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Anna Taras kam schon kurz nach Kriegsausbruch mit ihren beiden Kindern, ihrer Mutter und der Großmutter nach Halle. Bildrechte: MDR/Daniel Salpius

Zwischen Sicherheit und SehnsuchtUkrainische Ballett-Tänzerin in Halle: "Ich wollte meine Heimat nie verlassen"Von Daniel Salpius, MDR SACHSEN-ANHALT

24. Februar 2023, 05:22 Uhr

Wie viele der geflohenen ukrainischen Frauen will auch Anna Taras unbedingt mit ihren beiden Kindern in die Heimat zurückkehren. Doch nicht bevor der Krieg zu Ende ist. Die Dauer des Konflikts und die Sehnsucht nach ihrem Mann zermürben die junge Frau. Ihr Beruf als professionelle Tänzerin liegt brach und auch das Ankommen im deutschen Alltag fällt schwerer als gedacht.

  • Anna Taras wagte im Oktober einen Rückkehrversuch in die Ukraine. Doch die ständigen Stromausfälle und die Stimmung in ihrem Land führten sie wieder nach Halle.
  • Ein Jahr dauert der russische Angriffskrieg nun schon. Im Slawia Kulturcentrum Halle beobachtet man eine zunehmende Erschöpfung bei den Geflüchteten aus der Ukraine.
  • Zur Sorge um die zurückgelassenen Männer kommen für die ukrainischen Frauen in Deutschland Sorgen um die Kinder: Auch Anna Taras' Sohn hat Probleme, dem deutschen Unterricht zu folgen. Durch den Stress ist er jeden Tag traurig. Das ist kein Einzelfall.

"Ich glaube, wenn der Frühling kommt, geht der Krieg zu Ende. Im April wird er zu Ende sein und die Ukraine gewinnt", sagt Anna Taras. Das Lächeln, das diese Worte begleitet, ist stolz und unerbittlich ernst. Es wischt das viel wahrscheinlichere Szenario eines jahrelangen Abnutzungskrieges in der Ukraine einfach weg. Und es kommt in diesem Lächeln einmal mehr zum Vorschein, worin die stärkste Waffe des angegriffenen Landes gegen den vermeintlich übermächtigen Feind besteht: Der unerschütterliche Glaube der Ukrainer an den eigenen, den baldigen Sieg.

Raketen rissen die Familie am Tag der Invasion aus dem Schlaf

Vor genau einem Jahr, am 24. Februar 2022, dem Tag der russischen Invasion, riss tiefes Brummen Anna Taras nicht nur aus dem Schlaf, sondern auch aus ihrem bisherigen Leben. Russische Raketen hatten einen Flughafen in der Nähe ihrer westukrainischen Heimatstadt Iwano-Frankiwsk getroffen. Ihre Karriere als Ballett-Tänzerin endete von einem Tag zum anderen.

Noch in den ersten Kriegswochen flieht die 30-Jährige mit ihren beiden kleinen Kindern Matvii und Eva, mit ihrer Mutter und der Großmutter über Polen nach Deutschland. Am 6. März 2022 kommen sie in Halle an. Ihr wehrfähiger Mann, ein Theater- und Filmschauspieler, musste in der Ukraine bleiben.

Trennung von den Männern belastet geflohene Ukrainerinnen am meisten

MDR SACHSEN-ANHALT berichtete erstmals im August über die Tänzerin. Die Einschulung ihres Sohnes an einer Grundschule in Halle-Neustadt stand kurz bevor. Anna Taras wirkte damals ungeachtet der schwierigen Umstände gelöster als heute. Beim erneuten Treffen in Halle ist dagegen ihre Erschöpfung deutlich spürbar. Wenn die Dauer des Krieges auch nicht die Hoffnung der Ukrainer gebrochen hat, sie wirkt dennoch zermürbend auf die Menschen.

Das beobachtet auch Tatjana Privorozkaja, die das Slawia Kulturcentrum Halle leitet und ukrainische Flüchtlinge vom ersten Tag an bei Behördengängen und Anträgen unterstützt. "Die Frauen sind gestresst, müde und depressiv. Sie müssen allein mit den Kindern den gesamten Alltag bewältigen." Das größte Problem sei neben der Sprachbarriere die Trennung von den Männern, die zurückbleiben mussten. "Sie machen sich Sorgen um sie und haben Sehnsucht. Deshalb wollen viele zurück in die Ukraine", so Privorozkaja.

Die Frauen sind gestresst, müde und depressiv.

Tatjana Privorozkaja | Leiterin Slawia Kulturcentrum

Rund 29.700 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine haben Sachsen-Anhalts Landkreise und kreisfreien Städte laut Innenministerium seit Ausbruch des Krieges aufgenommen. Eine Prognose, wie viele davon einmal in die Ukraine zurückkehren werden, wagt Privorozkaja nicht. "Wie das wird, weiß man nicht. Je länger der Krieg dauert und sie in Deutschland bleiben, desto mehr werden sie sich hier einleben."

Ständig Stromausfall im westukrainischen Iwano-Frankiwsk

Anna Taras will unbedingt zurück in ihr Land. "Ich habe nie gedacht, dass ich einmal meine Tasche packen und gehen muss. Ich wollte meine Heimat nie verlassen", unterstreicht sie. Die Trennung von ihrem Mann ist auch für sie und ihre Kinder die größte Belastung. Immerhin wurde der Schauspieler bislang nicht in die Armee eingezogen. Ein entsprechender Brief kann ihn aber nach wie vor jederzeit erreichen. Aktuell könne er wieder auf der Theaterbühne stehen, sagt Taras. Und zwar öfter als vor dem Krieg. "Die Menschen in der Ukraine haben jetzt einen großen Hunger nach Kultur", erklärt die Tänzerin, die dieses Bedürfnis sicher auch selbst gern wieder mit ihrer Kunst stillen würde.

Doch dass eine Rückkehr vor Ende des Krieges momentan für sie nicht infrage kommt, musste die Tänzerin im Oktober feststellen. Für drei Wochen war die Familie damals wiedervereint in der Ukraine. Die Überlegung zu bleiben, habe im Raum gestanden. Doch dann habe es genau zu dieser Zeit viele Angriffe auf Elektrizitätswerke gegeben. Ständig sei der Strom ausgefallen. "Die Kinder haben nur kaltes Essen bekommen", beschreibt Taras. Auch wenn Iwano-Frankiwsk nicht zerstört ist, verändert habe sich die Stadt dennoch. "Die Menschen sind depressiv und voller Angst. Ich könnte meine Kinder anders als vor dem Krieg dort nicht mehr allein auf die Straße lassen."

Das fühlt sich an, wie zwischen Himmel und Erde gefangen zu sein.

Anna Taras

Dass der Krieg nun schon seit einem Jahr in ihrer Heimat wütet, kann Anna Taras nur schwer glauben. "Wir dachten, es würde höchstens ein paar Monate dauern." Ihren emotionalen Zustand als Geflohene in Deutschland kann sie schwer beschreiben. Sie ist sehr dankbar, dass sie so gut aufgenommen wurde. Sie fühle sich mit ihren Kindern sicher in Halle. "Aber ich komme mir vor wie gedoppelt. Es geht uns gut hier, aber ich bin heimisch dort. Das fühlt sich an, wie zwischen Himmel und Erde gefangen zu sein."

Ukrainische Kinder in deutschen Klassen: "Matvii ist jeden Tag traurig"

Probleme im Alltag bereitet der 30-Jährigen vor allem die deutsche Sprache. Längst wollte sie einen Deutschkurs absolvieren, doch sie sei bislang nicht dazu gekommen. Ihre Tochter habe noch keinen Kita-Platz und ihr Sohn sei sehr oft krank.

Denn Matvii habe es schwer in der Schule. Weil der Junge in einer normalen deutschen Klasse unterrichtet wird, kann er dem Unterricht kaum folgen. Auch sei er das einzige ukrainische Kind in seiner Klasse. "Das löst psychischen Stress bei ihm aus. Er ist jeden Tag traurig und will zurück in die Ukraine zu seinem Papa", beschreibt Anna Taras. Sie würde Matvii gerne in eine Ankunftsklasse schicken, aber an den Schulen in ihrer Nähe gebe es keine, erzählt sie. Lesen und Schreiben auf Ukrainisch bringt sie ihrem Sohn deshalb erst einmal selbst bei.

Wie Tatjana Privorozkaja vom Slawia Kulturcentrum bestätigt, haben viele ukrainischen Kinder diese Probleme in der Schule. Dass das Land die Ankunftsklassen auflösen will, in denen auf Ukrainisch unterrichtet wird und die Kinder zusätzlich Deutsch lernen, könnte das Problem noch verschärfen. 6.954 ukrainische Kinder im schulpflichtigen Alter sind in den vergangenen zwölf Monaten in Sachsen-Anhalt angekommen. 5.700 davon besuchen nach Angaben des Bildungsministeriums derzeit die Schule.

Wie die ukrainischen Kinder in Sachsen-Anhalt auf die Schulen verteilt wurden

2.200 ukrainische Kinder werden an Grundschulen unterrichten, etwa 1.600 an Sekundar- und Gemeinschaftsschulen, knapp 1.300 an Gymnasien, 55 an Förderschulen und rund 270 Schülerinnen und Schuler an Gesamt- und Sportschulen. 320 Menschen, die aus der Ukraine geflüchtet sind, lernen zudem an berufsbildenden Schulen.

Tanzstunden für Kinder bringen ein Stück früheres Leben zurück

In Anna Taras Leben spielt inzwischen das Tanzen wieder eine größere Rolle. Im Slawia trainiert sie 20 ukrainische Mädchen. Die Kinder folgen den strengen Anweisungen der studierten Ballett-Tänzerin völlig diszipliniert. Taras ist froh über diese Arbeit, doch am liebsten will sie wieder selbst tanzen. "Dafür trainiere ich jeden Tag zu Hause."

Aktuell probt sie täglich drei Stunden mit den Kindern für eine Aufführung zum Jahrestag des Kriegsbeginns. Wenn die Kinder unter Stühlen in Deckung gehen und eines der Mädchen ein kleines Spielzeughaus fallen und zerspringen lässt, braucht man kein Wort Ukrainisch zu verstehen, um zu wissen, worum es geht. Die Mienen der Mädchen sind traurig und ernst. Verstellen müssen sie sich dafür nicht.

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MDR (Daniel Salpius)

Dieses Thema im Programm:MDR UM 11 | 24. Februar 2023 | 11:00 Uhr