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HandwerkWeihnachten auf der Walz: Erfurter Schneiderin auf Wanderschaft

22. Dezember 2023, 20:46 Uhr

Zimmerer oder Dachdecker auf Wanderschaft haben Tradition. Aber auch immer mehr Frauen stürzen sich in das Abenteuer des traditionellen "Work and Travel". Die 27-jährige Berit aus Erfurt ist als Frau und Schneiderin im Vergleich zu den meisten Handwerkern auf der Walz eine Exotin. Dieses Jahr ist es bereits das zweite Weihnachten, das sie auf Wanderschaft verbringt.

von Sarah Rose, MDR THÜRINGEN

Seit mehr als einem Jahr gehört für die 27-Jährige das Weihnachtsfest mit der Familie und dem festlichen Weihnachtsessen in der thüringischen Heimat der Vergangenheit an. Es ist bereits das zweite Fest, das sie auf Reisen verbringt. Dabei ist sie quer durch Deutschland unterwegs. Als Maßschneiderin sind ihre Arbeitsmöglichkeiten jedoch begrenzter als in anderen Handwerksberufen.

Arbeit hat sie aber immer gefunden, meist in den Kostümwerkstätten der Theater. Ihre letzte Station vor Weihnachten und mit sechs Wochen auch ihr bisher längster Aufenthalt war das "Hans Otto Theater" in Potsdam. Auch für die Kolleginnen dort war es eine Überraschung, als Berit plötzlich vor der Tür stand und nach Arbeit fragte. Doch die Kolleginnen in der Kostümwerkstatt konnten die Intendanz schnell überzeugen, die junge Reisende einzustellen.

Den Nachnamen abgelegt

Wenn sie um Arbeit oder einen Schlafplatz bittet, stellt sich Berit überall nur als "fremde, freireisende Maßschneiderin" vor. Dem Freiheitsgedanken als Wandergesellin folgend, hat sie zu Beginn ihrer Reise ihren Nachnamen abgelegt. Dass sie nach ihrer Ausbildung einmal auf Wanderschaft gehen würde, war für sie nicht schon immer klar. Auch sie wusste lange nicht, dass sie als Schneiderin auf die Walz gehen könnte. Erst ein Wandergeselle, den sie einen Tag vor der Lehrstellenzusage kennenlernte, brachte sie auf die Idee. Damals winkte sie noch lachend ab. Inzwischen ist sie seit über einem Jahr unterwegs.

Arbeitet derzeit in einem Theater in Potsdam: Berit aus Erfurt Bildrechte: MDR/Sarah Rose

Insgesamt geht eine Walz mindestens drei Jahre und einen Tag, einen Tag länger als die Ausbildung dauert, so will es die Tradition, das hat Berit versprochen. Auf die Frage, wem sie das versprochen hat, antwortet die 27-Jährige: "Mir selbst. Auf der Wanderschaft verspricht man sich viel vor allem selbst". Besonders wenn man, wie sie, als frei Wandergesellin unterwegs ist und keiner Organisation, den sogenannten Schächten angehört. Ein Grund dafür ist auch, dass es nicht viele Schächte gibt, die Frauen, insbesondere Schneiderinnen, aufnehmen würden. Vor allem aber sucht sich Berit die Gesellen, mit denen sie auf die Reise geht und viel Zeit verbringt, lieber selbst aus.

Ohne Handy und viel Schnickschnack

Die strengen Regeln, die auf der Walz eingehalten werden müssen, sind die gleichen, egal ob im Verbund oder als Freireisende. Den Freunden oder der Familie zu Weihnachten eine SMS schreiben oder über Social Media über die aktuelle Lage auf dem Laufenden zu halten, ist nicht möglich. Ein Handy darf nicht mitgenommen werden. Berit muss sich entweder ein Handy leihen oder eine E-Mail oder Postkarte schreiben, um den Kontakt nach Hause zu halten.

Ihrer Heimatstadt Erfurt darf sie während ihrer Reise nicht näher als 50 Kilometer kommen. Gelegentlich bekommt sie aber schon auch mal Besuch auf ihrer Reise. Das größte Hindernis ist wohl, dass sie während der gesamten Zeit weder für die Unterkunft noch für die Reise selbst Geld ausgeben kann. Sie trampt von Ort zu Ort. Als Frau erfordert das für Berit immer ein besonderes Maß an Respekt und Intuition. Sie steigt nicht immer zu jedem ein, der anhält und sie mitnehmen will. Schlechte Erfahrungen hat sie vielleicht auch dadurch noch nicht gemacht. Angst hat sie aber auch nicht. Sie wirkt in allem sehr offen und furchtlos. Für sie ist es auch nichts Besonderes, dass Frauen auch auf der Walz sind. Eher ist es etwas Besonderes für andere, die nicht so oft Handwerker und insbesondere Handwerkerinnen auf Wanderschaft sehen.

Schwierige Schlafplatzsuche

Die schlimmsten Tage sind, wenn es regnet und niemand anhält, wenn es spät ist und sie keinen Platz zum Schlafen findet. Was sie dann macht? "Weitergehen. Man läuft, bis man etwas findet." Bisher hat das immer geklappt, auch wenn es nur der Boden der Autowerkstatt war oder zu Weihnachten der Stall beim Bauern. In ihrem wenigen Gepäck hat sie immer einen Schlafsack und die typische Wanderkluft. Der schwarze Hut symbolisiert die Freiheit. Berits restliches Outfit besteht aus der typischen schwarzen Cordhose oder einem Rock, einer weißen Bluse und einer roten Weste. Das Rot steht dabei für ihren Beruf, denn als Schneiderin gehört sie zum Rotgewerk. Passend dazu trägt sie an ihrem linken Ohr zwei Ohrringe: ein Kleid und eine Schere. Die beiden Schmuckstücke hat sie letztes Weihnachten gestochen bekommen, beziehungsweise eher gehämmert. Mit Hammer und Nagel wurden ihr die Löcher ins Ohr geschlagen. Eine weitere Tradition, die seit Jahrzehnten gepflegt wird.

Das traditionelle Work and Travel

Man könnte sie auch als traditionelles Work and Travel bezeichnen. Die Walz hat immer noch ihre Traditionen und Symbole, aber sie hat sich in den letzten Jahren immer mehr geöffnet. Auch die Ziele werden internationaler. Es gibt Gesellen, die bis nach Neuseeland reisen. Für solche Reisen dürfen sie nur das Geld ausgeben, das sie auf der Wanderschaft verdient haben. Wie weit es die Thüringerin treiben wird und wie lange sie schlussendlich auf der Wanderschaft sein wird, hat Berit noch nicht geplant. "Ich weiss nicht, ob ich mit der Kluft jetzt nach Südostasien fahren würde. Die ist nämlich ganz schön warm", scherzt die 27-Jährige. Im Januar soll es dann mit einem anderen Wandergesellen erst einmal nach Italien gehen.

Weihnachten an der Ostsee

Doch jetzt wird erst einmal Weihnachten gefeiert. An dem Ort, der für sie bisher auf ihrer Wanderschaft am meisten in Erinnerung geblieben ist, an der Ostsee. Ob es am Meer lag oder an dem Kilo Muscheln, das sie damals gegessen hat, kann sie nicht genau sagen. Aber auf das Weihnachtsfest zurück am Meer freut sie sich. Sie werden keinen Weihnachtsbaum haben und es wird auch keine Weihnachtsgeschenke in dem Sinne geben. Das Materielle wäre schließlich nur zusätzlicher Ballast. Wünsche hat sie ohnehin keine. Für die Zukunft der Walz wünscht sie sich nur, dass die Tradition geschlechter- und berufsoffener wird.

MDR (dr)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Der Nachmittag | 16. Dezember 2023 | 14:15 Uhr

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