § 397 StPO haben sie auch das Recht, Sachverständige abzulehnen und sie können mittels Anwälten ebenfalls Fragen an Zeugen stellen.

Die Verteidigung

Die Verteidigung des Angeklagten übernimmt der Rechtsanwalt Hans-Dieter Weber aus Karlsruhe. Er ist dem Angeklagten als Pflichtverteidiger zugewiesen worden. Mit Interviews und sonstigen Statements hielt sich Weber bisher stark zurück. Kurz nach dem Attentat bestätigte er jedoch dem SWR das Geständnis seines Mandanten. Er erklärte außerdem, dass dieser Kräfte am Werk sehe, die im Verborgenen wirkten und auf die Politik einwirken könnten. Zweiter Verteidiger des Attentäters ist Thomas Rutkowski aus Helbra. Er war Wahlverteidiger des Angeklagten, das Gericht machte ihn zum zweiten Pflichtverteidiger.

Ein Fall von besonderer Tragweite

Der Gerichtsprozess ist außergewöhnlich in der Jusitzgeschichte Sachsen-Anhalts, vor allem wegen der Brisanz der Tat. Fragen, die es während des Verfahrens zu beantworten gilt, hatte der Generalbundesanwalt bereits am 10. Oktober 2019 auf einer Pressekonferenz formuliert: "Wie konnte es kommen, dass so ein Mensch sich radikalisiert? Wie konnte es kommen, dass Stephan B. sich zu dem entschloss, was er getan hat? Wie hat er sich Waffen beschaffen können? Waffen selber bauen können? Gab es eventuell Unterstützer?"

Im Verlauf der Ermittlungen sind erste Informationen immer wieder durchgesickert. So soll Stephan B. beispielsweise 0,1 Bitcoin von einer Person mit dem Namen "Mark" erhalten haben. Bitcoin ist eine digitale Kryptowährung. Zum Tatzeitpunkt am 9. Oktober 2019 entsprachen 0,1 Bitcoin ungefähr dem Wert von rund 790 Euro. Bisher unbeantwortet ist die Frage, inwiefern die Person "Mark" von den Attentatsplänen wusste und für welchen Zweck diese Spende konkret vorgesehen war.

Politische Dimension

Auch politisch betrachtet ist der Fall von großer Bedeutung. Schließlich wirft er die Frage auf, wie es möglich sein konnte, dass sich der Angeklagte unbemerkt von den Behörden radikalisieren und mehrere Waffen sowie Sprengsätze selber bauen konnte. Bereits kurz nach dem Attentat gab es Kritik an der Arbeit der Polizei und damit an Innenminister Holger Stahlknecht (CDU). So erklärten Max Privorozki, Vorsteher der jüdischen Gemeinde Halle, sowie Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, dass den Bitten nach Polizeischutz vorab nicht nachgegangen wurde.

Erste Antworten hierauf hat bereits der eingesetzte Untersuchungsausschusses des Landtags geliefert. Die Einschätzung der Gefährdungslage der Polizei schien nicht mit der Selbsteinschätzung der jüdischen Gemeinde übereinzustimmen. In der Ausschusssitzung vom 10. Juni 2020 sagte die Leiterin des Polizeireviers Halle, Annett Wernicke, aus. Dem Revier sei nicht bekannt gewesen, dass am 9. Oktober 2019 der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur begangen werde. Ein spezielles Schutzkonzept für die Synagoge an diesem Tag gab es nicht. Es hätte auch keine Anforderung vorgelegen. Die jüdische Gemeinde Halle reagierte noch am selben Tag mit einer Meldung auf ihrer Internetseite. Dort sprach sie von einem regelmäßigen Kontakt mit den für Sicherheit zuständigen Behörden auf Landes- und Lokalebene. "Dabei wurde auch die Besorgnis einiger Gemeindemitglieder im Hinblick auf ihre persönliche Sicherheit angesprochen." In jedem Jahr habe zudem der Landesverband Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt den aktuellen Jahreskalender verschickt inklusive Erklärung der wichtigsten Feiertage und Feste.

Nicht zu vergessen: Der Skandal um den Fluchtversuch des Angeklagten. Schon kurz nach Bekanntwerden des Vorfalls in der JVA Halle forderte DIE LINKE den Rücktritt von Justizministerin Anne-Marie Keding (CDU). Letzten Endes musste nicht sie, sondern Justiz-Staatssekretär Hubert Böning gehen. Er wurde in den einstweiligen Ruhestand versetzt.

Frage für die Gesellschaft

Beim Attentat von Halle und Wiedersdorf und dem Prozes um den Angklagten Stephan B. geht es auch um eine gesellschaftliche Frage. Welche Konsequenzen werden aus diesem erneuten rechtsextremistischen Anschlag gezogen? Wie positioniert sich die Gesellschaft gegen radikale, hasserfüllte, rechte Stimmen? Wie kann die Gesellschaft verhindern, dass Personen sich so sehr von den Werten der freiheitlich demokratischen Gesellschaft abwenden? Diese Fragen beantwortet nicht die Gerichtsverhandlung und nicht der Urteilsspruch. Antworten kann aber eine öffentliche Debatte, die parallel zum Prozess und darüber hinaus geführt wird, finden.

Wie der MDR berichten wird

Für den Prozess waren urspünglich 18 Verhandlungstage angesetzt. Im Laufe des Prozesses wurden jedoch mehr Tage nötig. In der Regel sind jeweils zwei pro Woche geplant. Im August hat es eine knapp dreiwöchige Prozesspause geben. Voraussichtlich Mitte November ist mit einem Urteilsspruch zu rechnen. Als letzter Termin ist aktuell der 18. November 2020 angesetzt. Es ist jedoch möglich, dass sich die Verhandlungstage noch einmal ändern.

MDR SACHSEN-ANHALT wird jeden Verhandlungstag vor Ort begleiten und hier auf unserer Webseite, im Fernsehen, und im Hörfunk darüber berichten. Die MDR-Prozessbeobachter sind im Gerichtssaal vertreten. Ihre Eindrücke werden sie in einer Reportage, die zu jedem Verhandlungstag veröffentlicht wird, beschreiben. Darüber hinaus sind in allen Bereichen Interviews und Beiträge mit Experten und Zeugen geplant.

Über die AutorinMarie-Kristin Landes ist in Dessau-Roßlau geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur zog es sie für ein Politikstudium erst nach Dresden, dann für den Master Journalistik nach Leipzig. Praktische Erfahrungen sammelte sie bei der Sächsischen Zeitung, dem ZDF-Auslandsstudio Wien und als freie Mitarbeiterin für das Onlineradio detektor.fm. Nach ihrem Volontariat beim Mitteldeutschen Rundfunk arbeitet sie jetzt vor allem für MDR Kultur und das Landesfunkhaus Sachsen-Anhalt. Wenn sie nicht gerade für den MDR unterwegs ist, ist sie am liebsten einfach draußen. Zwischen Meer oder Berge kann sie sich dabei genauso wenig wie zwischen Hund oder Katze entscheiden.

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 14. Juli 2020 | 19:00 Uhr

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