Dresdner RedenKatja Riemann: Von der Endlosigkeit und Übermacht von Zäunen
Die Schauspielerin, Unicef-Botschafterin und Autorin Katja Riemann sprach am Sonntag in Dresden über ihre Erfahrungen in Flüchtlingslagern, über Zäune und über Flucht. Die zweite Dresdner Rede im Staatsschauspiel war nahezu ausverkauft. Riemann zoomte das Thema Flucht heran und legte den Fokus auf den Alltag im Interim.
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"Bilder, die über Geflüchteten-Lager aus der Luft gemacht werden, zeigen eine distanzierte Sicht, der ich etwas entgegensetzen möchte", erklärt Riemann zu Beginn ihres Vortrages, der eigentlich eine Lesung ihres aktuellen Buches "Zeit der Zäune" ist. Riemann ist dafür in große Flüchtlingslager gereist: In den Nordirak, in das Flüchtlingslager Moria der griechischen Insel Lesbos und zum Gelände des ehemaligen "Dschungels" von Calais, eine Zeltstadt mit provisorischen Unterkünften nahe der französischen Stadt Calais, die 2006 geräumt wurden.
Sie ist dort nicht als Schauspielerin aufgetaucht, sondern wie sie sagt, allein gereist und ohne Team. Verbunden mit der Frage, wie es sich lebt auf der Flucht, im Interim zwischen der einen und der anderen Welt.
Was bleibt hängen am Nato-Draht der Zäune?
"Menschen verlassen ihre Heimat nicht ohne Grund", kündigt Karin Großmann, Redakteurin der Sächsischen Zeitung, Riemanns Auftritt im Schauspielhaus an. "Was bleibt hängen am Nato-Draht der Zäune, wie organisiert sich das Leben in den Geflüchteten-Lagern?". Das Schauspielhaus ist fast ausverkauft, Hunderte Dresdner sind gekommen, um die Schauspielerin zu erleben – und zusammen über Grenzen und Zäune nachzudenken, vielleicht sogar Antworten zu finden.
"Mich interessiert ihr Interesse für die Unterdrückten"
"Ich verfolge seit Jahren die Dresdner Reden mit großen Interesse, angefangen mit Willi Brandt", erklärt Barbara Richter vor der Veranstaltung, während sie auf ihre Gefährtin wartet. Für sie scheint es ein gesellschaftspolitischer Pflichttermin. Ein Vormittag mit der Hoffnung auf Erkenntnis. Nicht nur das: auf Mut, Haltung und Herz.
"Auf Katja Riemann freue ich mich besonders, weil ich auch ihren Lebensweg verfolge, ihr Interesse für die Menschen außerhalb Deutschlands und Europas, ihr Interesse für die Unterdrückten", erklärt Richter.
"Das Thema Flüchtlinge ist präsent - besonders an den Brennpunkten", sagt eine Zuschauerin, die anonym bleiben möchte. "Jeder hat eine andere Sicht, ich bin teilweise für und teilweise gegen Grenzen. Europa sollte Europa bleiben."
Ralf Fritzsche aus Dresden lockt vor allem Katja Riemann als Schauspielerin. "Ich habe Riemann sozusagen in ihrem Leben filmisch begleitet. Jetzt habe ich die Möglichkeit einmal näher heranzurücken. Sie als Person und ihr Engagement, das will ich einfach leibhaftig erleben."
Orientierung in unübersichtlichen Zeiten
Katharina Brandt reizt das Bedürfnis, die Zeichen der Zeit einzuordnen. "Ich hoffe etwas zu erfahren, um unsere Zeit besser zu verstehen", erläutert Seniorin Brandt kurz vor der Veranstaltung. "Die Zeit ist unübersichtlich. Es konzentriert sich gerade sehr viel."
Befreiende Orientierung gibt es bei Katja Riemann allemal. Farbig steht sie auf der Bühne, im pink-gemusterten Hosenanzug. "Illegale Flucht ist illegal, weil es keine legale Flucht gibt", sagt Riemann. "Illegale Flucht ist illegal, weil wir sie dazu machen."
Das Essen ist fertig!
Rieman beginnt mit einem Lager für geflüchtete Jesiden im Nordirak. Sie beschreibt die Plastik der Planen, den Staub der Wege, die Begegnungen und die Einladungen zum Kochen der Mütter. Die berauschende Gastfreundschaft, die ihr immer widerfährt.
Es sind die Schilderungen des Alltags und des Aufeinandertreffens, welche die Menschen als Menschen hervortreten lassen. Jungs, die Physik pauken und lässig im Dialog erklären, sie seien natürlich nicht aufgeregt vor der Prüfung. Mütter, die über den Platz rufen, das Essen sei fertig und Schüler, die im Zweischichtsystem zum Unterricht gehen, weil die Container für alle zu klein sind.
Weltweit 70 Prozent Binnenflüchtlinge
"Jede Person hier blickt auf einen Genoizid zurück", erläutert Riemann. Jede Biographie sei hier verbunden mit den Fragen: "Wer kam an? Wer blieb zurück? Wer wurde ermordet?" Die Jesiden seien Binnenflüchtlinge im eigenen Land. "Weltweit sind 70 Prozent der Flüchtlinge Binnenflüchtlinge, ein großer Teil flüchtet auch in Nachbarländer", sagt Rieman. "Nur der kleinste Teil will nach Europa oder in die USA."
Es sind diese Einordnungen, mit denen Katja Riemann spricht. Mit denen sie formuliert, was ihre Haltung ist. Mit denen sie skizziert, wie nah und fern Flucht ist.
Traumata der Flucht haben sich auch in Familien in Europa eingegraben
Insgesamt 18 Millionen Deutsche seien zwischen 1945 und 1950 aus den Ostgebieten geflohen. Es habe einst auch sehr viele deutsche Flüchtende gegeben. 18 Millionen - eine Zahl zum Nachdenken. Zum Vergleich: Etwa 1,1 Millionen Menschen sind seit 2022 aus der Ukraine nach Deutschland geflüchtet. "Auch in unsere Familien in Europa hat sich die Flucht eingegraben, werden Traumata von Generation zu Generation weiter gegeben", holt Riemann die Flucht in die Nähe zu uns mitten nach Deutschland.
Viele jüdischen Flüchtlinge identifizierten sich als Deutsche
Noch ein Gedanke, der nicht neu, jedoch oft nicht bewusst ist: Viele Juden identifizierten sich als Deutsche, hatten die deutsche Staatsbürgerschaft. Auch jüdische Deutsche mussten flüchten. Riemann zitiert Hannah Arendt aus ihrem Buch "Wir Flüchtlinge". Man habe das Zuhause und die Vertrautheit des Alltags verloren, den Beruf und die eigene Sprache.
Flucht ist vor allem Verlust. Verlust von allem, was es vorher einmal gab. Fast wie eine biographische Stunde null. Plötzlich ist man abhängig von allem.
Internationale Flüchtlingskonferenz 1938
Was besonders bedrückt: Riemann erwähnt die Internationale Flüchtlingskonferenz 1938 in den französischen Alpen. Insgesamt 32 Staaten berieten dort über die rapide steigende Zahl von jüdischen Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich. Doch auch nach zehn Tagen Konferenz am Genfer See fand sich kein Staat bereit, die Flüchtlinge in größerem Umfang aufzunehmen. "32 Staaten zeigten sich unfähig, die Größe des Problems zu sehen", sagt Riemann. "Wir würden gern, können aber leider nicht", sei der höflich formulierte Tenor gewesen.
Die jüdischen Flüchtenden seien sich selbst überlassen gewesen. "Flüchtlinge waren lästig", sagt Riemann. "Flucht war immer existenziell. Zu allen Zeiten, überall auf der Welt. Man floh und hetzte durch die Länder, um irgendwo in Sicherheit zu sein."
Studium und Promotion aus dem Flüchtlingscamp heraus
Die Skalierung der Flucht deprimiert aber nicht. Katja Riemann schafft es, den Flüchtenden ihre Würde zu geben. Indem sie einfach mit ihnen spricht, ihre Lebenswelten normal behandelt, als ein "du" und ein "ich" - ein "wir". Der durchtrainierte Medizinstudent zum Beispiel, der aus dem Flüchtlingscamp nicht nur sein Studium managt, sondern auch promoviert. "Wollen wir hoffen, dass er nicht nach Europa flieht, wo sein Doktor nicht anerkannt wird", erklärt Riemann und erntet ungeplanten Applaus.
Überhaupt, die Kinder und Jugendlichen klemmten sich hinter die Bücher, akribisch, als ob es kein Morgen gäbe. "Man lernt, um die Hoffnung im Herzen, akademisch zu stabilisieren", sagt Riemann. "Bildung ist für die Geflüchteten der Schlüssel aus der Misere, in die sie sich nicht selbst gebracht haben."
Die Abschiebung von Mo
Riemann schildert auch ihre lebendige Bekanntschaft mit Mo (Mohammed), der mit 28 anderen aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben wurde - in ein Land, wo er noch nie war, er niemanden kennt, dessen Pass er aber besitzt. Es gibt viele unglaubliche Geschichten, die sich um Hoffnung, Durchhalten, Zufälle und Staatsbürgerschaften ranken.
Doch in Calais, dort in Calais, wo es einmal das riesige Flüchtlingscamp, den "Dschungel von Calais" gab, dort muss auch Katja Riemann um Fassung ringen. "Hier wusste ich auf einmal, wie mein Buch heißen würde."
Dieser Nato-Draht, der sich - auch Jahre nach der Räumung des Lagers - in seiner unmenschlichen Härte ins Bewusstsein sticht. Ein Draht der Verzweiflung, der Kapitulation vor Verantwortung. "Zäune wie große Metallgebisse", hatte es Riemann zu Beginn ihrer Rede formuliert. "Die Zeit bleibt nicht stehen, auch hinter Zäunen nicht, auch nicht im Interim."
Verantwortung und Menschlichkeit
Überhaupt, Verantwortung und Menschlichkeit scheinen die große Botschaft zu sein. Riemann schafft einen menschlichen Zugang zu Menschen, die sich gerade auf der Flucht befinden. Oft fehlten aber Worte für das Grausame, Unfassbare. "Ich weiß nicht, was ich sagen soll", diese Gedanken blieben oft, führt Riemann aus. Leider würden Nationalisten immer laut poltern und sofort wissen, was zu sagen ist. "Die Ratlosigkeit ist unter uns. Wir sollten ihr entgegentreten. Wir sollten in unserer Komfortabilität das Denken nicht einschränken."
Dieses Thema im Programm:MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Aufgefallen | 04. März 2024 | 20:00 Uhr