Das Altpapier am 6. November 2018 Multischwurbels und Makerspaces

Die Bundeskanzlerin hat jetzt auch eine Goldene Verleger-Victoria. Tage der Medienkompetenz sind die neuen Christopher Street Days. Im Silicon Valley, wo immer der heißeste Scheiß programmiert wird, gibt es außer immer mehr Milliardären auch immer mehr Obdachlose (und die neue App namens Snapcrap hilft nur bedingt). Herzlichen Glückwunsch, Hinz & Kunzt. Ein Altpapier von Christian Bartels.

Am gestrigen Tag der Medienkompetenz hat Bundeskanzlerin Merkel "für ihre bisherige politische Gesamtleistung" die Goldene Victoria überreicht bekommen und damit Eingang in die "Hall of Fame" des Zeitschriftenverlegerverbands gefunden. Auf der entsprechenden Webseite (auf der die monochrome Einfärbung übrigens nicht bedeutet, dass alle Insass ..., pardon: Preisträger bereits verstorben sind), ist sie am Dienstamorgen zwar noch nicht zu sehen, aber etwa auf diesem Foto aus der sage und schreibe bereits 396 am gestrigen Abend aufgenommene Bilder umfassenden "Publishers' Night 2018"-Galerie des VDZ. So geht Internet!

Medienkompetenz-Tag (gestern & in zwei Wochen wieder)

Ein Kausalzusammenhang zwischen Medienkompetenz-Tag und Victoria-Verleihung besteht vermutlich nicht, bloß eine zeitliche Korrelation. Irgendwas mit Medien ist ja immer und in der Summe halt sehr viel mehr, als dass alles auf einen eigenen Tag pro Jahr passen würden. Der Tag der Medienkompetenz fand am Montag in Nordrhein-Westfalen statt. In der epd-Meldung dazu heißt es:

"... Die Erfinderin des Negativpreises 'Goldener Aluhut', Giulia Silberberger, sagte im Düsseldorfer Landtag, es sei schwer zu beeinflussen, wenn die Leute etwas glauben wollten, obwohl die Faktenlage dagegen spreche. Dies zeige auch das Phänomen des 'Multischwurbels', bei dem alle möglichen Verschwörungstheorien für irrwitzige Argumentationen miteinander verkettet würden."

Und der medienpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, die in NRW ja mitregiert, schwurbel... pardon schon wieder: erklärte, erklärte! dazu:

"Wir wollen die praktische Sichtbarkeit des Themas ab 2019 weiter erhöhen ... Durch die zur Verfügung gestellten Gelder sollen etwa mobile 'Makerspaces' oder 'Fabmobile' angeboten werden, die die in NRW bereits existierende 'Makerbewegung' weiter fördern ..."

Die medienpolitische Sprecherin der CDU-Fraktion erklärt unter demselben Link übrigens auch etwas. Schließlich zählt Sichtbarkeitserhöhung der Regierungsarbeit, die es in den Bundesländern angesichts der Extremfokussierung auf zwei, drei Gestalten der Bundespolitik und Donald Trump ja auch nicht leicht hat, zu den weiteren zentralen Anliegen solcher Veranstaltungen. Falls Sie auf den Geschmack gekommen sind: Erfreulicherweise scheint sich der Tag der Medienkompetenz zu so etwas wie dem Christopher Street Day, der irgendwo ja immer stattfindet, zu entwickeln. Am 22. November ist Tag der Medienkompetenz in Sachsen-Anhalt (und dass der Hallenser Internetauftritt medienkompetenztag.de visuell mindestens so viel her macht wie der Düsseldorfer tagdermedienkompetenz.de, obwohl da das engstens in die nordrhein-westfälische Medienlandschaft verstrick ... pardon: vernetzte Grimme-Institut eingebunden ist, lässt sich schon mal sagen).

Ruckrede auf dem Verlegerkongress (und viel Kaffee)

Zurück zum VDZ-Kongress, der als "Medienevent mit den wichtigsten Repräsentanten aus Politik, Medien, Gesellschaft und Wirtschaft" gewiss überregional relevanter ist: Bei der Goldenen Victoria handelt es sich, anders als beim erwähnten gleichfarbigen Aluhut (und der gestern hier erwähnten Kartoffel), um keinen Negativpreis. Bloß bisschen negativ rüber kam er kürzlich (Altpapierkorb) schon, weil ihn Ihre Majestät Königin Rania Al Abdullah von Jordanien überreichte, in deren Reich medienfreiheitlich nicht alles golden glänzt. Wie groß und schwer die Victoria ist und was sie bedeutet, steht hier ("Dress Code: Cocktail").

Jedenfalls fand die Sache im Rahmen des Kongresses des Zeitschriftenverlegerverbands VDZ statt, auf dem die Verleger natürlich auch aktuelle Anliegen diskutieren und anwesenden Politikern vorbringen. Da ging es offenbar hoch her. "Ein Teil der Gesellschaft scheint den Verstand verloren zu haben", zitiert Ulrike Simon bei horizont.net aus der einleitenden Ruckrede des VDZ-Präsidenten Rudolf Thiemann. Vom "Verlust der Bedeutung unserer eigenen redaktionellen Plattformen" habe er aber auch gesprochen (und der springt beim Betrachten des Zeitschriftenangebots ja leider wirklich ins Auge).

Aktuelles Top-Thema ist das sowohl an sich (Altpapier) als auch in der Ausdeutung der vorliegenden Fassungen top-umstrittene EU-weite Leistungsschutzrecht (meedia.de):

"... In Richtung der anwesenden Justizministerin Katharina Barley appellierte Thiemann: 'Unter keinen Umständen darf das Bundesjustizministerium ein Recht akzeptieren, das hinter deutsches Recht zurückfällt.' Die Justizministerin bekam direkt die Gelegenheit, auf Thiemanns Rede und seine Forderung zu reagieren. ... Nachdem die Ministerin mehrfach darauf hingewiesen hatte, wie Politik und Medien nebeneinander her und miteinander existieren, unterstützte Barley die Forderung nach einem Eigentumsrecht für Inhalte. Sie erklärte aber auch: 'Es sind innerhalb der Regierung auch noch andere Ressorts damit befasst. Ich verrate kein Geheimnis, dass die Meinungsbildung innerhalb der Regierung lebendig ist. Das hängt nicht von parteipolitischen Präferenzen ab.' ... Aus Sicht der Justizministerin müsse noch darüber nachgedacht werden, wie das Leistungsschutzrecht, das sich aus Verlegersicht in erster Linie gegen Suchmaschinenbetreiber wie Google wendet, so ausgerichtet werde, dass nicht nur große Verlage davon profitierten. Die Politikerin zeigte sich auch besorgt darüber, dass am Ende nicht Qualität, sondern Quantität und Inhalte mit reißerischer Headline belohnt würden ...",

worauf dann wiederum Mathias Döpfner, der Präsident des Zeitungsverlegerverbands, reagierte. Es ging also lebhaft zu, allerdings in eher kleiner Runde, wie Ulrike Simon im zu großen Berliner Veranstaltungsort auch konstatierte. Es wurde aber offenbar auch viel anregender Kaffee getrunken, vor allem, als sich schon mal jüngeren Leute auf dem Podium ausprobieren durften, wie recht viele Tweets zum Hashtag #VDZPS18 bekundeten.

Obdachlose vor Googles Türen und überhaupt

Sehr harter Schnitt nun, einerseits. Andererseits locker überleitbar: Ins Silicon Valley schauen natürlich alle, erst recht bei Verlegerkongressen. Beziehungsweise, so richtig genau auf den Ort schauen sie natürlich nicht. Das zeigt ein sehr lesenswerter Bericht von Oliver Voß im Tagesspiegel:

"Market Street, wo Twitter und Uber ihren Sitz haben, sitzen und schlurfen unzählige Obdachlose, sie schlafen auf dampfenden Gullideckeln, um sich an der aus den Metroschächten aufsteigenden Luft zu wärmen. Wenige Meter neben dem Haupteingang des Newsportals Reddit, derzeit auf Platz fünf der meistbesuchten US-Webseiten, haben Wohnungslose ein schäbiges Zelt auf dem Bürgersteig aufgeschlagen. ... In San Francisco und dem Silicon Valley leben 74 Milliardäre. Mit Apple und Google haben die zwei wertvollsten Unternehmen der Welt hier ihren Sitz. Trotzdem gehören die Obdachlosen seit Jahren zum Stadtbild und inzwischen gerät das Problem außer Kontrolle."

Zu den vielen Apps, die im Valley immerzu programmiert werden, gehört auch Snapcrap ("sieht aus wie der Fotodienst Snapchat, nur das Gespenst im Logo wurde durch einen Kothaufen getauscht"). Was sie bietet: "The fastest way to request street cleaning in SF", denn Kothaufen gehören zu den Begleitproblemen der Obdachlosigkeit. Es gibt Lösungsansätze der lokalen Politik, etwa die Idee einer "Zusatzsteuer von einem halben Prozent auf die Einnahmen von Unternehmen ..., die über 50 Millionen Dollar liegen". Wobei es da auch einflussreiche Gegenstimmen gebe: "Der prominenteste Gegner ist Twitter-Chef Jack Dorsey".

Vermutlich wäre das kein Thema hier, wenn der Bericht nicht aus dem sprichwörtlichen Sehnsuchtsort der Digital-Aficionados kommen würde. Andererseits, Obdachlosigkeit ist ohnehin viel zu selten Medienthema, wie gerade auch, mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, infosperber.ch notierte:

"'The Bureau of Investigative Journalism' (TBIJ), eine unabhängige britische Informationsplattform, hat sich die Mühe genommen, möglichst alle Todesfälle von Obdachlosen während eines Jahres zu erfassen. Die Initialzündung für die aufwendige Recherche: Die Journalisten fanden nirgends eine Zahl der verstorbenen Obdachlosen. Der Staat, der sonst vieles statistisch erfasst, hat diese Todesfälle nie offiziell registriert."

Wobei die "vernachlässigte Datenlage zu Obdachlosigkeit ... nicht allein ein britisches Phänomen" ist. Infosperber.ch zitiert dann einen Sozialwissenschafts-Professor:

"Als grösstes Problem für Obdachlose sieht [Matthias] Drilling ihre systematische Nichtbeachtung. 'Sie haben keine Bedeutung mehr für die Gesellschaft. Es gibt keinen Lebensbereich – sei das in der Begegnung mit anderen Menschen, beim Wohnen oder der Arbeit – in dem sie noch eine Rolle spielen.' Drilling hat auch beobachtet, wie Obdachlose an Bahnhöfen wie streunende Hunde verjagt wurden. Dabei würden sie manchmal nicht einmal mehr mit ganzen Sätzen angesprochen."

Ein Themenfeld für Journalismus, der den Verlust der Bedeutung seiner redaktionellen Plattformen erkennt, wäre das durchaus auch – und die Obdachlosenmedien (Hinz & Kunzt aus Hamburg wird derzeit ein Vierteljahrhundert alt, dazu interviewte Deutschlandfunks "@mediasres" die Chefredakteurin Birgit Müller) wären sicher nicht böse, ihr Themenspektrum nicht mehr allein zu haben.


Altpapierkorb (Netzfreiheit, Dirk Pilz, Vodafone, Hausfrieden im "Tagebaukessel", "Fact-Checking ist eine journalistische Darstellungsform", "Mission Wahrheit")

+++ Es gibt positive Nachrichten zur "Netzfreiheit". So zählen Armenien, Gambia und Äthiopien zu insgesamt 19 Ländern, in denen sich die Lage laut freedomhouse.org verbessert habe, berichtet netzpolitik.org (mit mehr Links). Bloß sind es mehr, größere und reichere Staaten, in denen auch knapp hundert Prozent der wichtigen Plattformen und Gerätehersteller sitzen, in denen sie sich verschlechterte, etwa die USA und China.

+++ Der Kulturjournalist und nachtkritik.de-Mitgründer Dirk Pilz ist mit 46 Jahren verstorben, meldet die FAZ-Medienseite. Siehe ausführlich nachtkritik.de.

+++ Lesenswert sind die bestens informierten Berichte der Medienkorrespondenz aus Bonn zum WDR aus Köln, bekam anlässlich Hektor Haarkötters Artikel nun auch meedia.de ("Medienprofessor rechnet mit dem System Scheinselbstständigkeit im öffentlichen Rundfunk ab") mit. Sabine Rollbergs Beitrag aus derselben Ausgabe war ja hier schon Thema.

+++ Ob das sehr große und gerade für Deutschland wichtige Vodafone-/ Liberty(-Unitymedia)-Geschäft um deutsche Kabelnetze kartellrechtlich von der EU-Kommission geprüft werden wird oder vom Bundeskartellamt, das internationalen Medienkonzernen gegenüber ja eher ein Schoßhündchen ist, "dürfte spätestens im Dezember feststehen", meldet die MK aktuell.

+++ Fact-Checking ist "eine journalistische Darstellungsform, vergleichbar der Nachricht oder dem Kommentar. Der Unterschied: der Fact-Check beansprucht schon in seinem Namen einen besonderen Wahrheitsgehalt", schreibt mit Blick auf die USA Christian Hoffmann in der NZZ.

+++ Weiteres FAZ-Thema: Antisemitismus (anhand der Böhmermann-Lage sowie des laut Michael Hanfeld gestern abend spät "versenkten" "Antisemitismus-Reports" der ARD.

+++ Der Konjunktiv "löge" ist im Standard zu lesen, in bedrohlichem Kontext: "Zeitungen wie diese, die so handelten, so schamlos lögen, könnten keine Unterstützung der Regierung erwarten, erklärte der Rechtsextremist", nämlich Brasiliens künftiger Präsident Bolsonaro.

+++ Medienanwalt Jony Eisenberg ist beim Deutschlandfunk im (klangvollen) O-Ton zu hören, und zwar zur Frage, ob in einem "Tagebaukessel" überhaupt im Wortsinne ein Hausfrieden herrschen könne.

+++ Hat die taz vergangene Woche (Altpapier) etwas Falsches über eine angeblich geplante Abschiebung des oppositionellen türkischen Journalistn Adil Yigit berichtet? Der Hausblog nimmt Stellung.

+++ Viele Journalisten, die ja "keine Gatekeeper mehr" sind, "fremdeln noch mit ihrer neuen Rolle als Lotsen oder Kundschafter im Informationsdschungel", meint Diemut Roether im epd medien-Tagebuch.

+++ Halle an der Saale kam heute schon vor (Tag der Medienkompetenz am 22.11.) und ermöglichte Nathalie Wappler "eine Horizonterweiterung", die die derzeitige MDR-Programmdirektorin zur künftigen Direktorin des SRF (Schweizer Radio und Fernsehen) machte. Meint Rainer Stadler in der NZZ.

+++ Schönes Journalismus-Pathos bietet Arte heute mit "Mission Wahrheit", einer "Dokumentar-Serie" über die New York Times. "Die Anstrengung und auch die Faszination aktueller journalistischer Arbeit werden hier jedenfalls enorm spannend verdichtet", schreibt Thomas Gehringer im Tagesspiegel. +++ "Ein gelungenes Beispiel für einen Trend in Film und Fernsehen: die intensive Beschäftigung mit journalistischer Arbeit", findet Holger Gertz (SZ). +++ "Diese Serie ist ein Hammer" würde Oliver Jungen auf der FAZ-Medienseite sogar sagen.

Neues Altpapier gibt's wieder am Mittwoch.