Podiumsdiskussion"Demokratie in Lebensgefahr" – Warum sich die Politik ändern mussvon Leonard Schubert, MDR SACHSEN-ANHALT
Viele Menschen fühlen sich von der Politik nicht repräsentiert. Das Misstrauen in das Parteisystem wächst. Zeitgleich sinkt bei vielen die Hoffnung, etwas bewegen zu können. Über die Ursachen und Folgen der Politikverdrossenheit haben Experten und Bürger bei einer Podiumsdiskussion an der Uni Magdeburg gestritten. Und diskutiert, wie es besser gehen könnte.
- In Sachsen-Anhalt wenden sich zunehmend Menschen von der Politik ab und fühlen sich nicht repräsentiert.
- Im Streitgespräch diskutierten Experten mögliche Ursachen. Darunter: Fehlende politische Leistungen, fehlende Beteiligung von Bürgern sowie Scheindebatten.
- Im Fokus der Diskussion: mögliche Lösungen und alternative Verfahren.
"Mittelfristig ist unsere Demokratie in Lebensgefahr. Wenn die Parteien so weitermachen, werden sie kollabieren", sagt der Politikpsychologe Thomas Kliche am Ende einer Podiumsdiskussion zum Thema "Politikverdrossenheit" in Magdeburg. Zwei Stunden Diskussion mit Bürgerinnen und Bürgern sowie dem Oberbürgermeister von Schönebeck, Bert Knoblauch (CDU), Psychologiestudentin Tanja Gräber und Politikwissenschaftler Johannes Gerken liegen zu diesem Zeitpunkt hinter Kliche.
"Ihr da oben – wir da unten. Ist Politik noch attraktiv für Bürgerinnen und Bürger?" war der Titel des Abends aus der Veranstaltungsreihe "Streitbar" der Universität Magdeburg, moderiert von MDR-Journalist Ulli Wittstock. "Nein" lautet die eindeutige Antwort von Podium und Publikum. Die Ursachen, die dafür vorgetragen werden, sind vielfältig. Aus den meisten Antworten klingt heraus: Viele Menschen fühlen sich nicht gut repräsentiert und haben das Gefühl, sich politisch nicht einbringen zu können und übergangen zu werden.
Politik "zu wenig empfänglich"
Laut Gerken und Kliche hängt das mit einer fehlenden Entwicklung der Parteien zusammen. Viele Bevölkerungsschichten würden politisch gesehen nicht ausreichend vertreten, allen voran arme Menschen. Seit den Neunzigern seien zunehmend mehr Menschen in die Armut abgerutscht, hätten 30 Jahre lang Vertrauen in die Politik verloren und würden sich aus der Erfahrung, ohnehin nicht gehört zu werden, auch nicht organisieren. Die Parteien seien zu wenig empfänglich für die Menschen geworden und reagierten auf deren Belange zu wenig. Häufig stünden kurzfristige Wahlerfolge im Mittelpunkt.
Zudem fehle es angesichts der Probleme unserer Zeit, wie der drohende Klimakollaps oder die wachsenden Armut, an ausreichenden Leistungen und langfristig tragfähigen Lösungen. Die Politik löse damit ihr Versprechen gegenüber den Menschen zu wenig ein. Damit verlören auch immer mehr Menschen das Vertrauen in die Demokratie, sehnten sich stattdessen nach starker Führung und autoritären Regimen.
Fehlende Beteiligung in Parteien
Der Kommunalpolitiker und Oberbürgermeister von Schönebeck, Bert Knoblauch (CDU), widerspricht teilweise. Gerade die Kommunalpolitik sei offen für die Belange der Menschen, sei offen für die Mitarbeit und arbeite stets daran, die Belange der Menschen wahrzunehmen und umzusetzen. Allerdings müsse man mit den Spielräumen arbeiten, die man habe und zahlreiche Vorgaben von EU-, Bundes- und Landesebene umsetzen.
Zudem lebe Politik auch davon, dass Menschen an der Basis sich beteiligten, dass Menschen in Parteien mitwirkten und dort ihre Anliegen verträten und mitarbeiteten. Das passiere aber zu wenig, trotz zahlreicher Angebote und Einladungen. Ebenso in Vereinen, Gewerkschaften und Ehrenämtern. Häufig würden Menschen nur noch dann aktiv, wenn es sie persönlich betreffe.
Psychologiestudentin Gräber erklärt, die Mitarbeit in den Parteien sei aus ihrer Sicht unter den derzeitigen Umständen hochgradig unattraktiv. Man müsse sich in die bestehenden Hierarchien einfügen, die Parteien seien wenig offen für inhaltliche Mitarbeit. Belange würden erst sehr spät oder gar nicht gehört oder umgesetzt. Wenn Menschen sich einbrächten, müssten sie auch gehört werden. Das sei aber aktuell zu selten der Fall. Stattdessen erscheine es sinnvoller, sich außerparlamentarisch zu engagieren.
Scheindebatten und Themen von Minderheiten
Dieser Einschätzung widerspricht der Oberbürgermeister von Schönebeck, Bert Knoblauch. Vielmehr sei ein Problem, dass zu viele Scheindebatten über Minderheitenthemen geführt würden und wirkliche Probleme der Mehrheit nicht angegangen würden. Dies mache Politik unattraktiv.
Gräber kontert, es sei fatal, das Problem auf Minderheiten zu schieben und Gesellschaftsschichten gegeneinander auszuspielen. Politikwissenschaftler Johannes Gerken pflichtet ihr bei. Dass Minderheiten ihre Rechte einforderten sei Teil der Demokratie. Ursache sei vielmehr der Abbau des Mittelstandes und die mangelnden Lösungen der Parteien.
Lösungsansatz Bürgerbeteiligung
Daran anknüpfend fragt Moderator Ulli Wittstock nach Lösungsansätzen. Teile des Publikums fordern mehr Bürgerentscheide und Verfahren der direkten Bürgerbeteiligung. Der CDU-Politiker Knoblauch setzt dagegen, dass nicht jedes Problem über Bürgerentscheide gelöst werden könne. Das nehme zu viel Zeit in Anspruch und sei nicht in allen Fällen praktikabel.
Für den Wissenschaftler Gerken sind Verfahren aktiver Bürgerbeteiligung im Zusammenspiel mit der Parteipolitik trotzdem eine wichtige Stellschraube. Neben Bürgerentscheiden seien auch andere Verfahren wie Bürgerparlamente denkbar, in denen Bürger selbst über Budget verfügten und Lösungen zu bestimmten Fragen ausarbeiten könnten. Diese Verfahren müssten dann von der Politik aber auch ernst genommen werden.
Veränderungen unausweichlich
Kliche ergänzt, die Parteien müssten in ihrer Arbeitsweise effektiver und attraktiver werden. Zudem sei es wichtig, dass sie Vorgänge innerhalb der Parteien stärker kontrollierten: etwa die Diäten selbst festlegen und beschränken oder Parteimitglieder bei starken Verfehlungen mehr zur Rechenschaft ziehen und haftbar machen. Und Parteien müssten endlich echte Lösungen anbieten. Gleichzeitig müssten auch die Menschen aufwachen, sich organisieren und auf die Politik einwirken.
Für einige aus dem Publikum scheint das kein realistischer Weg zu sein. Ein älterer Besucher schüttelt den Kopf und sagt laut: "Das funktioniert nicht."
"So, wie Politik gerade läuft, geht es nicht weiter", meint Kliche. Vielleicht ließen sich die Veränderungen ja positiv gestalten. Eine Patentlösung gebe es dafür aber nicht. Es gebe grundsätzliche Fragen, aber keine grundsätzlichen Antworten. Trotzdem lohne es sich, gemeinsam nach Wegen zu suchen. "Und zwar in einem demokratischen Umgang", meint Wittstock. Denn der sei am Ende die Grundlage für alles.
MDR (Leonard Schubert)
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 08. November 2023 | 09:30 Uhr
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