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Andrij Melnyk war von 2015 bis 2022 Botschafter der Ukraine in Deutschland. Bildrechte: picture alliance/dpa/Deutsche Presse-Agentur GmbH | Michael Kappeler

Interview mit Andrij MelnykEhemaliger ukrainischer Botschafter begrüßt Macrons Forderung nach Bodentruppen

01. März 2024, 17:59 Uhr

Der ukrainische Diplomat und Ex-Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk wünscht sich im Interview mit MDR AKTUELL, dass die Unterstützer der Ukraine die Militärhilfen ausweiten und auch über die Entsendung von Soldaten nachdenken. Zwar lobt er Deutschland für die Antriebskraft in puncto Militärhilfen, kritisiert aber auch, dass Lieferungen für das von Russland angegriffene Land nicht schnell genug bereitgestellt würden.

MDR AKTUELL: Wie stehen Sie zur Aussage des französischen Staatspräsidenten Macron, die Entsendung westlicher Soldaten in die Ukraine nicht auszuschließen?

Andrij Melnyk: Wir müssen uns vor Augen führen, dass der von Putin entfesselte, genozidale Vernichtungskrieg gegen die Ukraine der größte und der brutalste Krieg in Europa nach 1945 ist. Um dieser Barbarei Russlands ein baldiges Ende zu setzen, darf es nach meiner Überzeugung keine Scheuklappen geben. Es darf es keine Denkverbote geben.

Klar, der Vorstoß Macrons klingt für einige mutig und erfrischend, für andere eher wie eine Zumutung. Ich persönlich stimme dem Grundprinzip zu, dass unsere Partner in Zukunft nichts ausschließen dürfen, um diesen imperialistischen Drang Moskaus nach Westen rechtzeitig im Keim zu ersticken. Jeder Verbündete darf selbst entscheiden, wie weit er bei militärischer Unterstützung der Ukraine in unserem Existenzkampf gehen wird – notfalls auch mit Bodentruppen. Außerdem wird das Warnsignal aus Paris eine abschreckende Wirkung auf Wladimir Putin entfalten und ihm klarmachen, dass die Ukraine nie im Stich gelassen wird. Auch wenn sich die Kreml-Propagandisten ihre Hände reiben.

In Deutschland wird dies fast durchgehend aus der Politik abgelehnt. Nachvollziehbar für Sie?

Natürlich kann ich die Sorgen unserer deutschen Freunde sehr gut nachvollziehen und dass die Bundesrepublik nicht zur Kriegspartei werden möchte. Kein Wunder, dass erste Reaktionen aus Berlin fast reflexartig äußerst negativ ausfielen: Auf keinen Fall Moskau provozieren und auf keinen Fall in den Krieg hineingezogen zu werden. Diese Denkmuster sind grottenfalsch. Denn Putin alleine bestimmt, ob und wann er Deutschland oder ein anderes Land in Europa als Kriegsteilnehmer definiert. Dafür braucht der Kremlchef gar keinen Vorwand.

Natürlich ist es eine souveräne Entscheidung, keine deutschen Soldaten in die Ukraine zu entsenden, sollte sich dieser Denkanstoß demnächst tatsächlich materialisieren. Die Ukraine wird diesen Beschluss respektierten. Allerdings wäre es nicht fair, wenn Berlin durch ein Vetorecht, andere Partner daran hindern würde, im Alleingang vorzugehen oder auch eine Koalition der Willigen zu etablieren.

Sie hatten es im Tagesspiegel als klug bezeichnet, "wenn unsere Verbündeten diskret in Moskau ausloten könnten, ob echte Kompromissbereitschaft besteht". Sprechen Sie da auch für Ihre Regierung? Gibt es dort den Wunsch nach Sondierung?

Es ist ein rein persönliches Gefühl eines Diplomaten mit 30-jähriger Erfahrung.

An welche Verbündeten richten Sie diesen Aufruf?

Diesen Appell würde ich an alle unseren Verbündeten und Partner richten, die imstande und bereit wären, einen solchen unangenehmen Knochenjob zu erledigen. Im Moment sehe ich keine Freiwilligen, die diese undankbare Aufgabe übernehmen würden. Auch nicht im globalen Süden. Als ich am 25. Februar 2022, also am zweiten Kriegstag nach dem russischen Überfall im Kanzleramt vorstellig wurde und die Frage stellte, was Deutschland als unser Haupt-Vermittler im Normandie-Format vorhatte, um diplomatisch zu intervenieren und auf Putin Einfluss zu nehmen, war die Antwort sehr knapp: Nichts, weil es keinen Sinn mache. Ich war wie vom Blitz getroffen. Man hat Diplomatie angeblich begraben.

Welche Rolle sehen Sie für Deutschland bei der Unterstützung der Ukraine?

Ich würde sagen, eine Schlüsselrolle ohne Übertreibung. Ich bin glücklich, dass ich dazu einen bescheidenen Beitrag leisten durfte, dass die Bundesrepublik einen spektakulären Weg vom ewigen Zögerer bis zum leidenschaftlichen Antreiber Europas in puncto Militärhilfe für die Ukraine zurücklegte und auch über den eigenen langen Schatten sprang. Das war echt megacool.

Nur, was sich jetzt mit Überstürzung beobachte, ist, dass der Bundeskanzler sich gerade im Eigenlob überschlägt und andere mit geradezu geschwellter Brust brandmarkt. Statt sich mit einem Glorienschein zu versehen und gebetsmühlenartig zu beweihräuchern, wäre es zielführender, aus meiner persönlichen Sicht, dass Deutschland mit einem guten Beispiel vorangeht und sowohl qualitativ als auch quantitativ neue Maßstäbe bei künftigen Waffenlieferungen setzt, denn es geht um Schnelligkeit. Und es geht auch um strategische Weichenstellung. Die skandalöse Absage, Taurus-Flugkörper nicht freizugeben, gerade jetzt in diesen dramatischen Wochen für unsere Armee, ist ein Beleg mangelhafter Führungsrolle.

Dasselbe gilt auch meiner Meinung nach für die Weigerung, der Ukraine deutsche Kampfjets zu liefern, um die russische Flug-Überlegenheit zu brechen. Ich frage mich, warum man uns nur 18 Leopard-2-Panzer schickte, obwohl die Bundeswehr immer noch über 300 solcher Waffen verfügt, die sofort lieferbar und direkt nachbestellt werden könnten.

Beim Thema Munition: Man hat zwei Jahre lang fast nur herumgeredet, anstatt Fabriken zu bauen, anstatt Bestellungen für die Rüstungsindustrie aufzugeben. Heute sehen wir, dass so viel Zeit vergeudet wurde und die ukrainische Armee unter einem sehr starken Druck an der Front stehen muss.

Dieses Thema im Programm:MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 26. Februar 2024 | 18:17 Uhr