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Auf den ersten Blick unspektakulär. Doch der Kleinstcomputer Calliope mini kann für Kinder der Zugang zur Welt hinter den allgegenwärtigen Screens sein. Bildrechte: picture alliance / Calliope gGmbH/dpa | Calliope gGmbH

Digitale BildungGrundschüler lernen mit Mini-Computer programmieren

19. Mai 2024, 05:00 Uhr

In Sachsen ist Informatik wie in Sachsen-Anhalt und Thüringen kein Grundschul-Fach. Es hängt an Ehrenamtlichen und Ganztagsprojekten wie dem Programmierkurs von Heike Wilson an einer sächsischen Grundschule. Wilson kämpft dabei nicht nur mit fehlender Planungssicherheit, sondern auch mit schlechter Infrastruktur.

Montagnachmittag, Grundschule Liebstadt, Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge: IT-Unternehmerin Heike Wilson steht im Computerkabinett und bereitet alles für das Ganztagsangebot "Programmieren mit Calliope mini" ("Progta") vor. Vor den Fenstern, die ins Grüne blicken ließen, sind Jalousien heruntergelassen. Zehn PC-Arbeitsplätze gibt es hier, dazu einen Satz Tablets.

Thoralf und Artur flitzen herein und sind noch ganz aus der Puste vom Sportunterricht. "Wir haben uns beeilt", sagt Artur. Nach und nach trudeln auch Oliver, Emilia und Lilly ein. Die fünf gehen in die vierte Klasse und sind laut Heike Wilson "der harte Kern" ihrer kleinen Projektgruppe.

Das Projekt: Programmieren lernen abseits des Nerd-Klischees

Wilson hat eine Topfpflanze und Basilikum mitgebracht. Die fünf Kinder sollen diesmal testen, ob ihr bereits erstelltes Programm funktioniert, das Aussagen zur Überlebensfähigkeit der Pflanzen machen soll. Mit den Sensoren des Calliope mini kann die Feuchtigkeit im Blumentopf gemessen werden. Einer nach dem anderen steckt zwei Kuchengabeln in die Blumentöpfe und schließt den Mini-Computer über zwei Krokodilklemmen an. Hat die Blumenerde ausreichend Feuchtigkeit, die den Strom leiten kann, erscheint auf dem Calliope ein lachendes Gesicht. Oliver erklärt: "Der Smiley lacht, weil es verbunden ist. Und wenn es keinen geschlossenen Kreis gibt, dann lacht er nicht." Er komme gern hierher, weil es ihm Spaß mache und er Programmieren einfach mag, sagt er.

Der Spaß ist auch für Thorsten Leimbach ein zentraler Aspekt. Leimbach leitet das Geschäftsfeld "Smart Coding and Learning" beim Fraunhofer-Institut für Intelligente Analyse- und Informationssysteme IAIS in Sankt Augustin. Er verantwortet die Oberfläche "Open Roberta", die auch Heike Wilson und die Liebstädter Grundschulkinder nutzen, um ihren Calliope mini zu programmieren. "Es macht riesig Spaß", erklärt er im Gespräch mit MDR AKTUELL. "Und ich ändere das Selbstkonzept von Schülerinnen und Schülern, insbesondere bei Mädchen." Mit "Open Roberta" könne man schon vor der Pubertät ansetzen und zeigen, dass Programmieren kein Hexenwerk sei. "Das ist nichts, was der verrückte Wissenschaftler macht, sondern etwas, das oft total Spaß macht, was man nachvollziehen kann und was man auch gemeinsam machen kann."

Das [Programmieren] ist nichts, was der verrückte Wissenschaftler macht, sondern etwas, das oft total Spaß macht, was man nachvollziehen kann und was man auch gemeinsam machen kann.

Thorsten Leimbach | Fraunhofer-Institut IAIS

Etwas zusammen mit den Freunden machen, das war auch für die Viertklässlerinnen Lilly und Emilia ausschlaggebend. Sie mache mit, sagt Emilia, weil hier alle ihre Freunde aus der Klasse seien und "weil es mir auch Spaß macht". Klassenkameradin Emilia ergänzt: "Ich hab vom Thoralf gehört, dass Programmieren richtig viel Spaß macht, deswegen bin ich hier hingegangen. Und hier sind auch viele Freunde von mir."

Calliope miniDer Calliope mini ist ein Einplatinencomputer, der über Hardware und Code kleine Aufgaben lösen kann. Er eignet sich schon für Grundschüler und Grundschülerinnen ab der dritten Klasse. Über Plattformen wie "Open Roberta" von Fraunhofer, "MakeCode" von Microsoft oder "Scratch" vom MIT können Kinder mit dem Calliope mini Projekte realisieren.

Ehrenamtliches Engagement statt Schulunterricht

Wenn sie nicht gerade ehrenamtlich in der Grundschule Liebstadt steht, ist Heike Wilson IT-Unternehmerin und Geschäftsführerin eines Softwareunternehmens in Dresden. Außerdem sitzt sie im Vorstand des Banchenverbands Silicon Saxony. Vom Progta-Programm ist sie nicht nur Schirmherrin, sie hat es 2018 auch ins Leben gerufen, als ihr eigener Sohn in die Liebstädter Grundschule kam. Sie sei enttäuscht gewesen über die Bilanz der Politik und wollte nicht, dass eine weitere "Generation verloren geht".

Das Grundschulprogramm rund um den Calliope mini habe sie schon 2016 auf dem IT-Gipfel kennengelernt, erklärt Wilson. Es sei prominent angekündigt und vorgestellt worden – damals noch von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Auf einen Rollout im gesamten Bundesgebiet wartete Wilson jedoch vergeblich. Sie nahm die Sache selbst in die Hand.

Nach zwei Jahren und "einer gewissen Ernüchterung, weil nichts passierte", habe sie 2018 das ehrenamtliche Ganztagsangebot mit dem Calliope mini in der 3. Klasse an der Grundschule ihres Sohnes gestartet. "Schnell habe ich gemerkt, welche Begeisterung man auch schon in diesem Alter bei den Kids erzeugen kann und dass vor allem auch die Mädchen in meinen Kursen in diesem frühen Alter eine gleiche Begeisterung fürs Programmieren zeigten wie ihre gleichaltrigen Schulkameraden."

Schnell habe ich gemerkt, welche Begeisterung man auch schon in diesem Alter bei den Kids erzeugen kann und dass vor allem auch die Mädchen in meinen Kursen in diesem frühen Alter eine gleiche Begeisterung fürs Programmieren zeigten wie ihre gleichaltrigen Schulkameraden.

Heike Wilson | Schirmherrin "Progta"

Projektbasierte Förderung, kaum Planungssicherheit

Seit Anfang 2023 wird das Projekt nun aus Landesmitteln des Freistaats Sachsen gefördert. 265.182 Euro schießt das Kultusministerium über den Fördertopf "Initiative Digitale Schule Sachsen" zu. 29.465 Euro muss der Projektträger "Landesverband Sächsischer Jugendbildungswerke e.V." (LJBW) selbst aufbringen. Die Bewilligung gilt zunächst für zwei Jahre, also bis Ende 2024. Der Antrag auf Verlängerung läuft bereits, erklärt Marcus Kotte vom LJBW. Zusätzliches Geld gäbe es dann zwar nicht. Immerhin könnte man das Progta-Projekt so vielleicht aber aufrechterhalten. Derzeit würden noch händeringend Sponsoren gesucht. Unterstützung bei der Realisierung erhält der LJBW vom Verein Silicon Saxony.

An 26 Grundschulen in Sachsen gibt es das Progta-Programmierprojekt bereits. 100 sollen es werden. Nicht nur Heike Wilsons Firma stellt Coaches, auch Unternehmen wie der Chiphersteller Global Foundries, die Unternehmensberatung Deloitte oder Carl Zeiss beteiligen sich. Der große Wunsch von Heike Wilson ist es, dass der Calliope mini irgendwann mal im regulären Unterricht zur Anwendung kommt.

Kein Informatik-Unterricht an Grundschulen

Die Förderrichtlinie "Initiative Digitale Schule Sachsen" ist noch relativ neu. Wie das Sächsische Staatsministerium für Kultus MDR AKTUELL mitteilte, wurden aus dem Topf seit 2022 insgesamt 31 Projekte mit einer Fördersumme von mehr als 7,7 Millionen Euro bewilligt. Bis April dieses Jahres seien gut 3,5 Millionen Euro ausgezahlt worden. Die Mittel haben nichts mit dem Digitalpakt Schule, also dem Geld vom Bund zu tun. Mit schulnahen Projekten und Angeboten will die Initiative laut Ministerium die "digitale und informatische Bildung von jungen Menschen stärken". Schriftlich teilt das SMK mit.

Informatik- oder Programmierunterricht an Grundschulen gibt es weder in Sachsen noch in Sachsen-Anhalt oder Thüringen. Alle drei Länder teilen auf Anfrage mit, dass Grundkenntnisse in dem Bereich im Rahmen der bestehenden Schulfächer vermittelt werden sollen – in Sachsen etwa im Werkunterricht. Der Rest läuft entweder über engagierte Lehrkräfte oder Ehrenamtliche. Sachsen-Anhalt verweist auf diverse Tools und eine Webakademie, mit denen sich Lehrkräfte und Schüler fit machen können. Calliope sei auch in Thüringen bekannt und werde von Schulen genutzt, teilte ein Sprecher mit. Einen Überblick welche oder wie viele Grundschulen den Minicomputer einsetzen, hat das Bildungsministerium in Erfurt jedoch nicht.

Deutschland mit immensem Nachholbedarf

Auch im internationalen Vergleich hinkt Deutschland bei der Vermittlung von Programmierwissen in der Grundschule hinterher. Bereits seit dem Schuljahr 2014/15 wird das Fach "Computing" in Großbritannien durchgehend von der ersten bis zur elften Klasse unterrichtet. Estland setzt seit Ende der 1990er-Jahre sogar noch früher an und bietet Programmieren bereits für Kita-Kinder. Im Ergebnis kann sich das Land heute über eine international erfolgreiche IT-Branche freuen. In neun von 27 europäischen Ländern ist Informatik ab der ersten Klasse Pflichtfach. In Deutschland gibt es das in keinem Bundesland. Einzig Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern haben immerhin ab der fünften Klasse das Pflichtfach Informatik.

Die Gesellschaft für Informatik (GI) empfahl schon in ihrem Gesamtkonzept aus dem Jahr 2000 "grundlegende Elemente der Informatik vom Kindergarten bis zum Abitur" zu implementieren "im Sinne einer informatischen Allgemeinbildung". Passiert ist wenig.

"Andere Länder sind uns tatsächlich voraus in der Ausstattung der Schulen, nicht in der Idee und in den Konzepten", gibt Thorsten Leimbach von Fraunhofer zu bedenken. "Open Roberta" sei eine von drei, vier Umgebungen zur grafischen Programmierung, die es weltweit gebe. "Aber dass man eben nicht genau weiß, habe ich heute Internet? Kann ich mich auf das WLAN verlassen und welche Hardware-Ausstattung habe ich zur Verfügung?" – das sei ein großer Nachteil. Die Schülerinnen und Schüler bekämen so nämlich auch vermittelt, Technik sei schwierig. Diese Frustration sollte vermieden werden, so Leimbach.

Ohne Glasfaserausbau keine digitale Schule

Frustration darüber, dass das WLAN fast gar nicht funktioniert, ist an diesem Montagnachmittag auch im Computerraum der Liebstädter Grundschule zu spüren. Eine viertel Stunde lang hat Heike Wilson versucht, auf den PCs die "Open Roberta"-Seiten zu laden, die die Kinder zum Programmieren brauchen. "Das dauert immer lange, aber so langsam war es noch nie", sagt sie. Oliver und Artur teilen sich letztlich einen Rechner, weil einer überhaupt nicht lädt.

Der beste Unterricht und das schönste Ganztagsprogramm bringen gar nichts, wenn es an einer stabilen Internetverbindung hapert. Die Schulleiterin geht davon aus, frühestens 2025 ans Glasfasernetz zu kommen. Möglicherweise auch erst 2026. "Keine idealen Bedingungen, wenn man auf das Internet angewiesen ist", so Heike Wilson. Aber sie ist froh, dass es in der Grundschule inzwischen überhaupt WLAN gibt – auch wenn es meist extrem langsam ist.

Dass es WLAN gibt, verdankt die Grundschule dem Digitalpakt Schule. 90.000 Euro sind nach Angaben der Schulleitung geflossen. Davon seien vier digitale Tafeln angeschafft worden und das WLAN.

Dass die Grundschulkinder in Liebstadt überhaupt ein verhältnismäßig modern eingerichtetes Computerkabinett haben, ist durchaus keine Selbstverständlichkeit an einer deutschen Grundschule. Seit 2016 können die Kinder hier lernen und ausprobieren. Ermöglicht wurde das vor allem durch Sponsoring von Firmen wie der von Heike Wilson.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | MDR AKTUELL | 19. Mai 2024 | 21:45 Uhr