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Diese Klasse der "Schule unterm Regenbogen" ist noch nicht mal vollzählig und platzt trotzdem aus allen Nähten. Bildrechte: MDR/Carina Emig

Personal und Räume fehlen"Wie Tetris spielen": Förderschule in Salzwedel platzt aus allen Nähten

06. Oktober 2023, 18:18 Uhr

Die "Schule unterm Regenbogen" in Salzwedel platzt aus allen Nähten. Fächer wie Werken oder Hauswirtschaft sind für die Kinder mit Förderbedarf besonders wichtig, wurden wegen Platzmangels aber gestrichen. Der Sportplatz ist inzwischen der Pausenhof. Es gibt zu wenig Toiletten und Waschbecken. Der Schulelternrat wünscht sich eine schnelle und kindgerechte Lösung.

Ursprünglich ist die "Schule unterm Regenbogen" für maximal 50 Kinder konzipiert. Momentan allerdings besuchen 84 Schülerinnen und Schüler die Salzwedeler Förderschule. Da im kommenden Schuljahr nur zwei Kinder die Bildungseinrichtung verlassen werden, könnten es noch deutlich mehr werden.

Das alles besorgt Vater Matthias Pohl: "Wir sehen, dass keine behindertengerechten Fluchtwege mehr zur Verfügung stehen, bei den Umbauten, die dort gemacht werden und dass die Kinder Schlange stehen vor den Toiletten." Denn sechs Waschbecken und gerade mal je fünf Toiletten für Jungs und Mädchen sowie zwei Rollstuhltoiletten sind zu wenig für fast 90 Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf. In der Regel geht die Klasse geschlossen zur Toilette. Müssen die Kinder Schlange stehen, erzeugt das zusätzlichen Stress, vor allem bei Epileptikern und Autisten.

Zum ehemaligen Werkraum, der jetzt Klassenraum ist, gehört dieser fensterlose Bereich ohne die Möglichkeit, ins Freie zu gelangen. Bildrechte: MDR/Carina Emig

Zu wenig Personal, zu kleine Räume

Hinzu kommt, dass Kinder mit Förderbedarf in der geistigen Entwicklung auch ein Mehr an Personal benötigen. Insgesamt arbeiten 24 Pädagogen und zwölf Einzelfallhelfer an der "Schule unterm Regenbogen". Grundsätzlich arbeiten in jeder Klasse mindestens eine Sonderpädagogin sowie zwei pädagogische Mitarbeiter. Dazu kommen dann noch Eins-zu-Eins-Betreuer, die bei vielen Kindern zwingend notwendig sind. Die Betreuer begleiten die Kids den ganzen Tag und bei allen Wegen. Die Folge: zu viele Menschen in zu kleinen Räumen ohne Ausweichmöglichkeit. Entspanntes Lernen ist dadurch kaum noch möglich.

Alles ist vollgestapelt, es ist für uns täglich wie Tetris spielen.

Dörte Rieck | Lehrerin an der Schule unterm Regenbogen

Der Sportplatz musste weichen und ist nun ein Pausenhof mit Absätzen, beschwerlich für Kinder mit Gehbehinderung. Bildrechte: MDR/Carina Emig

Klassenlehrerin Dörte Rieck bringt die Sache auf den Punkt: "Alles ist vollgestapelt, es ist für uns täglich wie Tetris spielen. Wir haben keine Ecken, um uns mit einzelnen Kindern zurückzuziehen." Dadurch ist Freiarbeit kaum möglich. Der neue Klassenraum im ehemaligen Werkraum hat keine Tür nach außen, was für Kinder mit Förderbedarf in der geistigen Entwicklung dringend notwendig wäre, um mal Luft zu schnappen und runterzukommen. "Wir haben auch keine Möglichkeit, Arbeitsergebnisse zu präsentieren, was den Kindern guttun und sie stolz machen würde", sagt Rieck. Der Werkraum der angrenzenden Pestalozzi-Schule sei zwar inzwischen theoretisch nutzbar, aber nur zu festen Zeiten. Die Förderschüler der "Schule unterm Regenbogen" müssten aber einen Werkraum flexibel nutzen können, denn manchmal entspannten sich Alltagssituationen durch Werkeln.

Neue Studie nimmt die Perspektive der Kinder in den Blick

Pädagogin Frauke Mingerzahn sieht einige Bedürfnisse der Schüler nicht erfüllt. Bildrechte: Hochschule Magdeburg-Stendal

Die Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit an der Hochschule Magdeburg-Stendal, Dr. Frauke Mingerzahn, erklärt: "Die Diskussion um das im Jahr 2026 bundesweit geltende Ganztagsfördergesetz hat zu mehr Forschung im Bereich von Ganztagsschulen und Hort geführt. Als Pädagogin ist mir eine neue Studie besonders wichtig, die Qualität in Schule und Hort aus der Perspektive der Kinder in den Blick nimmt.

Professorin Iris Nentwig-Gesemann und ihr Team haben vier Qualitätsbereiche herausgearbeitet, die den Kindern besonders wichtig sind. Diese stehen in keiner Rangfolge, sondern sind gleichermaßen bedeutsam:

  1. Die Gestaltung positiver pädagogischer Beziehungen (Beziehung zwischen Kindern und Pädagog:innen),
  2. die Gestaltung einer positiven Peer-Kultur (Beziehungen unter Gleichaltrigen),
  3. die produktive Bearbeitung von Themen und Aufgaben der mittleren und späten Kindheit sowie
  4. die Erweiterung des Bildungsraums Ganztag in die Natur- und Außenwelt.

In der "Schule unterm Regenbogen" scheinen vor allem die Qualitätsbereiche 2. und 3 beeinträchtigt."

Pädagogin: Kinder brauchen praktische Tätigkeiten

Frauke Mingerzahn ist Professorin für Pädagogik der frühen Kindheit an der Hochschule Magdeburg-Stendal. "Wenn die Verhältnisse so beengt sind, wie beschrieben, scheinen Bedürfnisse von Kindern nach raumgreifendem Spiel auf der einen Seite und nach Rückzug auf der anderen Seite nicht befriedigt werden zu können", sagt sie. Für Kinder in der mittleren und späten Kindheit seien neben dem Wissenserwerb auch praktische Tätigkeiten wichtig, "denen sie langanhaltend nachgehen, um sich in Situationen mit Ernstcharakter bewähren zu können". Diese können durch die Umwidmung von Räumen beeinträchtigt werden, so Mingerzahn.

Handwerkliche Tätigkeiten sind an Förderschulen von zentraler Bedeutung. Bildrechte: MDR/Carina Emig
Was vom ursprünglichen Schulkonzept noch übrig ist
Raum laut Schulkonzept von 2004Heutige Nutzung
HauswirtschaftsraumKlassenraum
Aufenthaltsraum für technisches Personalprovisorischer Wäscheraum mit Waschmaschine und Trockner
Computerraum und BibliothekKonferenzraum
Raum für besondere Angebote und Einzelunterrichtsangebote und HausmeisterwerkstattKleiner Klassenraum
VorbereitungsraumHausmeisterwerkstatt
Raum für besondere Angebote und Einzelunterrichtsangebote und EntspannungLagerraum für Sportschränke und -materialien (seit Abriss der Turnhalle) und Raum für das Kugelbett
BällchenbadRaum für Elterngespräche, Sprachtherapie und Einzelunterricht
WerkraumKlassenraum ohne getrennten Gruppenraum

Behinderternbeauftragter entsetzt

Die besorgten Eltern um Matthias Pohl haben sich daher an den Behindertenbeauftragten des Altmarkkreises, Enrico Meyer, gewandt. Der sagt: "Ich bin erschüttert, welche Zustände in der Schule herrschen." Bis zum nächsten Schuljahr muss dringend etwas passieren, fordert Meyer. "Schon allein die Hol- und Bring-Situation vor der Schule ist durch die enge Zuwegung nicht nur nervig, sondern auch gefährlich", sagt er. Darüber hinaus weiß Enrico Meyer, der als Kind selbst eine Schule für Kinder mit Förderbedarf besuchte, aus eigener Erfahrung, wie wichtig Funktionsräume sind: "Hauswirtschaft und Werken machen die Kinder fit fürs Leben."

Ich bin erschüttert, welche Zustände in der Schule herrschen.

Enrico Meyer | Behindertenbeauftragter des Altmarkkreises

Petition mit Verbesserungsvorschlägen

Eine Schuldzuweisung sei aber nicht der richtige Weg, betont der Kreisbehindertenbeauftragte. So sieht es auch Vater Matthias Pohl, der deshalb bei der letzten Kreistagssitzung im Namen der Elternschaft an Landrat Steve Kanitz eine Petition mit Verbesserungsvorschlägen übergab, die bereits mehr als 500 Bürger unterschrieben haben. Der Altmarkkreis ist Schulträger der "Schule unterm Regenbogen" und damit für bauliche Maßnahmen verantwortlich.

Landrat Kanitz hat Ideen zur Problemlösung

Auch der Landrat sieht die massiven Probleme und will sie angehen. Steve Kanitz (SPD) sagte, an die Schule grenze noch das Wohnheim für die Berufsbildenden Schulen, das perspektivisch neben der Berufsschule in einem Vorort Salzwedels neu gebaut werden soll. Dann könne das jetzige Wohnheim für die "Schule unterm Regenbogen" umgenutzt werden, so der Landrat.

Doch auch ihm ist klar, dass das noch lange dauern kann: "Wir müssen eine Übergangslösung finden und dafür andere Ideen mit der Schulleitung entwickeln." Der Behindertenbeauftrage Enrico Meyer erkennt schon jetzt, dass auch der zusätzliche Platz durch das Wohnheim nicht ausreichen würde. Das sei zu klein für die Masse an Kindern mit Förderbedarf in der geistigen Entwicklung, zumal ihre Zahl jährlich stiege.

Runder Tisch mit allen Beteiligten geplant

An dem Ideenprozess konstruktiv mitarbeiten wollen auch die Eltern um Matthias Pohl. Konkret schlagen sie daher mobile Wichtelwägen vor, die Klassen- und Funktionsräume ersetzen und schnell aufgebaut werden können. Strom, Wasser, Toilette, eine kleine Küche – all das ließe sich in die Wichtelwägen integrieren, sagt Matthias Pohl vor. Zudem entsprächen die Wichtelwägen dem waldpädagogischen Konzept der "Schule unterm Regenbogen". Darüber hinaus seien sie weniger kostenintensiv als ein Neubau. "Wir haben bereits Kontakt zu einem Hersteller aufgenommen. Nun wollen wir alle Entscheidungsträger schnellstmöglich an einen Tisch holen", sagt Pohl.

Wir brauchen bis zum kommenden Schuljahr eine Lösung. Das geht nur, wenn alle an einem Strang ziehen.

Matthias Pohl | Schulelternrat

Das seien neben Landrat Steve Kanitz auch der Bürgermeister der Stadt Salzwedel, Olaf Meining, das Bauamt, die Behindertenbeauftragten der Stadt Salzwedel und des Landkreises, der Schulelternrat, die Schulleitung, und – ganz wichtig – der Bildungsausschuss und das Schulamt des Altmarkkreises. "Wir brauchen bis zum kommenden Schuljahr eine Lösung. Das geht nur, wenn alle an einem Strang ziehen. Deswegen plädieren wir Eltern dafür, Lösungen pragmatisch, kreativ und unorthodox zu anzugehen", so die Wünsche von Schulelternrat Matthias Pohl für die "Schule unterm Regenbogen".

Mehr zum Förderschule in Sachsen-Anhalt

MDR (Carina Emig, Fabienne von der Eltz)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 29. September 2023 | 06:30 Uhr

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