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Nach dem Kohleausstieg müssen sich viele Unternehmen umorientieren Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

StrukturwandelKohleausstieg: Kommen die EU-Hilfen für Lausitzer Firmen zu spät?

15. Juni 2023, 09:54 Uhr

Unternehmen in der Lausitz müssen sich grundlegend umorientieren, denn viele waren bisher von der Kohleindustrie abhängig. Jetzt sollen sie Geld von einem milliardenschweren Fonds der EU erhalten. Aber es ist fraglich, ob diese Hilfen sie überhaupt erreichen. Außerdem verzögert sich der Beginn der Förderung seit Monaten.

von Sophia Seifert und Laura Lansche

Zwischen dem Tagebau Reichwalde, dem Tagebau Nochten und dem Kraftwerk Boxberg liegt der Standort des Unternehmens SKM in Boxberg. Der Sondermaschinen- und Anlagenbauer war jahrelang weitgehend von der Braunkohleindustrie abhängig. Er hat Maschinen im Bergbau und Kraftwerksbetrieb gebaut und gewartet, zum Beispiel für Schaufelradbagger im Tagebau.

Seit der Corona-Pandemie sind die Aufträge aus der Kohleindustrie ausgeblieben. Aber das war nur ein Auslöser für die dringend nötige Umorientierung des Unternehmens.

"Wir haben 80, 90 Prozent mit der Braunkohle verdient. Und das restliche Geschäft waren allgemeine Anlagenbau-Themen. Heute schaut es genau andersherum aus", meint der Geschäftsführer von SKM, Steffen Söll. Wegen der Umstellung arbeite das Unternehmen mit seinen rund 30 Mitarbeitern bisher noch nicht wieder wirtschaftlich.

Spätestens 2038 soll auch der Osten aus der Braunkohleförderung aussteigen. Der Just Transition Fund (JTF) der EU – zu Deutsch "Fonds für einen gerechten Übergang" – soll vor allem kleine und mittlere Unternehmen beim Strukturwandel fördern. So sollen in den Kohleregionen weniger Arbeitsplätze verloren gehen. Nach Sachsen sollen 645 Millionen Euro, nach Brandenburg 785 Millionen Euro der JTF-Gelder gehen, davon fließt ein großer Teil in die Lausitz. Im Unterschied zu den Kohlemilliarden aus dem Bundeshaushalt können Unternehmen durch die EU-Gelder direkt gefördert werden.

Für viele mittelständische Unternehmen ändern sich die Geschäftsfelder, wenn der Osten aus der Braunkohleförderung aussteigt Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Auch für das Unternehmen "build a rock” aus der brandenburgischen Lausitz in Cottbus wird ein Geschäftszweig mit dem Ausstieg aus der Kohle wegfallen: Jens Brand und seine Mitarbeiter führen als Industriekletterer regelmäßig Wartungs- und Reinigungsarbeiten in Kohlekraftwerken durch. Da es keine langen Stillstände in der Energieerzeugung geben darf, können hierfür in den großen Kesseln nicht erst Gerüste aufgebaut werden. Stattdessen nutzen Brand und sein Kletter-Team dafür Auf- und Abseiltechniken. Da dieser Geschäftsbereich in naher Zukunft wegbrechen wird, will Brand mit den Geldern aus dem JTF neue Einnahmequellen erschließen. Auch SKM aus Sachsen plant, sich für die Förderung eines Innovationsprojekts beim JTF zu bewerben – sofern die konkreten Förderbedingungen dies zulassen.

Mehrere Monate Verzug bis zum Beginn der Förderung

Die Unternehmensförderung mit Mitteln aus dem JTF sollte in Brandenburg und Sachsen eigentlich schon im ersten Quartal 2023 beginnen. "Aber es wird von Quartal zu Quartal vertröstet", meint Horst Böschow, Mitglied des Präsidiums im Unternehmerverband Berlin-Brandenburg (UVBB). In Brandenburg und Sachsen ist er an Diskussionsrunden zur Umsetzung des JTF mit den zuständigen Ministerien beteiligt. Diese begannen im Sommer 2021 und dauern teilweise immer noch an.

Dass es etwa zwei Jahre gedauert hat, bis Unternehmen die ersten EU-Gelder beantragen können, begründet das Sächsische Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr (SMWA) auf Anfrage mit einem "umfangreichen Abstimmungs- und Beteiligungsprozess". Vertreterinnen und Vertreter aus der Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Forschungseinrichtungen sollen laut EU-Vorgaben in die Diskussionen zur Umsetzung des Fonds einbezogen werden. Das SMWA schreibt: "Eine breite Beteiligung all jener soll stattfinden, die von den Auswirkungen des Strukturwandels in Sachsen besonders betroffen sind." Dies sei keine leichte Aufgabe für die Ministerien, sagt Horst Böschow vom Unternehmerverband nach seinen Erfahrungen aus den Diskussionsrunden: "Jeder soll ja das Gefühl haben, ich wurde berücksichtigt."

Das Sächsische Wirtschaftsministerium möchte eine möglichst breite Beteiligung aller betroffenen Firmen Bildrechte: imago/Dehli-News

Insgesamt wird der JTF in Sachsen in 11 Förderbereichen umgesetzt. Laut SMWA sollen noch im Juni die für Unternehmen wichtigsten Fördergrundlagen beschlossen werden. Die noch ausstehenden Vorhaben, die etwa Forschungseinrichtungen und die Fachkräfteausbildung an Berufsschulen betreffen, sollen – nach Angaben des Ministeriums – erst nach der Sommerpause in Kraft treten. Danach können Anträge zur Förderung gestellt werden. In Brandenburg wurde im Unterschied zu Sachsen hingegen nur eine Förderrichtlinie erarbeitet, um die JTF-Fördergelder beantragen zu können. Hier sollen Unternehmen ab dem 15. August Anträge stellen können.

Steffen Söll bemängelt die verspätete Unterstützung der vom Kohleausstieg betroffenen Unternehmen: "Wenn ich in einem Riesenprojekt ein Viertel meiner Zeit vertan habe und nicht mehr vorliegen habe als Ideen und Konzepte und finanzielle Planung, dann kann ich ziemlich sicher behaupten, dass das Projekt nicht so umgesetzt wird, wie ursprünglich gedacht". Er erinnert sich, dass 2018 in Deutschland erstmals vom Kohleausstieg im Jahr 2038 gesprochen wurde. Seitdem sind fünf Jahre, also 25 Prozent der "Projektlaufzeit Kohleausstieg", wie Söll es beschreibt, vergangen. "Die Sichtbarkeit und Geschwindigkeit der Maßnahmen ist für die Betroffenen zumindest von der Wahrnehmung her nicht vorhanden", meint der Unternehmer.

Kleineren Unternehmen fehlen Kapazitäten für Beantragung

Horst Böschow sieht zudem die Gefahr, dass die EU-Gelder viele kleine und mittlere Unternehmen gar nicht erreichen werden, obwohl der Fonds gerade für sie aufgelegt wurde. "Es ist ja nicht damit getan, dass Fragebögen ausgefüllt werden, sondern es müssen Konzepte erstellt werden", meint er. Und vielen kleineren Unternehmen fehlen laut Böschow schlicht die Kapazitäten, zusätzlich zum Tagesgeschäft einen Förderprozess zu durchlaufen.

Steffen Söll findet, dass wertschöpfende Unternehmen eine zentrale Rolle im Strukturwandel einnehmen. "Der Strukturwandel muss am Ende auch im Schwimmbad, im Kindergarten, in Freizeiteinrichtungen und vielen anderen Maßnahmen ankommen. Aber das hilft uns alles nichts, wenn die wertschöpfenden Strukturen, die für die langfristige, nachhaltige Finanzierung dieser Dinge da sein müssen, zusammenbrechen." Seiner Meinung nach ist der hauptsächlich betroffene Mittelstand in der Fördermittelverteilung bisher "extrem unterrepräsentiert".

Innovationsideen von Unternehmen: Wallbot und Kletterzentrum

Ideen für Förderprojekte gibt es aber durchaus – sowohl in der brandenburgischen als auch in der sächsischen Lausitz. Jens Brand von "build a rock” möchte die EU-Gelder aus dem JTF nutzen, um die Region um Cottbus attraktiver zu gestalten. Neben den Wartungsarbeiten, die er in Kohlekraftwerken durchführt, entwirft und baut er gemeinsam mit seinem Team Kletterfelsen für Schulhöfe, Spielplätze und Parks in ganz Deutschland. Da Cottbus einen Olympiastützpunkt hat, gibt es laut Brand schon erste Überlegungen, Sportklettern dort zu integrieren und eine Trainings- und Wettkampfstätte einzurichten. Passend dazu plant er, auf seinem Firmengelände ein Kletterzentrum aufzubauen.

Die Firma "build a rock” entwirft und baut Kletterfelsen für Schulhöfe und Spielplätze Bildrechte: build a rock/MDR

Derweil orientiert sich das Unternehmen SKM im sächsischen Boxberg nahezu vollständig neu. Es will in der Baustoffindustrie Fuß fassen, was aber nicht ganz einfach sei. "Wir haben ein riesengroßes Problem mit Arbeitskräften im Bereich Bau", sagt Söll. Seit 2016 entwickelt SKM zusammen mit der TU Dresden den Mauerroboter Wallbot, der eigenständig Häuser bauen soll. Ein Demonstrator könne schon zeigen, wie der Roboter funktioniert. Aber der Weg sei noch weit. "Die Entwicklung einer solchen Anlage ist sehr komplex und braucht viel Geld und Zeit. Wir würden uns erhoffen, dass wir zum Beispiel in diesem Projekt ein ganzes Stück vorwärts kämen im Rahmen von möglichen zusätzlichen Strukturwandelmitteln", sagt Söll. Der Geschäftsführer hofft, dass er zeitnah mit einer Förderung vom JTF rechnen kann.

Dieser Beitrag entstand im Rahmen von "Crossborder Journalism Campus", einem Erasmus+-Projekt der Universität Leipzig, der Universität Göteborg und des Centre de Formation des Journalistes in Paris. Unter Mitarbeit von: Alva Rosengren, Angèle Duplouy, Manon Krakowiak, Matteo Scannavini, Mireia Jimenez Barcelo und Nancy Dordokidou.