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Besonders der ländliche Raum leidet unter Abwanderung Bildrechte: IMAGO / F. Anthea Schaap

Themenwoche: Stadt.Land.Wandel | Die DNA des Ostens | MDRfragtOstdeutsche Dörfer: Sollten wir sie sterben lassen?

15. November 2022, 14:48 Uhr

Vor allem in Ostdeutschland gibt es immer mehr "Geisterdörfer": Orte ohne Infrastruktur und kaum noch bewohnt. Einige Ökonomen schlagen vor, diese Flecken aufzugeben. Sie zu erhalten sei zu teuer. Aber die Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses Vorschlags mehren sich.

von Martin Hoffmann, Redaktion OstDok

Die Prognose für den ländlichen Raum ist dramatisch: In den letzten Jahrzehnten bereits stark vom Bevölkerungsschwund betroffene Regionen werden bis zum Jahr 2040 weiterhin besonders viele Menschen verlieren. "Ungünstig betroffen" seien vor allem die Regionen Bitterfeld-Wittenberg, die Altmark, Oberlausitz-Niederschlesien und Südsachsen. Das ergibt die aktuelle Raumordnungsprognose des Bundesinstitutes für Bau- Stadt- und Raumforschung. Die Autoren resümieren, dass "sich vor allem in den ostdeutschen Regionen Sterbeüberschüsse und niedrige Wanderungsgewinne paaren." Während sich die sogenannten Speckgürtel rund um die Großstädte weiter über Zuzug freuen, gibt es für entlegenere Gemeinden zwischen Anklam und Annaberg-Buchholz wenig hoffnungsvolle Zukunftsprognosen.

Arbeitsplätze auf dem Land nicht mehr subventionieren

Angesichts dieser Perspektive war im Osten der Skandal programmiert, als ein Team um den Hallenser Ökonomen Reint Gropp 2019 der Politik in einer Studie nahelegte, Arbeitsplätze auf dem Land künftig nicht mehr zu subventionieren. Das Geld sei in der Stärkung der ostdeutschen Ballungsräume besser angelegt, dort entstünden die zukunftsträchtigeren Jobs. Der Ökonom empfahl zusätzlich, den Ausbau der Infrastruktur auf dem Land zu hinterfragen: Die Gelder für 5G-Netze seien in der Stadt besser investiert. Die Reaktionen aus der ostdeutschen Landespolitik erfolgten umgehend. Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke nannte die Aussagen "groben Unsinn" und "Verrat an unseren ländlichen Räumen", Bodo Ramelow interpretierte sie als "Wasser auf die Mühlen der AfD".

Reint Gropp aber hält nach wie vor an seiner Diagnose fest. In der aktuellen MDR-Dokumentation "Sind unsere Dörfer noch zu retten?" sagt der Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle: "Wir sollten unser Geld verwenden, um eine bestmögliche Infrastruktur für möglichst viele Menschen bereitzustellen, statt uns auf einige wenige Dörfer zu konzentrieren, wo wir sehr viel Geld in den Sand setzen können." Erörtert man die Frage allein nach Kosten-Nutzen-Kriterien, scheint eine solche Kalkulation zunächst schlüssig. Denn die Infrastruktur im ländlichen Raum zu erhalten ist um ein Vielfaches teurer als in der Stadt. Eine Wasserleitung kostet beispielsweise auf dem Land zehnmal mehr als in der Stadt, berechnet man die Ausgaben pro Kopf. Aber so einfach ist die Rechnung nicht. Dazu kommt: Eine Machbarkeitsstudie der Bundesregierung spricht dagegen, dass sich die gezielte Aufgabe ganzer Siedlungen wirklich auszahlen könnte.

Die Aufgabe ganzer Ortsteile ist unwirtschaftlich

Im Gegenteil: Die Aufgabe ganzer Ortsteile könnte sich für die Gemeinden als unwirtschaftlich erweisen. Denn ein "gezielter strategischer Rückzug aus "kleinen peripheren Ortsteilen" mit hohem Leerstand und negativer Zukunftsperspektive" würde zunächst hohe Kosten verursachen. Das ergibt eine 2020 vom Bundesinnenministerium (BMI) veröffentlichte Analyse. Denn bei der geplanten Aufgabe eines Ortsteils müssten die Kommunen Grundstücke und Häuser aufkaufen und zudem die vor Ort verbliebenen Menschen beim erzwungenen Umzug und Neustart finanziell unterstützen. In dem Planspiel wurde die Aufgabe eines Ortsteils für die Gemeinde bereits teurer als dessen Erhalt, wenn mehr als 13 Haushalte auf 18 Gebäuden verteilt lebten. Das kommunale Einsparpotential ist auch deshalb begrenzt, weil längst nicht alle Infrastrukturen durch Steuern finanziert werden. Der Bau von Wasserleitungen beispielsweise wird in der Regel aus den Wassergebühren der Bewohner oder durch diese direkt finanziert. Sie tragen damit auch die Kosten ihrer Versorgung, während die gezielte Aufgabe eines Ortsteils vor allem durch die Kommune finanziert werden müsste. Ob letztlich Steuermittel gespart werden könnten, steht also in Frage.

Außerdem weisen die Autoren der Studie – in etwas formeller Sprache – darauf hin, dass eine forcierte Aufgabe von Ortsteilen zu einer "emotionalen Debatte" und "Unruhe im Gemeindeleben" führen würden. Sie empfehlen den betroffenen Kommunen eine ergebnisoffene Prüfung. Sollten sich Kommunen aber für den gezielten Rückzug entscheiden, bräuchten sie neben dem Argument der Einsparungen "weitere, möglichst positiv besetzte Argumente für die Vorzüge und Sinnhaftigkeit eines aktiven Rückzugs."

Aufgeben von Dörfern ist keine Option für die Mitteldeutschen

Eine aktuelle Erhebung von MDRfragt stützt diese Einschätzung. 89 Prozent der Befragten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen lehnte Ende Oktober 2021 die Aussage ab, dass ländliche Regionen aufgegeben werden sollten, weil es zu teuer ist, dort die Infrastruktur aufrecht zu erhalten. Dörfer und Kleinstädte gezielt abzuschreiben, ist für die allermeisten Menschen im Osten somit keine Option. Einiges spricht dafür, dass sie damit auch nicht rechnen müssen. Denn selbst wenn in manchem Rathaus der Entschluss zum geplanten Aufgabe ganzer Siedlungen getroffen würde, könnten sich viele Kommunen das kaum leisten.

Ganzes Dorf stand bei ebay zum Verkauf

Konstruktiver als die Diskussion um die geplante Aufgabe weitgehend verlassener Orte scheint ein anderer Weg: Ihre Wiederbelebung. Im Lausitz-Dorf Liebon, das im Jahr 2009 komplett bei ebay zum Verkauf stand und so kurzzeitig medialen Ruhm erlangte, sind inzwischen wieder Menschen eingezogen. Rund 20 Menschen wohnen dort und setzen Stück für Stück ihr Ideal eines ökologisch nachhaltigen Lebens um. Das Fazit: Auch einst aufgegebene Dörfer im tiefen Osten können eine Renaissance erleben.

Dieses Thema im Programm:MDR FERNSEHEN | Hinter den Städten | 11. November 2021 | 20:15 Uhr