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KommentarVier Tage Schule – wird Sachsen-Anhalt dümmer?

10. Juli 2022, 09:36 Uhr

Sachsen-Anhalt will eine verkürzte Schulwoche testen. Weniger Schultage, dafür mehr Praktika und Heimunterricht. Die Aufregung ist groß, von der Aushöhlung der Schulpflicht ist die Rede. Dabei sollte nicht nur die Präsenz, sondern das gesamte Schulsystem reformiert werden, kommentiert unser Autor Uli Wittstock – denn Sachsen-Anhalt steht in besonderer Pflicht.

Am 7. Tage sollst du ruhen, so steht es in der Bibel. Sachsen-Anhalts Schulverwaltung hat jetzt den Bibelspruch umgewandelt. Für Schülerinnen und Schüler heißt es ab nächstes Schuljahr: Am fünften Tag sollst Du ruhen. Denn zumindest als Modellprojekt ist geplant, dass in Zukunft Schulen verstärkt auf Praktika oder Heimunterricht setzen.

Meine Schulzeit zwischen Fahnenappell, Staatsbürgerkundeunterricht und Einführung in die sozialistische Produktion verlief für mich nur selten erfreulich. Um das ganze unnütze Wissen abzuladen, wurde seinerzeit sogar noch der Sonnabend für den Unterricht genutzt – ein Verdämmern zwischen dem Berechnen von Geschossbahnen und dem Singen von Pionierliedern. Eine Verkürzung der Wochenstunden hätte ich seinerzeit natürlich begrüßt. Dazu allerdings musste dann erst die Mauer fallen.

Anwesenheit garantiert keinen Bildungserfolg

Jetzt steht Sachsen-Anhalts Bildungssystem scheinbar erneut vor einem Mauerfall, nämlich der Mauer, welche die Zivilisation von der Barbarei trennt. Dass Schulen im nächsten Jahr mit flexibler Anwesenheit experimentieren können, wird als Angriff auf die allgemeine Schulpflicht kritisiert, so als würde das Lernen ausschließlich in Klassenzimmern möglich sein.

Es gäbe viele Gründe, die weltferne Bildungsstruktur aufzubrechen. Doch statt Chancen zu sehen, macht sich Misstrauen breit.

Doch genau diese Haltung führt dazu, dass unser Schulsystem nur sehr unzureichend auf die Herausforderungen des modernen Lebens vorbereitet. Der Umgang mit Geld oder Grundkenntnisse über wirtschaftliche Zusammenhänge werden kaum vermittelt und auch das Verhalten in digitalen Lebenswirklichkeiten spielt in der Blase des Schulsystems nur selten eine Rolle. Es gäbe also viele Gründe, die weltferne Bildungsstruktur aufzubrechen. Doch statt Chancen zu sehen, macht sich sofort Misstrauen breit.

Lehrermangel und die Unschärfen in der Kommunikation

Dazu dürfte wohl die Ministerin ihren Teil beigetragen haben. Denn die Mitteilung, dass die umstrittene 4 plus 1-Regel keinesfalls im Zusammenhang mit dem Lehrermangel stehe, wird selbst ein Siebtklässler kaum glauben können und auch der Landtag debattierte ja das Thema vor genau diesem Hintergrund. Es wäre also an der Zeit einzuräumen, dass alle Versuche, den Lehrermangel auch nur mittelfristig zu beheben, scheitern werden.

Dass die 4 plus 1-Regel keinesfalls im Zusammenhang mit dem Lehrermangel stehe, wird selbst ein Siebtklässler kaum glauben können.

So wie in Sachsen-Anhalt bereits Landärzte, Köche, Pflegekräfte oder Schwimmmeister fehlen, so hat auch der Lehrermangel eine wesentliche Ursache und die ist als demografischer Wandel bekannt. Dieses Thema ist allerdings der große weiße Elefant in Sachsen-Anhalt, den zwar jeder sieht, aber niemand debattieren möchte. Insofern ist die 4 plus 1-Regel tatsächlich der ernstzunehmende Versuch, diese Realität zur Kenntnis zu nehmen. Doch so löblich die Idee ist, so holprig ist die Umsetzung.

Wie Christian Füller, der Autor des Spiegel-Artikels und Journalist, der seit Jahrzehnten über die deutsche Bildungspolitik schreibt, seine Recherche begründet, lesen und hören Sie ausführlich im MDR-Podcast "Was bleibt?".

Bildungsrisiko wird privatisiert

Dass sich derzeit nur Sekundar- und Gemeinschaftsschulen an dem Pilotprojekt beteiligen, wundert nicht, denn in diesen Schulformen ist der Lehrermangel besonders stark und Gymnasien haben deutlich weniger Stundenausfall als die übrigen Schulformen in Sachsen-Anhalt. Die Erfahrungen aus der Pandemie haben jedoch gezeigt, dass es für Kinder aus sogenannten bildungsfernen Haushalten deutlich schwerer war, die Herausforderungen des Distanzlernens zu bewältigen. Und weil diese Kinder eher selten auf Gymnasien zu finden sind, stellt sich nun die Frage, warum ausgerechnet sie nun die Risiken des Lehrermangels schultern sollen. Es wäre also pädagogisch wohl sinnvoller, das Konzept eher für Gymnasien zu testen.

Sachsen-Anhalt steht da in einer besonderen Pflicht, weil jedes vierte Kind als arm gilt und jeder zehnte die Schule ohne Abschluss verlässt.

Da dort allerdings kaum Lehrermangel herrscht, gibt es dort auch keinen Handlungsbedarf. Wenn aber das Bildungssystem Chancengleichheit ermöglichen soll, dann müsste genau dies jetzt debattiert werden. Sachsen-Anhalt steht da in einer besonderen Pflicht, weil jedes vierte Kind als arm gilt und jeder zehnte die Schule ohne Abschluss verlässt. Es sollte also sehr genau durchdacht werden, wem das selbstständige Lernen zu Hause ermöglicht werden sollte.

Unwucht im Bildungssystem beseitigen

Sollte es die Ministerin ernst nehmen mit ihrem Reformeifer, dann müsste sie über ihren parteipolitischen Schatten springen und über eine Änderung der Schulstruktur nachdenken, welche ja leider noch immer an das 19. Jahrhundert erinnert. Die frühe Trennung von Schülerinnen und Schülern in Klasse 5 und die daraus folgende schlechtere Unterrichtsversorgung in den nichtgymnasialen Schulformen muss also auf den bildungspolitischen Prüfstand gestellt werden. Ansonsten würde ich der Landesregierung raten, die Wahlpflicht auf 16 Jahre abzusenken. Ich hätte nämlich seinerzeit jede Regierung gewählt, die mir weniger Schultage versprochen hätte.

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MDR (Max Schörm)

Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN-ANHALT | 09. Juli 2022 | 15:00 Uhr

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