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Zeitreise ins Jahr 1953Schüler aus Magdeburg treffen Zeitzeugen des DDR-Volksaufstands

12. April 2023, 19:59 Uhr

Beim Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 gingen Millionen Menschen auf die Straße, um gegen die Erhöhung der Arbeitsnormen bei gleichbleibenden Lohn zu demonstrieren. 50 Menschen wurden bei den Protesten getötet, 15.000 verhaftet. Schülerinnen und Schüler aus Magdeburg erinnern in einem Zeitzeugenprojekt an das historische Ereignis.

"Jugend im Juni" – unter diesem Motto treffen Jugendliche aus zwei Magdeburger Schulen Menschen, die den Volksaufstand in der DDR miterlebt haben. Das Besondere ist, dass die Zeitzeugen damals so alt waren, wie die Jugendlichen heute und aus ihrer Perspektive erzählen. Sie waren dabei, haben vielleicht mitgemacht oder fürchteten, dass der Frieden wieder in Gefahr sein könnte.

Die Offenheit der Gespräche über den 17. Juni 1953 soll den Jugendlichen von heute eine neue Perspektive auf diesen so bedeutenden Tag in der deutschen Geschichte geben, sagt Christoph Volkmar, Direktor des Stadtarchivs Magdeburg. Er hatte das Projekt mit dem britischen Forscher Richard Millington ins Leben gerufen und im vergangenen Jahr einen Zeitzeugenaufruf gestartet.

Fast 100 Zeitzeugen

"Ja, wir sind ganz begeistert über die intensiven Reaktionen. Es haben sich fast 100 Zeitzeugen gemeldet", freut sich Volkmar im Gespräch mit MDR SACHSEN-ANHALT. Ziel sei es, die Menschen, die zum Teil seit dem 17. Juni nicht mehr über ihre Erfahrungen gesprochen haben, wieder zum Sprechen zu bringen. "Denn es war lange Zeit gefährlich, über diesen Tag zu sprechen, und viele haben deswegen bis heute geschwiegen", sagt Volkmar.

50.000 Menschen streiken in Magdeburg

Seinen Anfang nimmt der Volksaufstand in Ost-Berlin. Der Unmut der Bevölkerung gegenüber der SED-Regierung wächst. Die Repressalien gegen Oppositionelle, die Senkung des Lebensstandards und die immer höheren Forderungen nach der Steigerung der Produktion bringen das Fass zum überlaufen. In Ost-Berlin legen die Bauarbeiter an der Stalinallee die Arbeit nieder und streiken.

Magdeburg ist am 17. Juni 1953 einer der Brennpunkte der Proteste. Hier sind damals 50.000 auf den Beinen. Auch in über 700 weiteren Orten streiken bis zu einer Million Menschen an diesem Tag.

Beobachtungen eines Oberschülers

Auch der damals 15-jährige Egon Wetschke erlebt an diesem Tag seine Stadt Magdeburg in Aufruhr. Heute spricht er als Zeitzeuge zu den Schülerinnen und Schülern über seine persönlichen Eindrücke vor 70 Jahren.

Wetschke war damals Oberschüler, zehnte Klasse. Während des Unterrichts habe er bei einem Blick aus dem Fenster bemerkt, wie aus den Fenstern des Haues der deutsch-sowjetischen Freundschaft in der Hegelstraße Schreibmaschinen, Akkordeons und Bilder auf die Straße flogen. "Und eine Viertelstunde später passierte das Gleiche bei unserer Schule", erinnert er sich.

Auf dem Heimweg läuft er durch eine Stadt, in der die Menschen den Rücktritt der Regierung fordern. Besonders viele sind vor dem Polizeipräsidium versammelt. Dort hatte die Staatsmacht die politischen Gefangenen inhaftiert. Sie sollen befreit werden. Bei dieser Aktion kommt es zu einem Feuergefecht, in dem sechs Menschen sterben.

DDR-Geschichte aus erster Hand

Die Schülerinnen und Schüler der IGS Willy Brandt hören heute gespannt zu und sind fassungslos, über das, was sich in ihrer Stadt damals abgespielt hat. Die 15-jährige Florentine Tönniges ist berührt: "Ich finde es einfach so interessant zu sehen, was Generation vor uns schon erlebt haben." Für Florentine und ihre Mitschüler sind Begegnungen wie diese mit Egon Wetschke Geschichte aus erster Hand.

Statt langweiliger Aufsätze hören sie hier jemanden, der das damals direkt erlebt hat und ähnlich wie sie, nicht sicher war, was das alles zu bedeuten hat. "Man hat hat gehofft, wie auch 1989, dass alles halbwegs friedlich bleibt. Eine gewisse Angst war da. Was könnte sein, wenn...", sagt der damalige Obeschüler Wetschke.

"Gedächtnis der Stadt" bereichern

Das Projekt "Jugend im Juni" läuft seit Anfang 2023 und Stadtarchivar Christoph Volkmar ist begeistert vom Interesse der Schülerinnen und Schüler und darüber, wie viele Menschen aus Magdeburg, über ihre Erfahrung vom 17 Juni 1953 berichten wollen. Vor allem wegen des Engagements der Lehrerinnen und Lehrer funktioniere das Projekt so gut. "Das überträgt sich auf die Schülerinnen und Schüler“, meint Volkmar.

Das "Gedächtnis der Stadt" werde durch diese Arbeit um viele Erfahrungen reicher, betonte Volkmar. Es sei zudem vielleicht die letzte Chance die Lebenswelt dieser Generation für die Nachwelt zu bewahren. Die Ergebnisse dieser umfassenden Interviews sollen beim Festakt des Landes Sachsen-Anhalt am 17. Juni 2023 in Magdeburg von den Schülern präsentiert werden.

MDR (Sebastian Mantei, Moritz Arand)

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Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 12. April 2023 | 18:40 Uhr

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