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Der Tag der Deutschen Einheit lässt nicht überall die Stimmung steigen, findet unser Kommentator. (Symbolbild) Bildrechte: Collage: Uli Wittstock/Matthias Piekacz / imago images/Frank Sorge

Kommentar33 Jahre Deutsche Einheit: Warum jubeln wir so wenig?

04. Oktober 2023, 10:25 Uhr

Die neuen Länder sind nunmehr 33 Jahre alt geworden, gelten damit als erwachsen. Aber sie befinden sich noch immer in einer Betreuungssituation, wie der aktuelle Bericht zur Deutschen Einheit zeigt. Zwar geht es mit den Wirtschaftszahlen von Jahr zu Jahr aufwärts, doch das Stimmungsbarometer bei einem großen Teil der Ostdeutschen zeigt in eine andere Richtung, stellt unser Kommentator fest.

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Wer aus Gelsenkirchen oder Herne auf die sanierten Fassaden der ostdeutschen Städte und Gemeinden blickt, der fragt sich schon, woher diese ostdeutsche Gereiztheit kommt. Und alljährlich, wenn der Oktober die deutschen Wälder bunt färbt, schwärmen Redakteure aus den großen Verlagshäusern im Westen aus, in die Niederungen von Elbe, Saale oder Neiße, um dem Unmut auf den Grund zu gehen. Die erste Erkenntnis kommt relativ schnell: Der ostdeutsche Nörgler ist auch nicht mehr der, der er mal war. Dem Zeitgeist angepasst erwartet er nicht so sehr fürsorgliche Hilfe, sondern stattdessen Respekt, also ein Blick ins Land auf Augenhöhe. Nun ist dieser Begriff der Augenhöhe sehr vielschichtig und deshalb wohl so beliebt.

Ostdeutsche fordern Teilhabe

Augenhöhe entsteht nicht, wenn man sich herab beugt, um den anderen wahrzunehmen, auch lässt sich Augenhöhe nicht über eine Fußbank für den Kleineren herstellen. Augenhöhe soll vielmehr die Gleichrangigkeit zweier Menschen kennzeichnen. Und genau dies ist in der ostdeutschen Wahrnehmung eben sehr oft nicht der Fall. Als ich in den Neunzigerjahren mit dem Mikrofon in Sachsen-Anhalts Ministerien und Behörden unterwegs war, hörte ich nicht selten den Satz: "Sie kommen ja auch nicht von hier."

Meine Gesprächspartner konnten es sich nicht vorstellen, dass ein Ostdeutscher mit Mikrofon westdeutsche Führungskräfte befragte. Man ahnt, wie unvoreingenommen damals Personalgespräche liefen und versteht auch, warum noch immer Ostdeutsche in Führungspositionen eher selten anzutreffen sind. Das sind eben auch Langzeitfolgen, die sich nicht unter dem Begriff einer Diktaturerfahrung zusammenfassen lassen.

Fehlende Chancengleichheit

Die Augenhöhe hat aber auch eine handfeste materielle Seite, die in der Diskussion gerne ausgeblendet wird. Denn bei der Geburt der neuen Länder gab es keine Chancengleichheit zwischen Ost und West. Wer auf die sanierten Fassaden blickt, muss nicht nur fragen, wer in diesen Häusern wohnt, sondern auch, wer sie besitzt und wer sie erben wird.

Es gibt eine verfestigte materielle Ungleichheit zwischen Ost und West, welche sich im unterschiedlichen Lohnniveau zeigt, mehr aber noch in unterschiedlichen Besitzverhältnissen. Ein Großteil der Windräder, die sich in Sachsen-Anhalt drehen, lassen die Kassen in Baden-Württemberg oder Bayern klingeln. Die haben nicht nur den Gewinn, sondern zusätzlich auch noch den freien Blick in die Landschaft, auch eine Art von Augenhöhe.

Diese Ungleichheit ist auch politisch brisant, denn seinerzeit war ja das westdeutsche Demokratieangebot auch an das Versprechen von wirtschaftlichem Aufschwung geknüpft. Dass der dann später und anders als erwartet eintrat, hat die Attraktivität des Parlamentarismus geschmälert, ein Trend, der sich auch anderswo zeigt.

Der Ostdeutsche ist zwar krisenerfahren, aber nicht krisenresistent, auch wegen der dünnen Kapitaldecke, mit der er seinen Alltag bestreitet. CDU-Parteichef Merz versprach am Wochenende in Magdeburg, die Vermögensbildung in Ostdeutschland voranbringen zu wollen. Wie das in der Praxis gelingen soll, erklärte er nicht.

Der schwierige Blick zurück

Doch damit nicht genug. Augenhöhe zwischen Ost und West wird nunmehr auch für den Blick zurück gefordert, kurz zusammengefasst in der Frage: Wer darf wann und wie über die DDR reden? Ich selbst lebe inzwischen deutlich länger in der Bundesrepublik als in der DDR und für mich selbst glaube ich behaupten zu können, dass die Arbeiter- und Bauernrepublik mein heutiges Denken kaum beeinflusst.

Dennoch, als 1989 die Mauer fiel, war für mich Hamburg genauso Ausland wie Helsinki und das, obwohl wir viel Westverwandtschaft hatten. Bei uns zu Hause flimmerte grundsätzlich nur Westfernsehen auf der Mattscheibe und im Radio liefen nur Westsender. Über die Debatten im Bonner Bundestag wusste ich besser Bescheid als über das, was in der Volkskammer passierte. Vielleicht auch deswegen erinnere ich meine Kindheit und Jugend in der DDR als eine Zeit der Zwänge, Vorgaben und Denkverbote.

Aus meiner Sicht waren Fahnenappelle nicht ein lustiges Accessoire der Kindheit, sondern das Symbol für den Umgang des Staates mit seinen Bürgern: Strammstehen und Maul halten. Merkwürdigerweise erinnern es Freunde aus jenen Tagen auch anders. Inzwischen haben wir es gelernt, mit diesen unterschiedlichen Sichtweisen umzugehen.

Der unklare Blick nach vorn

Augenhöhe setzt aber eben auch einen klaren Blick voraus, sowohl nach hinten wie nach vorn. Das hat auch die Politik vor Jahren erkannt, weswegen nun in Halle ein Zukunftszentrum gebaut werden soll. Der Bauplatz steht ja schon fest, auch soll demnächst ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben werden. Doch was da eigentlich in dem Zentrum Zukünftiges geschehen soll, das ist noch unklar. Ein Leuchtturm ohne Licht also. Kein Wunder, dass der Ossi wieder meckert.

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MDR (Uli Wittstock) | Erstmals veröffentlicht am 03.10.2023

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT | 02. Oktober 2023 | 09:45 Uhr

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