VollsperrungZwei Jahre ohne B4: Nordhausens größte Verkehrsader steht still
Nordhausens größte Verkehrsader steht still. Seit dem 11. September wird die Bundesstraße 4 gebaut. Mit der Vollsperrung erleben die Nordhäuser den nächsten Baustellen-Albtraum der Region. Doch wieder einmal organisieren sich die Menschen selbst.
- Unternehmen bangen wegen der Sperrung um ihre Existenz
- Auf der Umleitung kommt es immer wieder zu Schäden durch Lkw
- Mit der "Initiative B4" wollen Bürgerinnen und Bürger auf ihre Interessen aufmerksam machen
Die Woche vor dem 11. September war für viele Nordhäuser ein Schock. Aus den Medien erfuhren sie, dass die B4 ab kommendem Montag gesperrt sein wird - für mindestens zwei Jahre. Auch Ann-Kathrin Rübesamen aus Niedersachswerfen erfuhr davon aus der Presse. "Da stand: Ab Montag geht es los, das und das sind die Umleitungen. Es gab keine Einwohnerversammlung, keine Briefe, nichts", sagt sie MDR THÜRINGEN.
Sie ist Mutter von zwei Kinder, pendelt normalerweise über die B4 nach Nordhausen zur Arbeit. Die Kinder gehen nördlich von Nordhausen, in Niedersachswerfen und Ilfeld, jeweils in Kita und Schule. 100 Kilometer mehr fährt sie in der Woche, schätzt sie. Die Umleitung führt 20 Kilometer über hügelige Straßen und enge Dörfer. Pünktlich auf Arbeit zu sein, für sie derzeit undenkbar.
Kaum war die Geschwister-Scholl-Straße in Niedersachswerfen wieder frei, ist die B4 gesperrt. Um es mit einem Wort zu sagen: Katastrophe.
Sabine Seibold-Freund | Anwohnerin
So ergeht es auch Sabine Seibold-Freund. Sie ist Professorin an der Hochschule Nordhausen und wohnt in Neustadt am Harz. Wie die meisten Menschen nördlich von Nordhausen musste sie bis vor kurzem eine monatelange Baustelle mit einer langwierigen Umleitung ertragen. "Kaum war die Geschwister-Scholl-Straße in Niedersachswerfen wieder frei, ist die B4 gesperrt. Um es mit einem Wort zu sagen: Katastrophe".
Unternehmen bangen um Existenz
Die B4 ist die Hauptschlagader des Landkreises Nordhausen. Von Nord nach Süd verläuft sie einmal komplett durch die Stadt. Pendler fahren hier zur Arbeit, Lkw transportieren überregional Waren und Kolonnen von Motorradfahrern ziehen über sie in den Harz. Feuerwehr und Rettungskräfte sind auf die B4 genauso angewiesen wie Schulbusse und Elterntaxis.
An einem typischen Wochenende, wenn es voll ist, haben wir hier 250 bis 300 Menschen. Aktuell sind es 50 bis 60 Leute.
Thomas Grübel | Happylino-Betreiber
Existenzbedrohend wird die Baustelle für Geschäftsleute. Supermärkte, Autohäuser, Gastronomen, ein Baumarkt oder Einzelhändler leben von der B4. Auch Nordhausens einziger In- und Outdoorspielplatz liegt direkt an der Straße. Doch im "Happylino" ist derzeit wenig Kinderlachen zu hören.
"An einem typischen Wochenende, wenn es voll ist, haben wir hier 250 bis 300 Menschen. Aktuell sind es 50 bis 60 Leute", sagt Thomas Grübel. Zusammen mit seiner Schwester Steffi Grübel betreibt er das Happylino. Falls die Politik keine Lösung für die B4 finde, werden sie die zwei Jahre Vollsperrung wirtschaftlich nicht überleben. In einer Online-Petition schildern Gewerbetreibende bereits Umsatzeinbußen von 90 Prozent.
Auch die Dörfer ächzen unter dem umgeleiteten Verkehr. Nordöstlich und nordwestlich von Nordhausen quetschen sich Autofahrer und Laster durch die Südharzer Örtchen. Eine Region, die bereits baustellengeschädigt ist. An der "Ibergbaustelle" rasteten die Menschen 2022 regelrecht aus. Die Behörden hatten den Anwohnern eine 30-Kilometer-Umleitung auferlegt, anstelle der üblichen 5 Kilometer. Vandalismus und Angriffe auf Sicherheitsleute waren die Folge.
Der Zoff schaffte es in die MDR-Sendung "Kripo-live". Der ehrenamtliche Bürgermeister des Ortes Stempeda erhielt eine Anzeige, weil er Schleichwege fuhr. Aus Frust über die Kreis- und Stadtpolitik Nordhausens kündigte er kürzlich seinen Rücktritt an. Ausgerechnet durch diese Region schiebt sich nun der umgeleitete B4-Verkehr.
Laster rammt Jugendclub
Die Folgen spürt Jens Karnstedt bereits. Er ist Ortsteilbürgermeister von Petersdorf, einem Ortsteil nordöstlich von Nordhausen. Sein Dorf war bisher Lkw-freie Zone. Die Straßen galten als zu schmal für Laster. Doch als Petersdorf vor kurzem zur B4-Umleitung wurde, änderte sich das: "Plötzlich wurde in Petersdorf der Lkw-Verkehr erlaubt. Auch Schwerlasttransporte führen plötzlich hier durch. Das ist einfach nicht haltbar", sagt er.
Ein Laster rammte vor kurzem das Dach des Petersdorfer Jugendclubs. In einer engen Kurve musste der Lkw einem anderen Laster ausweichen, fuhr mit dem Rad auf den Gehweg und fegte einige Dachziegel weg. Die Stadt stellte nach dem Vorfall zwei Warnbaken auf. Bürgermeister Karnstedt wird laut: "Hier ist die Schule, hier könnten Kinder lang gehen. Das interessiert keinen!".
Keine Hoffnung auf Lösungen?
Das Rathaus und das Landratsamt Nordhausens machen den Betroffenen keine Hoffnung. Landrat Matthias Jendricke (SPD) lässt schriftlich mitteilen: "Der Landkreis hat keine Möglichkeit, Lösungen anzubieten. Das Land [Thüringen] kann in dem Fall selbst festlegen." Oberbürgermeister Kai Buchmann (pl) wollte sich nicht zur B4 äußern. In einem FAQ des Rathauses zur B4 heißt es: Es handelt sich um eine "Baumaßnahme des Thüringer Landesamts für Bau und Verkehr". Der Nordhäuser Finger zeigt also nach Erfurt.
Ich bin sauer, weil die Kommunikation fehlt. Die Stadt weiß seit über einem Jahr von der B4-Baustelle.
Matthias Mitteldorf | Linke-Stadtrat Nordhausen
Kommunalpolitiker Matthias Mitteldorf* will diese Ausrede nicht gelten lassen. Er sitzt seit 30 Jahren für die Linke im Nordhäuser Stadtrat. Er hatte bereits im September Anfragen zur B4-Baustelle und ihren Folgen gestellt. "Ich bin sauer, weil die Kommunikation fehlt. Die Stadt weiß seit über einem Jahr von der B4-Baustelle. Natürlich ist das Land Thüringen, stellvertretend für den Bund, Bauherr der Bundesstraße. Aber die Verkehrsplanung haben ja Landkreis und Stadt gemeinsam zu verantworten. Man muss hier einfach mehr miteinander reden".
Auch die Nordhäuser Bahninfrastruktur sei für die B4-Sperrung nicht ausgelegt. Besonders für Eltern mit Schulkindern ein Problem, kritisiert Mitteldorf. "Die Deutsche Bahn fährt hier mit nur einem Doppelwagen lang. Die Straßenbahnlinie 10 hoch nach Niedersachswerfen hat eine Kapazität von vielleicht 80 Leuten. Wie sollen hunderte Schüler und Pendler zu Stoßzeiten in die Stadt kommen? Um den Menschen zu helfen, braucht es eine Lösung auf der Straße", so Mitteldorf.
* TransparenzhinweisMatthias Mitteldorf hat von Beginn an transparent gemacht, dass er mit der Landtagsabgeordneten Katja Mitteldorf verheiratet ist. Die Linken-Politikerin sitzt im MDR-Rundfunkrat.
"Geht nicht - gibt's nicht"
Unterdessen nimmt die Nordhäuser Zivilgesellschaft erneut an Fahrt auf. Bereits zur Oberbürgermeisterwahl machte das Bündnis "Nordhausen zusammen" von sich reden. Vor der Stichwahl warb das Netzwerk für Amtsinhaber Buchmann. Mit Erfolg, die AfD verlor deutlich im zweiten Wahlgang. Von dieser Erfahrung inspiriert, nimmt eine Bürgerinitiative nun die B4-Vollsperrung ins Visier. Sie nennt sich "Initiative B4". Das Motto: "Geht nicht - gibt's nicht".
"Wir mussten einfach etwas tun, den Bürgerinnen und Bürgern Gehör verschaffen und die Dimensionen dieser Baustelle der Öffentlichkeit klar machen", sagt Sprecherin Christiane Oeftiger.
Der erste Schritt war die Vernetzung. Mit Unternehmen, Seniorenheimen, Krankenhäusern und Schulen sei man bereits in Kontakt. Eine Social-Media-Kampagne auf Facebook und Instagram soll den Betroffenen ein Gesicht geben. User können ein Foto von sich machen und ihre Leidensgeschichte an die Bürgerinitiative schicken. Die vielen Einzelschicksale sollen öffentlichen Druck erzeugen.
Auch mit Politikern, der Stadtverwaltung, dem Landkreis und dem Thüringer Infrastrukturministerium will "Initiative B4" in Kontakt treten. "Die AfD hatte die B4-Baustelle im Wahlkampf thematisiert. Wir distanzieren uns klar davon, weil wir das für Populismus halten. Wir wollen nicht gegen jemanden sein, sondern mit allen Akteuren in einen Dialog treten. Um zu schauen, wo wir noch Lösungen oder Verbesserungen finden können", so Oeftiger.
Offiziell laufen die Bauarbeiten an der B4 bis zum 22. Dezember. Wie lange die winterbedingte Verschnaufpause dauern wird, ist derzeit unklar.
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MDR (aku/cfr)
Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 19. Oktober 2023 | 18:00 Uhr
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