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Die Geschiche der Juden ist eine von Duldung, Vertreibung und Neuansiedlung – auch auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalts. (Symbolbild) Bildrechte: IMAGO/ingimage

AntisemitismusNeue Synagogen, alte Vorurteile: "Wofür brauchen wir das Ganze?"von Uli Wittstock, MDR SACHSEN-ANHALT

28. Dezember 2023, 18:06 Uhr

Schon vor mehr als eintausend Jahren lebten Juden auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalts – doch noch immer sorgt ihre Anwesenheit für Debatten. Mit der Eröffnung zweier neuer Synagogen in Dessau und Magdeburg ist deutlich geworden, dass es nun wieder ein aktives jüdisches Leben gibt. Aber wie schon vor tausend Jahren trifft das auf Vorbehalte und Ablehnung.

Seit diesem Jahr gibt es in Magdeburg die vierte Synagoge in der Geschichte der Stadt – und antisemitische Reflexe. Da schreiben Nutzer in den Kommentarspalten von MDR SACHSEN-ANHALT: "Vom Land Sachsen-Anhalt wurden 2,8 Millionen (!) Euro für diese Synagoge in MD bezuschusst. Ohne Worte." Und es wird unter anderem so reagiert: "Sie haben absolut recht. Wofür brauchen wir das Ganze ?? " [sic!]

Die Ablehnung von Jüdinnen und Juden reicht weit zurück. Bereits für das Jahr 965 ist eine jüdische Gemeinde in Magdeburg urkundlich erwähnt. Das ist die früheste Erwähnung in ganz Mitteldeutschland – und kein Zufall. Otto der Große, erster deutscher Kaiser und im Magdeburger Dom begraben, sichert in einer Urkunde "Juden und anderen Händlern" eine zollfreie Tätigkeit zu. Heute würde man wohl von Wirtschaftsförderung sprechen.

Uneigennützig seien solche Entscheidungen nicht gewesen, erklärt Historiker Michael Hecht von Sachsen-Anhalts Institut für Landesgeschichte MDR SACHSEN-ANHALT: "Die Vergabe solcher Schutzbriefe an Juden gehörte zu den königlichen, später auch fürstlichen Hoheitsrechten. Wenn die Herrscher Schutz versprachen und bestimmte Rechte verliehen, war das meist mit hohen Abgaben verbunden, die in die fürstlichen Kassen flossen."

Michael Hecht (links) leitet das Institut für Landesgeschichte. Bildrechte: picture alliance/dpa/Hendrik Schmidt

Übergriffe auf Juden schon im Mittelalter

Beim Aufstieg der heutigen Region Mitteldeutschland spielen die Juden eine nennenswerte Rolle, beispielsweise bei der Entwicklung des Fernhandels. Allerdings ist das Zusammenleben schon im Mittelalter nicht konfliktfrei.

Die Magdeburger Chroniken dokumentieren zahlreiche Übergriffe auf Juden der Stadt. Mal sind es Mitbürger, mal ist es die Obrigkeit, die den Juden zusetzen, oft aus tiefsitzendem Misstrauen, so Michael Hecht: "Zum einen gibt es eine religiöse Argumentation gegen Juden, indem man sich auf die Bibel bezieht und den Juden Gotteslästerung vorwirft." Das gipfele in Verschwörungsideen, etwa in der Vorstellung von jüdischen Ritualmorden.

Es gibt eine religiöse Argumentation gegen Juden, indem man sich auf die Bibel bezieht und den Juden Gotteslästerung vorwirft.

Michael Hecht | Historiker

Trotz der Übergriffe siedeln im Mittelalter Juden in vielen Städten des heutigen Sachsen-Anhalts. Begriffe wie Judenstraße oder Jüdendorf finden sich so noch heute in den Stadtplänen und Landkarten.

Die Pest: Tausende Magdeburger sterben

Im Jahr 1450 durchlebt Magdeburg eine schwere Pestepedemie, 8.000 Einwohner sterben. Auf der Suche nach den Ursachen für das Massensterben kommen auch die Juden unter Verdacht: Sie hätten die Brunnen vergiftet. 1493 werden die Juden aus Magdeburg vertrieben und die Synagoge wird in eine Marienkirche umgewandelt.

Ein Jahr später ist es der Bischof von Halberstadt, der ebenfalls alle Juden ausweist. Auch der Reformator Martin Luther macht kräftig Stimmung. Er fordert die Zerstörung von Synagogen und Wohnhäusern, die Einziehung von Geld und Besitz sowie das Verbot jüdischer Gottesdienste.  

Jüdisches Leben nach der Vertreibung

Doch in den folgenden Jahrhunderten entwickelt sich in einigen Regionen erneut jüdisches Leben. Ein wichtiger Ort wird Halberstadt, wo der sogenannte Hofjude Berend Lehmann aktiv ist – ein wichtiger Finanzberater von August dem Starken, dem König in Sachsen.

Mit der Industrialisierung steigt der Anteil der jüdischen Bevölkerung in der Region noch einmal deutlich. Historiker Michael Hecht sagt: "Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts dürfen sich im Fürstentum Halberstadt, im Herzogtum Magdeburg und im Fürstentum Anhalt eine begrenzte Zahl an sogenannten Schutzjuden ansiedeln. Im Laufe des 19. Jahrhunderts gibt es dann eine deutliche Zunahme der jüdischen Bevölkerung in der Provinz Sachsen und in Anhalt."

Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts dürfen sich im Fürstentum Halberstadt, im Herzogtum Magdeburg und im Fürstentum Anhalt eine begrenzte Zahl an sogenannten Schutzjuden ansiedeln.

Michael Hecht | Historiker

Das Ende der Toleranz

Es ist die Zeit des Aufbruchs, industriell wie politisch. In Halle, Dessau und Magdeburg werden neuen Synagogen gebaut, die das Selbstverständnis der Juden widerspiegeln.

Doch mit der Machtübernahme der Nazis enden die Jahre der Toleranz. Im November 1938 kommt es zu massiven Übergriffen auf jüdische Geschäfte und Einrichtungen.

40 Jahre später erinnert sich der Überlebende Abraham Glanz im Rundfunk der DDR an die Ausschreitungen in Magdeburg: "Am 9. November, in der Nacht nach um 12, zerstörten sie unsere Synagoge. Das waren die Magdeburger SA mit dem Ortsgruppenleiter Kruske. Man hat die jüdischen Geschäfte zertrümmert." Nach Zerstörung der Synagoge habe man in derselben Nacht 600 jüdische Menschen, den Rabbiner und Gemeindevorstand verhaftet und nach Buchenwald gebracht.

Antisemitismus im Jahr 2023

Es waren der Magdeburger Ortsgruppenleiter Kruske sowie seine NS-Schergen, die damals die Synagoge der Stadt zerstörten. Da scheint es mehr als angemessen, wenn der deutlich kleinere Neubau von 2023 mit Unterstützung der öffentlichen Hand erfolgt. Es gilt das Verursacherprinzip.

Selbst der mittelalterliche Religionshass nach der Art Martin Luthers wird in Nutzerkommentaren zur Eröffnung der Synagogen neu interpretiert: "Wir haben Synagogen und Moscheen. Und die Kirchen verfallen. Und der Michel klatscht Beifall, oder nicht?"

Antisemitismus und Israels Politik

Zudem wird die aktuelle Politik des Staates Israels als Grund für die kritische Sicht angeführt. "Jüdisches Leben kann hier nur sicher leben, wenn Israel endlich anfängt seine zionistischen Vorstellungen beiseite zu legen", so ein Kommentar zur Eröffnung der Synagoge in Dessau.

Die Kritik an der Politik Israels ist kein Antisemitismus, solange daraus keine Kollektivschuld abgeleitet wird. Mit gleichem Blick könnte man auch die in Deutschland lebenden Russen für die Politik Putins verantwortlich machen.

Antisemitismus selbst bei Behörden

Dass Sachsen-Anhalt ein Problem mit Antisemitismus hat, ist nicht erst seit dem Angriff auf die Synagoge in Halle bekannt. Vor zwei Jahren wurde der Sonderbericht einer Untersuchungskommission zu institutionellem Antisemitismus in Sachsen-Anhalts Landespolizei vorgestellt. Dem vorausgegangen war eine Reihe von antisemitischen Schmähungen im Polizeialltag.

Weil antisemitischen Straftaten von Sachsen-Anhalts Gerichten offenbar zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, gibt es inzwischen einen Antisemitismusbeauftragten für die Justiz. Dazu passt die Meldung, dass im Herbst dieses Jahres eine antisemitische Schmiererei in den Räumen des Justizministeriums entdeckt wurde.

Antisemitismus von Zugewanderten

Jedoch dreht sich die öffentliche Debatte derzeit überwiegend um Antisemitismus von Zugewanderten. Sachsen-Anhalts Innenministerin brachte eine neue Verordnung auf den Weg: Menschen, die eingebürgert werden wollen, müssen nun auch das Existenzrecht Israels anerkennen.

Es könnte aber sein, dass die meisten Antisemiten in Sachsen-Anhalt ein solches Papier nie unterschreiben werden. Denn sie sind Deutsche.

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MDR (Uli Wittstock, Luise Kotulla)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 28. Dezember 2023 | 17:00 Uhr

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