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Interview mit Protestforscher"Klimabewegung wird neue Formen des zivilen Ungehorsams hervorbringen"

24. Juli 2022, 17:59 Uhr

In Sachsen-Anhalt drehten Aktivistinnen und Aktivisten der "Letzten Generation" Pipelines ab, in Berlin und Leipzig blockieren sie regelmäßig Straßen. Hier erklärt der Protestforscher Michael Neuber, wann solche Formen des Protestes legitim sind und was von der Klimabewegung in Zukunft zu erwarten ist.

MDR SACHSEN-ANHALT: Herr Neuber, wie sinnvoll sind Protestaktionen wie die der "Letzten Generation", die für mehr Klimaschutz kämpft und dafür öffentlichkeitswirksam Straßen und Pipelines blockiert, unter anderem in Sachsen-Anhalt?

Michael Neuber: So etwas kann sehr sinnvoll sein. Die Klimabewegung befindet sich gerade in einer Umorientierungsphase. Durch die Corona-Krise und den Krieg in der Ukraine ist die Aufmerksamkeit für die Klimakrise ein bisschen weggegangen, die Protestform der Schulstreiks ist weggefallen. In diese Lücke geht die "Letzte Generation" rein, in dem sie die Form des zivilen Ungehorsams wählt.

Diese Bewegung versucht, die politischen Entscheidungsprozesse zu beeinflussen, und das braucht erstmal öffentliche Aufmerksamkeit. Die Aufmerksamkeit wiederum kreiert eine öffentliche Debatte und im aus Sicht der Bewegung besten Fall führt das dann auch dazu, dass man politische Entscheidungen in ihrem Sinne trifft. Dieses Interview ist ja schon ein guter Beleg, dass es eine Debatte gibt. Man hat allerdings eine zweigeteilte Debatte: einerseits über das Thema an sich, andererseits über die Aktionsform. Da kommt es zu Konflikten.

Zur Person: Michael Neuber

Michael Neuber ist Soziologe und Protestforscher am Zentrum für Technik und Gesellschaft der Technischen Universität Berlin. Er forscht unter anderem zur kulturellen Praxis sozialer Bewegungen, wobei er sich insbesondere mit Umweltbewegungen und populistischer Mobilisierung befasst.

Erreicht man denn mit Blockaden tatsächlich einen politischen Wandel?

Man kann die Aktionen der "Letzten Generation" nicht isoliert betrachten. Man muss das im Kontext der anderen Protestaktionen sehen, etwa der Schulstreiks von Fridays for Future. Diese Großdemonstrationen hat man nicht jeden Tag, sondern nur in gewissen Abständen. Es geht für die Bewegung darum, das Thema konstant auf der Agenda zu behalten. Und letztendlich hat man es durch Aktionen wie die Straßen- und Pipelineblockaden geschafft, das Thema über Wasser zu halten, trotz der vielen anderen Krisen, denen wir uns derzeit ausgesetzt sehen.

Wird die Klimabewegung immer radikaler?

Radikal ist ein schwieriger Begriff. Wenn man sich die deutsche Tradition des Umweltprotestes ansieht, kann man klar nicht von einer Radikalisierung sprechen. Die Anti-Atomkraftbewegung hat zum Beispiel eine ganz ähnliche Strategie gefahren: Es gab Großdemonstrationen einerseits und zivilen Ungehorsam andererseits, und zwar in ganz ausgefeilter Art und Weise. Man hat die Aktionen zivilen Ungehorsams damals in den demokratischen Diskurs eingebunden, das ist eine Art der politischen Ausdrucksform. Es gab zwar immer Stimmen, die gesagt haben, das ist nicht legitim, aber die waren immer im Hintertreffen. Jetzt kommt das wieder ein bisschen hoch.

Täuscht der Eindruck, oder ist es gerade "in", auf die Straße zu gehen?

Ob es in den vergangenen Jahren tatsächlich mehr Proteste gegeben hat, lässt sich aus wissenschaftlicher Sicht schwer sagen. Was man allerdings sagen kann, ist, dass es große gesellschaftliche Krisen gab. Angefangen von der Finanzkrise über den arabischen Frühling, Occupy Wallstreet, Pegida, Corona und natürlich die Klimaproteste. Da gibt es in der Gesellschaft verschiedene Positionen, die man gerne auf der Straße repräsentieren möchte. Das hat eine große Mobilisierungskraft. Weil diese großen gesellschaftlichen Krisen so prominent waren im öffentlichen Diskurs, gab es in den vergangenen Jahren mehr Massenmobilisierung.

Kritiker werfen der "Letzten Generation" vor, dass ihre Protestformen undemokratisch und erpresserisch seien. Wie schätzen Sie das ein?

Ich bin kein Jurist, aber mit Blick auf die Protesttradition in Deutschland sehe ich zivilen Ungehorsam keinesfalls als antidemokratische Aktionsform. Das kann man ganz klar sagen, gerade mit Blick auf die Anti-Atomkraftbewegung, wo ziviler Ungehorsam bereits genutzt und im öffentlichen Diskurs akzeptiert wurde. Entscheidend ist, dass es um friedlichen Protest geht, dass man sich zu erkennen gibt und für die Sache einsteht und dass der Verletzung von Gesetzen ein moralisch höher geordnetes Ziel zugrunde liegt.

Das heißt, ein sogenannter "Moral high ground" muss gegeben sein. Das ist jetzt gerade ein bisschen die Debatte. Manche Stimmen sagen, dass der "Moral high ground" bei der "Letzten Generation" nicht gegeben sei. Aber das hieße im Umkehrschluss, dass die Klimakrise nicht so dringend ist. Aus Sicht der Klimaprotestierenden und aus Sicht der Klimaforschenden passiert zu wenig, um die Klimakrise einzudämmen. Da muss man sich fragen, welche Protestform vor diesem Hintergrund legitim ist.

Wenn man die Klimawissenschaft zu Grunde legt, ist der "Moral high ground" auf jeden Fall gegeben. Denn dann ist das Gebot, unbedingt jetzt zu handeln. Das machen die Protestierenden der "Letzten Generation", und zwar in einer demokratischen Art und Weise, weil sie Aufmerksamkeit für das Problem erzeugen und die Gesetzesverstöße, die sie dabei begehen, friedlich passieren.

Was erwarten Sie für die Zukunft der Klimabewegung?

Es gibt bei Protestbewegungen üblicherweise Konjunkturen. Irgendwann ermüdet die mediale Aufmerksamkeit, etwa für Straßenblockaden. Deshalb ist zu erwarten, dass die Klimabewegung neue Formen des zivilen Ungehorsams hervorbringen wird. Da wird sicherlich noch einiges zu erwarten sein in Form von kreativen, friedlichen Protesten. Denn die Klimakrise ist nicht vorbei, und die Klimabewegung wird auch nicht so bald vorbei sein.

Die Fragen stellten Pauline Vestring und Lucas Riemer.

MDR (Lucas Riemer)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 24. Juli 2022 | 19:00 Uhr

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