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Das Wohngebiet Lobeda. Bildrechte: IMAGO / Bild13

SegregationVorurteil Platte: Was Jena-Lobeda für mehr Attraktivität tut

04. April 2024, 17:58 Uhr

Immer noch leben in Jena Menschen mit unterschiedlichen Einkommen stark voneinander getrennt. In die Plattenbauten von Lobeda zieht es vor allem weniger Wohlhabende. Was kann der Ortsteil für mehr Durchmischung tun? Und wie nehmen ihn seine Bewohner wahr?

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"In Lobeda wohnt der Millionär mit dem Sozialhilfeempfänger, mit dem Politiker noch Tür an Tür." Ein guter Werbespruch ist das, ohne Frage. Und letztlich ist das auch ein Stück weit sein Job: Seit über 50 Jahren wohnt Volker Blumentritt schon in Lobeda - er kennt jeden Wohnblock, jede Ladenzeile und gefühlt auch jeden der 25.000 Einwohner, für die er Ortsteilbürgermeister ist.

Volker Blumentritt, Ortsteilbürgermeister von Lobeda Bildrechte: MDR/David Straub

Während des Interviews bei einem Spaziergang durch den Stadtteil grüßt er ständig irgendwen. Seit 25 Jahren kämpft der 77-Jährige für die Interessen des Stadtteils, der "Platte", im Süden Jenas. Wobei man Platte gar nicht so laut sagen darf, zu sehr mit Vorurteilen beladen. "Das Wort Platte hat man sich schon ein bisschen abgewöhnt, weil ich dann immer sehr schimpfe."

Es gibt eine gewisse Abfälligkeit, manchmal, ja.

Volker Blumentritt | Ortsteilbürgermeister Lobeda

Früher, nach der Wiedervereinigung, habe es in der Stadtmitte niemanden interessiert, was in Lobeda los ist. Dort, wo in den 1970er Jahren zehntausende Arbeiter von Zeiss und Co. in frisch erbauten Wohnungen untergekommen waren. "Das war da draußen - da will ich nicht hin, wurde gesagt. Dieses Image mussten wir wegreden", sagt Blumentritt. Und heute?

"Es gibt eine gewisse Abfälligkeit, manchmal, ja", meint er. "Aber ich will das gar nicht so hoch anhängen, weil ich sage immer: Leute, kommt zu mir, dann machen wir einen Rundgang und wenn du dann noch immer so denkst, dann bist du im falschen Film."

Lobeda-Altstadt, Neulobeda oder Lobeda-West - wie heißt es nun?Um Missverständnisse vorzubeugen: In diesem Text ist aus Gründen der Einfachheit die Rede von Lobeda. Damit ist vor allem das sogenannte Neulobeda gemeint, also die beiden Gebiete Lobeda-West (neben dem A4-Autobahntunnel), und das Wohngebiet Lobeda-Ost, mit seinen eher flacheren, oft fünfstöckigen Plattenbauten.
Lobeda-Altstadt hingegen liegt weiter nördlich, in Richtung Innenstadt und hat mit der zu Großwohnsiedlung nichts zu tun. Es handelt sich um einen eigenen Ortsteil.

Datenrecherche: Kluft in ostdeutschen Städten nimmt zu

Auf dem Papier sieht es für Lobeda allerdings nicht ganz so rosig aus. Der Soziologe Marcel Helbig, der selbst in Thüringen lebt, hat in einer großen Studie für 153 deutsche Städte mit mehr als 60.000 Einwohnerinnen und Einwohnern herausgearbeitet, wie sich Armut und Wohlstand verteilen.

Der Soziologe Marcel Helbig forscht zur Verteilung von Armut in deutschen Städten. Bildrechte: LlfBi

Fast überall in Ostdeutschland ist die Armutsquote in den vergangenen Jahren gesunken, immer weniger Menschen sind auf Bürgergeld angewiesen. Die Segregation hingegen ist gestiegen. Das bedeutet: Der positive Trend ist nicht überall angekommen, die Kluft zwischen den Stadtteilen nimmt zu. Insbesondere ballt sich in Ostdeutschland die Armut in Großwohnsiedelungen.

Mit Blick auf Jena bedeutet das: Im Norden und vor allem im Süden der Stadt, in Lobeda, leben mehr "ärmere" Menschen. Sprich Menschen, die Grundsicherung beziehen. Andersherum zeigt sich, dass insbesondere im Stadtzentrum der Anteil derer besonders hoch ist, die Bruttomonatseinkommen von mehr als 4.800 Euro zur Verfügung haben. Im bundesweiten Ranking liegt Jena auf Platz 32 von 153 im sogenannten Segregationsindex.

zum Aufklappen: Was ist Segregation?

Segregation beschreibt, wie soziale Ungleichheit in einer Stadt abgebildet ist. Das Deutsche Institut für Urbanistik beschreibt das so:

"Alle Bewohner einer Stadt kennen das Phänomen, dass sich soziale Gruppen unterschiedlich auf Wohnstandorte verteilen. Die Qualität des Wohnstandortes korrespondiert häufig mit dem sozialen Status der Gruppe: So gibt es so genannte Studentenviertel, Armutsviertel, Stadtteile, in denen überwiegend Migranten, ältere Menschen oder Familien leben. Segregation beschreibt also die räumliche Absonderung einer Bevölkerungsgruppe nach Merkmalen wie sozialer Schicht, ethnisch-kulturellem Hintergrund oder Lebensstil. Dies ist Realität und Normalität in vielen Großstädten."

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Studie: Armut gering - Schere trotzdem groß

Marcel Helbig beobachtet, dass in Jena wie in Erfurt, Halle oder auch Rostock die Segregation, also die Ungleichverteilung zwischen 2005 und 2021 stark angestiegen ist. Auffällig ist zwar, dass Jena auf einem ganz anderen Niveau ist: Generell beziehen in Jena laut Bundesarbeitsagentur nur knapp sieben Prozent der Menschen Bürgergeld. Etwas mehr als in München. Erfurt und Weimar liegen bei gut neun Prozent - Gera bei 14. Und die Armutsquote konkret in Lobeda, so Helbig, sei deutlich niedriger als in anderen sozial benachteiligteren Vierteln wie Erfurt-Rieth oder Weimar-West.

An dem grundsätzlichen Verhältnis, der Schere zwischen "reicher" und "ärmer" ändere das in Jena aber nichts. Es bleibe bei dem ostdeutschen Muster: Platte versus Rest.

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Stadt und Wohnungsgesellschaft relativieren Studie

Kritisch zur Studie äußert sich die Jenaer Stadtverwaltung und betont, dass Lobeda und das benachbarte Winzerla ein "Schwergewicht" der Stadtentwicklungs- und Sozialpolitik Jenas darstellten. Lobeda sei kein "Randgebiet" der Stadt, wie es die Studie formuliere und in Umfragen hätte sich "eine deutlich überwiegende Mehrheit als (sehr) zufrieden" geäußert. Eine deskriptive Studie könne die Lebenswirklichkeit vor Ort nicht erfassen.

Wir können günstigen Wohnraum für Mietinteressenten aus allen Einkommensschichten anbieten.

Jenawohnen

Und auch Jenawohnen sieht das Studienergebnis mit Skepsis. Das Unternehmen ist die größte Wohnungsgesellschaft der Stadt und vermietet insgesamt über 14.000 Einheiten. In Lobeda allein sind es rund 6.600. Bei 99 Prozent, so schreibt Jena Wohnen auf Anfrage, läge die Miete im Rahmen einer Sozialwohnung.

"Das heißt in der Praxis, wir können günstigen Wohnraum für Mietinteressenten aus allen Einkommensschichten anbieten. Somit wohnen in unseren Gebäuden Menschen aller Einkommensklassen gemeinsam unter einem Dach. Dies trägt maßgeblich zu einer sozialen Mischung bei."

In Lobeda wohnten viele Menschen, "die schon deswegen weniger Geld haben, weil sie in Ausbildung und Studium sind. Arm im herkömmlichen Sinne sind sie deswegen nicht." Um die Durchmischung in Jena generell zu fördern, versucht das Unternehmen unter anderem, vorhandene Wohnungen so zu sanieren, dass die Gegend an Attraktivität gewinnt. "Da wir das unter anderem mit Fördermitteln des Freistaates Thüringen machen können, bleibt die Miete bei den geförderten Wohnbauvorhaben weiterhin günstig."

Was der Stadtteil machen kann?

Die Durchschnittsmiete, so Volker Blumentritt, liege in seinem Stadtteil bei 5,60 Euro. Was er als Ortseilbürgermeister machen könne, um die Segregation aufzubrechen? Damit mehr Menschen, die es sich leisten könnten, auch nach Lobeda ziehen?

"Ist das überhaupt unser Wunsch?", fragt Blumentritt zurück. "Wir haben ja in Lobeda noch nicht einmal Leerstand. Wir haben nur 0,4 Prozent Leerstand." Viel anfangen mit der rechnerischen Ungleichheit auf dem Papier kann der Ortsteilbürgermeister offenbar nicht. Er konzentriert sich auf das, was er selbst machen kann, um das Leben vor Ort angenehm zu gestalten. Aber was ist das genau?

Wir müssen das Leben der Menschen hier wohnortnah so gestalten, dass sie sich fast alle Bedürfnisse hier auch wohnortnah erfüllen können.

Volker Blumentritt

Volker Blumentritt auf dem Weg durch Lobeda. Bildrechte: MDR/David Straub

Marcel Helbig spricht in seiner Studie von mehreren Faktoren, die Städte gegen Segregation angehen können: Den sozialen Wohnungsbau fördern oder Leistungsempfängern Wohnungen in teureren Wohngegenden finanzieren. Beides nicht immer einfach umzusetzen. Viel praktischer könnte schon sein, die Gegend attraktiver zu gestalten. Für Volker Blumentritt heißt das:

"Wir müssen den Menschen was bieten. Wir haben eine moderne Schullandschaft, alle Schulformen. Wir haben zehn Kitas mit über 1.000 Kindern." Und natürlich spiele auch die Ansiedelung des Uni-Klinikums eine wichtige Rolle, durch die nicht nur viel Personal nach Lobeda gezogen sei, sondern auch andere Unternehmen.

Dazu kämen Supermärkte, eine neue E-Ladelandschaft für Autos, das neue Schwimmbad, mehr Einzelhandel oder Angebote für Senioren. "Ich meine, wir müssen das Leben der Menschen hier wohnortnah so gestalten, dass sie sich fast alle Bedürfnisse hier auch wohnortnah erfüllen können."

Das sagen langjährige Bewohner Lobedas

Noch ein Besuch bei Dorit Giertzuch. Sie lebt in Lobeda-Ost in einem fünfstöckigen Wohnhaus entlang der großen Erlanger Allee. Zum Interview hat sie auch noch ihre Nachbarn eingeladen. Man kennt sich seit Jahrzehnten und ist sich einig: "Der Begriff Plattenbau wertet alles ab. Den Begriff gab es damals nicht", sagt Nachbarin Uta Koch. "Nach der Wende wurden damit unsere Neubaugebiete schlechtgemacht."

Den Stempel habe Lobeda auch heute teilweise noch. Dorit Giertzuch erzählt von den hohen, elfgeschossigen Bauten, wo in vielen Wohnungen mit Wohnberechtigungsschein eher Menschen mit niedrigeren Einkommen untergebracht würden. Genau das würde dann zu Verallgemeinerungen führen.

Nach der DDR wollte alles weg, was Geld hatte.

Sabine Schuldes

Sie seien damals sehr froh gewesen, die Wohnungen zu bekommen, erzählt Giertzuch. "Es waren die besten Wohnungen. Und nach der Wende konnte ja nicht jeder gleich weg, es war eine unsichere Zeit."

Nach der DDR, so erzählt es auch Sabine Schuldes, "wollte alles weg, was Geld hatte. Hauptsache weg und da war Lobeda ja fast tot." Dennoch, mischt sich Uwe Heerling ein, seien auch viele geblieben, wegen der Infrastruktur. "Man kann gut einkaufen, man hat medizinische Betreuung in der Nähe, man hat Schulen, Kindergärten, Clubs für ältere Menschen - also es lohnt sich hier zu wohnen."

Und können sie verstehen, dass gerade junge Leute vielleicht keine Lust haben, in der Platte zu wohnen? "Junge Leute… okay", sagt Dorit Giertzuch, "aber sie müssen es sich leisten können woanders." Sie kenne einige, nicht nur Junge, die sich die Mieten in der Innenstadt eben nicht leisten könnten, "aber die wollen nicht nach Lobeda ziehen. Verstehen kann ich es nicht. Jena hat ja eine wunderschöne Natur: Man geht aus dem Haus und ist sofort im Grünen, das hat man ja nicht überall."

Blumentritt will es noch einmal wissen

25.000 Menschen leben in Lobeda, erzählt Ortsteilbürgermeister Volker Blumentritt - nicht ohne Stolz: Andere Städte hätten bei so vielen Einwohnern einen Oberbürgermeister. In seinem Büro - seiner "Machtzentrale", wie er augenzwinkernd sagt - hängt das Planungsposter für ein neues Wohngebiet in Lobeda-West.

Wohnungen vor allem für junge Familien - "die wollen doch was Modernes, mit Terrassen, mit Park dran und so weiter." Seit Jahren hängt das Vorhaben jedoch fest. Scheiterte bisher an Bürgerbeschwerden wegen drei Bäumen, die dafür gefällt werden müssten.

Volker Blumentritt in seiner "Machtzentrale" Bildrechte: MDR/David Straub

Es ist eins von mehreren Projekten, die Blumentritt weiter auf dem Zettel hat. Wegen der er auch noch nicht aufhören will: Ende Mai will er es noch einmal wissen, und ein letztes Mal als Ortsteilbürgermeister und Stadtrat zu den Kommunalwahlen antreten.

Mitarbeit: Felix Fahnert, Fabian Frenzel, Daniel Salpius und David Wünschel von MDR-Data. Das Rechercheteam hat mit seiner ausführlichen Analyse zur Segregation in Ostdeutschen Städten die Grundlage für diese Reportage geliefert.

Die Grafiken stammen von David Wünschel.

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MDR (dst)

Dieses Thema im Programm:MDR THÜRINGEN | MDR Aktuell | 04. April 2024 | 21:45 Uhr

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