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GeldLohn- und Vermögensunterschiede in Ost und West belasten die Gesellschaft

19. Juli 2023, 12:37 Uhr

Die Menschen im Osten verdienen deutlich weniger als die im Westen. Die Lücke ist zuletzt sogar noch weiter gewachsen. Im Westen verdient man im Schnitt gut 13.000 Euro mehr im Jahr. Vom "Billiglohnland Ostdeutschland" ist deshalb manchmal die Rede. Doch die Menschen im Osten besitzen auch weniger Vermögen, Aktien und Immobilien. Was sind die Gründe? Und welche Folgen hat diese Asymmetrie für die Gesellschaft?

Mai 2023: Etwa 70 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Vita Cola-Herstellers Thüringer Waldquell in Schmalkalden streiken. Denn obwohl das ostdeutsche Kultgetränk 2022 Rekordabsätze verzeichnete, verdienten die Beschäftigten im Osten bislang weniger als ihre Kollegen im hessischen Mutterhaus. Solche Lohnunterschiede sind flächendeckend zu beobachten, weiß Joachim Ragnitz, stellvertretender Leiter des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in Dresden. Er sagt: "Das Problem ist, dass sich der große Unterschied mehr oder minder verfestigt hat und sich überhaupt nicht abbaut – oder nicht wirklich stark abbaut."

Laut Statistischem Bundesamt verdienten Westdeutsche 2022 im produzierenden Gewerbe und bei Dienstleistungen pro Jahr knapp 56.000 Euro. Ostdeutsche bekamen im Schnitt rund 44.000 Euro Jahresgehalt. Runtergerechnet auf die Stundenlöhne klafft seit Jahren eine Lücke von etwa 20 Prozent – je nach Branche mal mehr, mal weniger. Das liegt unter anderem an den kleineren Betrieben im Osten, anderen Wirtschaftssektoren und am niedrigeren Preisniveau. Aber auch die Deindustrialisierung nach der Wiedervereinigung wirkt nach.

Problem: Wenig Leute in den Gewerkschaften

Ragnitz erklärt, es sei leider der Fall, dass relativ viele Firmen im Osten nicht tarifgebunden seien. Deshalb spielten Vereinbarungen zwischen Tarifparteien sowieso kaum eine Rolle. Und in diesen Verhandlungsprozessen hätten die Gewerkschaften gerade im Osten auch eine vergleichsweise geringe Verhandlungsmacht, einfach weil wenige Leute in der Gewerkschaft sind.

Zum Vergleich: In den tarifgebundenen Unternehmen seien die Löhne fast angeglichen, so Ragnitz. Die Unterschiede bei den Einkommen setzen sich bei den Vermögen fort. Dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung zufolge ist das durchschnittliche Nettovermögen im Westen mehr als doppelt so hoch wie das im Osten.

Das hat vor allem historische Gründe, sagt Dorothee Spannagel vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung: "Zu DDR-Zeiten war es nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich, privates Vermögen aufzubauen." Im Westen dagegen hätten sich gerade mit der sogenannten Wirtschaftswunderzeit sehr viele Menschen bescheidene oder auch nicht so bescheidene Vermögen aufgebaut – zum Beispiel Immobilien- oder auch Betriebsvermögen. Das sei in Ostdeutschland nicht der Fall und politisch gewollt nicht möglich gewesen. Dieses Erbe sehen wir Spannagel zufolge jetzt immer noch – obwohl die Wiedervereinigung schon viele Jahre zurückliegt.

Weniger Reiche, weniger Förderer

Welche Folgen hat diese verfestigte materielle Ungleichheit für die Gesellschaft? Der Soziologe Raj Kollmorgen von der Hochschule Zittau/Görlitz beobachtet, dass sie zu einem gewissen Teil den Eindruck der Ostdeutschen verstärke, ihre Leistung würde nicht gewürdigt. Die Ungleichverteilung sei aber viel mehr als ein ökonomisches Problem. Er sagt: "Das geht ganz tief in den kulturellen, zivilgesellschaftlichen Bereich hinein. Weil so etwas wie Mäzenatentum, wie Stiftungsaktivitäten im Osten und da vor allem in den ländlichen Räumen fast nicht vorhanden sind."

Da habe sich in den vergangenen Jahren einiges getan. Aber in Bezug auf Stiftungsgelder und Spenden sei im Osten viel weniger möglich, weil es nicht diese vermögenden Bevölkerungsschichten wie im Westen gebe.

Ungleichheit auflösen – auch mit Tarifbindung

Trotzdem: Die Lohn- und Vermögensunterschiede sind Raj Kollmorgen zufolge für das Selbstbewusstsein der Ostdeutschen viel weniger entscheidend als man gemeinhin annehmen mag. Seinen Forschungen nach stoßen ihnen vor allem gesellschaftliche Missachtung und Ossi-Stereotype auf. Die ökonomische Ungleichheit gelte es dennoch aufzulösen – nicht nur zwischen Ost und West. Aber wie? Politisch jedenfalls sei das schwer machbar, sagt Joachim Ragnitz.

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Er sagt, der Staat könne seine Vorreiterrolle deutlich machen und Aufträge nur an tarifgebundene Betriebe vergeben. Ragnitz plädiert dabei für mehr Tarifbindung der Unternehmen: "Das sind indirekte Effekte, die mittel- bis langfristig wirken. Und man könnte auch sagen: Man verändert den Steuertarif, sodass die höheren Einkommen mehr abgeben." Da gebe es aber auch gute Argumente dagegen, sagt Ragnitz.

Grundsätzlich sei Geduld gefragt. Es habe sich schon viel getan. Was Ragnitz zufolge als Katalysator beim Schließen der Einkommenslücke wirken könnte: der Fachkräftemangel. Der dürfte die Löhne bald nach oben treiben.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL RADIO | 18. Juli 2023 | 06:00 Uhr

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